Vorwort
Geschichten vom Dachboden – Mit Spannung nehme ich das Paket entgegen, welches mir der Postbote heute Vormittag, den 14.März 2013, überbringt. Es ist der Feldpostnachlass eines Soldaten des 1.Weltkriegs, welchen ich bei einer Ebay-Auktion erworben habe. Anfang der 80er Jahre wächst mit dreizehn Jahren mein Interesse, mehr über die Geschehnisse rund um den 1.Weltkrieg zu erfahren. Die Erlanger Stadtbücherei liefert mir viel Lesestoff. Bücher über den chronologischen Verlauf des Krieges, die Erzählungen des roten Barons und die Entwicklung von Panzerfahrzeugen gehören genauso dazu, wie die Geschichte der deutschen Kolonien. Über zwei vorhandene Bände zum Kriegsverlauf aus dem Jahr 1923 lerne ich das Lesen der altdeutschen Druckschrift. Durch das Hobby Briefmarkensammeln, halte ich 1982 das erste Mal eine Feldpostkarte eines deutschen Soldaten in der Hand. Auf einem Flohmarkt bietet ein Trödler neben Briefmarken eine Kiste mit diverser Feldpost an. Auf einer Ansichtskarte von 1915 ist ein völlig zerstörtes französischen Dorf zu sehen, auf der Rückseite ein schwarzer Stempel mit der Aufschrift „Deutsche Feldpostexpedition“. Ins Auge fällt ein größerer, runder Stempel in violetter Farbe, auf dem „bayrisches Reserve-Fussartillerie-Bataillion Nr. 6“ zu lesen ist. Gerne würde ich lesen wollen, was der Absender der Karte schreibt, die altdeutsche Schreibschrift ist für mich aber kaum zu entziffern. Ich kaufe mir zwei Feldpostkarten, das Stück für 30 Pfennige, und zeige sie zu Hause meiner Mutter. Sie ist Jahrgang 1930 und hat die altdeutsche Schreibschrift noch in der Schule gelernt. Sie liest mir den Text der ersten Karte vor, in welchem ein Soldat seinen Eltern schreibt, dass hier in Frankreich an der Front alle französischen Dörfer derart zerstört sind wie auf seiner Ansichtskarte. In den nächsten Tagen lasse ich mir von meiner Mutter das Lesen der altdeutschen Schreibschrift beibringen. Sie schreibt mir hierzu das ABC in Groß- und Kleinbuchstaben auf, gibt mir einige selbstgeschriebene Texte und nach kurzer Zeit kann ich nun selbstständig das Geschriebene lesen. In der zweiten Karte berichtet derselbe Soldat, dass er nun im Quartier liegt. Gerne würde ich doch mehr über den Absender erfahren. Wie kam er nach Frankreich und was ist aus ihm geworden? Aber Anfang der 80er Jahre habe ich außer öffentlichen Bibliotheken kaum die Möglichkeit weitere Informationen zu erhalten. Wenn ich zu diesem Zeitpunkt schon hätte ahnen können, welche Recherchemöglichkeiten über das Internet eröffnet werden!
Zurück zu meiner Postsendung 30 Jahre später: Mein Interesse an den Geschehnissen des 1.Weltkriegs ist nach wie vor erhalten geblieben. Nach dem Öffnen des Postpaketes sehe ich auf den ersten Blick viele Feldpostbriefe und –karten, selbst eine Feldbrille und einige Orden liegen dazwischen. Der Karton und sein Inhalt riechen etwas muffig. Nach Entfernung des Staubs sehe ich, dass auch schon die Mäuse an einigen Belegen geknappert haben. Was erwartet mich diesmal vom Dachboden- oder Kellerfund, der 100 Jahre alt ist? Vielleicht die Geschichte eines Mannes und seiner Geschwister, Eltern und Großeltern, vielleicht auch Belege seiner Kameraden, Freunde oder Nachbarn. Meist ist nur die Feldpost erhalten geblieben, welche von der Front an die Lieben in die Heimat geschickt wurde. Die Antwortbriefe sind kaum noch vorhanden, da sie vom Frontsoldaten in der Regel als unnötiger Ballast weggeworfen und selten in die Heimat retour geschickt wurden. Wird das Konvolut fortlaufend den Werdegang des Mannes während des 1.Weltkrieges preisgeben oder sind im Laufe der Jahre bereits Teile entnommen worden oder verloren gegangen? Sind die Briefe und Karten überhaupt leserlich oder haben Feuchtigkeit bei der letzten Lagerung weite Teile zerstört? Und wenn sie lesbar sind, hat der Verfasser darin das Zeitgeschehen interessant erzählt, eventuell für mich ein Bestseller, ein Unikat, ein historisches Lesebuch, welches über Wochen und Monate fesselt? Oder enthalten seine Briefe und Karten nur die oft gelesenen Standardsätze „Wie geht es euch, mir geht es gut“ oder „Habe euer letztes Paket und den Brief erhalten, besten Dank!