Auch an dieser Stelle wäre die Quintessenz das aus der Erkenntnis resultierende Wissen und dessen Reflexion auf unsere gegenwärtige Welt, Entscheidungen zu fällen, die Grundbausteine für eine Welt, für ein Leben, zu legen, das aus Täter-Opfer-Beziehungen hinausführt – statt sie zementiert. Viele der Täter, die Millionen von Männern zu Tätern machten, sind tot. Millionen von Erbtätern leben noch. Es gilt, Opfern in jeder erdenklichen Form beizustehen, ihnen zu helfen und deren Leid annähernd zu begreifen. Es gilt weiter dafür zu sorgen, dass Täterschaft aufhört, egal in welcher der vielfältigen Formen ausgeübt. Dafür ist Verstand, Gefühl, Reflexion und Mitgefühl angeraten, wenn diese Diskussion ins falsche Fahrwasser gerät und einzig zur Verfolgung das Horn geblasen wird und damit eine Hoffnung versucht zu nähren, die Realität und das Gewordensein, die Geschichte, verfehlt.
Mitgefühl ist also Wissen um das eigene, wie um das fremde Leid. Mitleid ist eine (völlig ungerechtfertigte) Erhöhung des eigenen Lebens dem fremden Leben gegeben über. Mitgefühl brauchen wir als Menschen, um im Menschsein zu wachsen. In diesem Zusammenhang zitierte ich in Band 1Camus, auf den ich genau an dieser Stelle nochmals verweise: Auf, dass Krieg und Terror endlich aufhöre, ein weder Opfer noch Henker sein. (Camus, 2006)
Wie noch in anderen Zusammenhängen nachzulesen sein wird, weiß man Oben gar nicht, wie Unten gelebt wird. Man weiß gar nicht, wie ethische Handlungsgrundlagen aussehen müssten (vgl. z.B. „Frische Leichenteile weltweit“ in Band 3).
Auf politischer Ebene zeigen sich Kapitalisten, Manager oder Wirtschaftsführer harmlos und erscheinen gern wie „Bürger“ hinsichtlich des Grundgesetzes, obwohl mit der Wirtschaftsform Basis, Leib und Leben unserer Gesellschaft festgelegt ist.
Politiker haben genau zu prüfen, für was sie von Wählern gewählt und legitimiert wurden, in ihrem Auftrag zu tun! Die beiden Stühle, die ihnen der Kapitalismus in Form der Besitzenden und der Besitzlosen hinstellt, sind zu prüfen. Die Wahl, entweder für Unten oder für Oben politisch tätig zu werden, verfehlt den politischen Auftrag und zeigt die Zwiespältigkeit zur Umsetzung dessen, was mit Demokratie und Grundgesetz ursprünglich gemeint war. Wird dieser Auftrag einseitig gehandhabt, bleibt es politisch bei der Reise nach Jerusalem – es ist immer ein Stuhl zu wenig da. Aber genau dieser Stuhl muss her und mit Werten für Menschen ausgestattet werden: Niemand darf zurückbleiben, ausgegrenzt und geopfert werden. Unten bekommt Deutschland bislang noch keinen tragfähigen Stuhl, noch Bretter oder Boden, um ihn aufzustellen. Für Unten bleibt nichts übrig und es muss dennoch Entscheidungen von Wirtschaft, Gesundheitswirtschaft und Politik emotional und finanziell tragen. Unten darf auf Almosen in der Warteschlange hoffen. Besitzende und Politiker nehmen Platz: Welch’ zynische Farce, sich in einer Welt, in der alles zu Bruch geht, hinzustellen und mit wirtschaftlichen Erfolgen, unter denen zig Millionen Menschen leiden, zu prahlen. Bilder mit geschädigten Menschen in Katastrophengebieten oder Arbeitsämtern, heruntergewirtschafteten Stadtteilen, Pleitenziffern und Kapitalisten, die dies durch ihre Entscheidungen herbeigeführt haben, gehen nicht gleichzeitig und auf einander verweisend um die Welt: Diese verschiedenen Realitäten werden in der Öffentlichkeit konsequent auseinander gehalten: Armut hier, Reichtum