“? Wer ist der Soldat Alfred Schlenker, dessen Briefe ich gerade in Händen halte? - Es kann diesmal die Geschichte des 16-jährigen Schülers erzählt sein, der es mit Zustimmung des Vaters als Kriegsfreiwilliger 1914 gar nicht erwarten kann, in das „Abenteuer“ Krieg zu ziehen. Es kann aber auch ein 40-jähriger Landsturmmann der Absender der Briefe sein, welcher fest im Beruf stehend mit Unbehagen Frau und Kinder zu Hause zurücklassen muss. Die meisten Rekruten erhalten ihren Einberufungsbescheid zur Infanterie oder Artillerie. Aber auch die Pionier- oder Kavalleriekaserne oder andere Formationen können das unbekannte Ziel des Schreibers sein. Wohin verschlägt es den Soldaten im Laufe des Krieges? Nimmt er an den riesigen Materialschlachten im Westen, an der Flandernfront oder an der Somme teil? Wird er in die Tiefen des Russischen Reiches geschickt oder in die Hitze Mazedoniens? Kämpft er in Tirol Seite an Seite mit Österreichern gegen Italiener oder zieht er gar mit den türkischen Verbündeten an die Palästinafront? Auch die militärische Laufbahn und die damit verbundenen Aufgaben sind mit Spannung zu erwarten. So kann er während des ganzen Krieges im Bekleidungsamt hinter der Front tätig gewesen sein und Gefreiter bleiben, aber auch an allen möglichen Fronten und in verschiedenen Einheiten bis zum Oberleutnant befördert und mit Orden ausgezeichnet werden, dabei mehrere Schlachten schlagen und einige mehrwöchige Kurse und Weiterbildungen absolvieren. Was geschieht mit seinen Angehörigen und Freunden, die in der Heimat den sich ständig verschlechternden Lebensbedingungen trotzen müssen oder vielleicht selbst an der Front stehen? Und vor allem – welches Schicksal erwartet ihn selbst? Ist es ihm gut gesonnen und er überlebt den Krieg unbeschadet oder trifft ihn Verwundung, Gefangenschaft oder gar der „Heldentod“ fürs Vaterland?
Viele Fragen habe ich zu Alfred Schlenker, die vielleicht in den nächsten Monaten beantwortet werden können. Nicht selten konnte ich ein solches Feldpostkonvolut vor der Zerstörung retten. Die wohl bei Wohnungsauflösungen im Nachlass gefundene Feldpost wird meist nicht als zusammengehöriges Lot verkauft. Ganze Teilbereiche und besonders schöne Belege werden wegen der höheren Erlösaussichten herausgenommen, an verschiedenste Bieter einzeln verkauft oder für die eigene Sammlung einbehalten. Somit geht der Lebensweg des Soldaten für immer unwiederbringlich verloren, wie ein Buch aus dem man ganze Kapitel oder einzelne Seiten herauslöst und damit die Erzählung ihren Zusammenhang verliert. Zumindest einigen Lebensgeschichten während einer Zeit globaler Ereignisse konnte ich dieses Schicksal ersparen und der historische Gesamtwert des Konvoluts und nicht zu vergessen, das Schicksal einer Person und seine Kriegserlebnisse bleiben für Geschichtsinteressierte oder andere Lesergruppen erhalten. Über eigene Recherchen im Internet und weiteren Quellen ist es dabei nicht selten gelungen, nach mehr als 100 Jahren Lücken in der Geschichte des Menschen und seiner Familie zu schließen und die geschilderten Erlebnisse dadurch anschaulich und verständlich zu ergänzen. Dabei habe ich mich stets gefreut, wenn ich mit etwas Hartnäckigkeit und eines gewissen „detektivischen“ Geschicks Licht ins Dunkel bringen konnte.
Marc Brasil, 25.08.2016
Alfred Schlenker – Ein junges Leben in Breslau
Die preußische Residenzstadt Breslau in der Provinz Schlesien liegt im Osten des Deutschen Kaiserreiches und hat sich um die Jahrhundertwende mit knapp 500.000 Einwohnern zu einer der fünf größten Städte des Kaiserreiches entwickelt. Das Umland der Hauptstadt ist durch den Lößboden hervorragendes Ackerland, welches durch hoch entwickelten Ackerbau auch als die schlesische Kornkammer des Reiches bezeichnet wird. Neben Getreide werden Flachs, Tabak und Zuckerrüben in großen Mengen angebaut. Die schlesische Provinz ist reich an Steinkohle, Erzen sowie Marmor- und Granitvorkommen, wodurch der Bergbau aufblüht. Starke Industriezweige der Eisen-, Flachs- und Zuckerrübenverarbeitung entstehen und haben Breslau zu einer bedeutenden Handelsstadt heranwachsen lassen. Beeindruckende Bauwerke zieren das Stadtbild wie die Kaiserbrücke oder die Königin-Luise-Gedächtniskirche. Breslau, das etwa 100 Kilometer von der russisch-polnischen Grenze entfernt liegt, ist zu einer starken militärischen Garnisonsstadt ausgebaut worden und Standort mehrerer schlesischer Regimenter.