da. Was haben beide miteinander zu tun? Sie gehören doch wie siamesische Zwillinge zusammen: Reichtum ist nicht ohne Armut in unserem System denkbar! Sie sind die eineiigen, und dennoch ungleichen Zwillinge in unserer Kultur. Reichtum existiert durch Abhängigkeit im Innenverhältnis, im Außenverhältnis haben die Reichen nichts mit den Armen zu tun. Es wird Politikern überlassen, für Ausgleich zu sorgen, den Besitzlose mittels Steuern selbst finanzieren müssen – ebenso wie die folgenreichen Pleiten, Folgen und Zerstörungen aus dem Bereich der Ökonomie. Verarmungszahlen und Arbeitslosenzahlen fallen immer wieder neuen und verharmlosenden Interpretationen anheim und die Börsenkurse und Gewinne der Firmen werden als nationales Ereignis gefeiert. Warum gibt es keine Fotos mit Menschen aus den armseligen chinesischen Vierteln, in denen die Ärmsten der Armen wohnen, und den Arbeit gebenden Managern der großen, ausländischen Firmen, die ihre Standorte verlagerten, um mittels billiger Arbeitskräfte ihre Gewinne zu erhöhen? Oder Fotos aus deutschen Städten, in die hinein die Industrie ihre Standorte verlagerte und den Menschen, die dort wohnen? Antwort: Dann bricht der Glanz dieses globalen Kapitalismus zusammen – dann sieht man, wie Oben und Unten in der deutschen Realität zusammengehören.
Wie sieht Werbung in Zeiten der Globalisierung aus? Ob Pharmaindustrie, Autobranche oder Energiewirtschaft: Alle benutzen schöne Naturaufnahmen, stellen sich in einem humanistisch-fortschrittlichen Lichte dar und wirken so authentisch, dass man gewillt ist, ihnen zu glauben: Die Menschen-, Tier- und Natur-, ja Lebensretter. Dagegen stehen die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen weltweit, die von etwas völlig anderem erzählen: Nämlich, wie es möglich ist, mittels Armut zu Reichtum zu kommen.
Dennoch, wird die Gesellschaft als Gemeinschaft verstanden, kann Rettung nur gelingen, wenn jene, die über die notwendigen Mittel verfügen mit denen, die in der Lage sind, sie zu erbringen, zusammenarbeiten. Das heißt: Unten und Oben haben Klartext miteinander zu reden. Die Werteordnung muss für beide gleich sein.
Der Mensch muss das Herz des Menschen wieder bewegen. Doch wie können sich Menschen gemeinsam so entwickeln, dass sie füreinander sorgen, sprich Mitgefühl und Mitleid im Schopenhauerschen Sinne empfinden? Mitleid empfinden Menschen, wenn jemandem zum Beispiel großes Unrecht widerfährt oder Katastrophen über andere hereinbrechen. Dann gibt es spontane Hilfsäußerungen überraschend vieler Menschen; auch von Seiten der Konzerne und Politiker. Aber sollte es nicht möglich sein, generell eine menschenfreundliche und hilfreiche Haltung einzunehmen? Das wäre schließlich der beste Katastrophenschutz, sei es in Natur oder sozialen Systemen. Um eine solche durch Mitleid getragene Haltung kulturell und weltweit zu etablieren, gibt es genügend Gelegenheiten:
„Das Gegenteil der Gewissenspein, deren Ursprung und Bedeutung oben erläutert worden ist, ist das gute Gewissen, die Befriedigung, welche wir nach jeder uneigennützigen That verspüren. Sie entspringt daraus, dass solche That, wie sie hervorgeht aus dem unmittelbaren Wiedererkennen unseres eigenen Wesens an sich auch in der fremden Erscheinung, uns auch wiederum die Beglaubigung dieser Erkenntniß giebt, der Erkenntniß, daß unser wahres Selbst nicht bloß in der eigenen Person, dieser einzelnen Erscheinung, da ist, sondern