2005 hieß es, wir befänden uns in der schwersten Krise seit der Nachkriegszeit. Frage: Wo befinden wir uns jetzt? Nur zur Erinnerung: Damals, 1945, gab es zwei Millionen Arbeitslose – heute haben wir „gezählte“ 4,8 und gefühlte, geht man durch die Städte, deren Läden bereits teilweise geschlossen sind oder Billigläden weichen, sind es weit mehr. Da muss man sich doch fragen, welcher, Krieg’ wütet denn nun im Lande? Es geht um die Existenz in Deutschland: Es ist ein Krieg um Existenz und Leben. Das deutsche „Oben“ teilt wieder die Welt mit ein. Unten wird dirigiert in Sachen Existenz und Leben – stets unter der ökonomischen Prämisse: Vermehrung des Reichtums der Reichen auf Kosten des Mittelstandes und der Unterschicht bei erbärmlichster Versorgung derjenigen, die in der Wirtschaft nicht mehr gebraucht werden. 2008 und 2009 wird nun der in den letzten Jahren klein gehechselte Mittelstand wieder zu neuem Leben erweckt, weil man erkannt hat, dass ausschließliche Globalisierung nicht der Weisheit letzter Schluss ist.
Aus Sicht der Menschen in Deutschland ist es ein Verrat, nur eine Gruppe von Menschen, nämlich diejenigen, die reich sind, zu bevorzugen. Tabubruch und Missbrauch sind die Folgen. Man hat sich umfassend klar zu machen, dass diejenigen, die nach dem Krieg in Deutschland wieder in Führungspositionen saßen, auch diejenigen waren, die unter Hitler in Führungspositionen saßen. Die Tatsache, dass der Krieg vorbei ist, man bereut und alles neu macht in Deutschland und der Hitlerideologie entsagt und dann anfängt, demokratisch zu denken, konnte nicht mehr als eine Absichtserklärung zugrunde liegen. Sprich, dadurch war nichts neu und aufgearbeitet: Es waren immer noch die gleichen Menschen, die sagten, wo es lang ging, wie man heute weiß. Und da man die politische Verpflichtung zur Demokratie eingegangen ist, hatten auch diesbezüglich alle zu schweigen – die Aufarbeitungen wurden und werden bis in die Tage der Gegenwart hinein verschoben:
So forscht nun das BKA nach seinen „braunen Wurzeln“. (Wolfgang Harms. In: WR, 10.8.2007). 1951 gegründet, verkündete das Bundesinnenministerium auf die sich auf diesen Punkt konzentrierende parlamentarische Anfrage: „Das BKA hat keine nationalsozialistische Vergangenheit.“ Dabei lag bereits ein Buch „Die braunen Wurzeln des BKA“ (Schenk, 2001) vor. Der Autor und frühere BKA-Mann Dieter Schenk kommt darin zu dem Schluss, „dass die Behörde „von Nazi-Tätern aufgebaut wurde.“ Diese machten reihenweise Karriere: „1959 bestand der Leitende Dienst aus 47 Beamten – bis auf zwei hatten alle eine braune Weste.“
BKA-Präsident Jörg Ziercke will nun selbst forschen – und kommt zu ähnlichen Zahlen. Auch Paul Dickopf, „der das BKA mitkonzipiert hatte und von 1965 bis 1971 dessen Präsident war“ zählt zu den früheren SS-Führern. Harms: „ Aus Schenks Sicht war er nicht unbedingt ein eingefleischter Nazi, sondern ein deutschnationaler Karrierist, der bevorzugt alte Kameraden aus seiner Lehrzeit an der, Führerschule der Sicherheitspolizei’ um sich scharte.“ (ebd.)
Nun das Entscheidende: Für Schenk war Dickopf’s Einfluss noch drei Jahrzehnte nach dessen Ausscheiden zu spüren, „in der Halbherzigkeit, mit der Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit bekämpft werden“. (WR, ebd.)
Die historischen Befunde und personelle Kontinuitäten sind nicht umstritten. Aber, ob alte Methoden, alte Vorstellungen aus der Hitlerzeit hinsichtlich Kriminalität weiterhin wirkten „und ihr altes Berufsverständnis“ weiter pflegten, ist von Interesse. (WR. 10.8.2007)
Natürlich waren durch das Kriegsende keine neuen Menschen in Deutschland – es waren die gleichen wie unter Hitler. Natürlich bestand der Zwang, Deutschland wieder aufzubauen. Mit eben diesen Menschen, die bereits unter Hitler gelebt oder besser überlebt hatten. Die breite Bevölkerung konnte zusehen, wie diejenigen, die unter Hitler Positionen hatten, nun auch in der Demokratie wieder das Sagen hatten. Fraglich ist, wie sie ihre neue Position ausfüllten. Wie es zu bewerkstelligen ist, von einem Tag auf den anderen, ein Mensch mit völlig neuer politischer Anschauung zu werden und gemäß der neuen Leitlinien zu leben und zu arbeiten – das allerdings ist psychoanalytisch und psychotherapeutisch von höchstem Interesse. Diese Perspektive fand bei der Betrachtung der sozial-politischen Aufarbeitung kaum Beachtung. Dies betrifft sowohl diejenigen, die wieder in Leitungsfunktionen arbeiteten – aber es betrifft insbesondere diejenigen, die zur breiten Masse zählten. Denn sie erlebten in der Windeseile des Aufbaues der Demokratie, wie ihre emotionalen Wunden (sowohl der generellen Kriegstraumata, wie zusätzlich, bezüglich ihrer persönlichen Verluste von Haus, Hof und Menschen) völlig in den Hintergrund zu treten hatten. Wo ist diese Lebensgeschichte geblieben? Wo, die emotionale Erfahrung dieses Lebens unter Hitler? Man war geschäftig und beschäftigt mit dem Aufbau. Obenauf mussten Menschen erleben, dass diejenigen, vor denen sie sich auch in der Hitlerzeit verbeugten oder vor denen sie Angst hatten, nun wieder über ihnen standen und sagten, wo es lang ging und zu gehen hatte. Es gab doch keine persönlichen Gespräche unter den Deutschen diesbezüglich? Oder doch? Der Polizist, der unter Hitler gearbeitet hatte, ging doch nicht reumütig durch sein Stadtviertel und entschuldigte sich bei den ihm bekannten Menschen, die er verraten hatte und vielleicht nun doch noch leb(t)en, für sein Verhalten! Nein, wenn dies der Fall gewesen sein sollte, wäre es eher als eine pathologische Reaktion, als eine fehlende Anpassung an die neuen Umstände gewertet worden. Eher war da doch ein stilles, einvernehmliches Schweigen verbindend, das darauf aufbaute, irgendwann dann vielleicht doch noch mal, dieses Band zu anderen Mitschweigern brauchen zu können – aber diesen Gedanken möchte ich hier jetzt nicht vertiefen, der sowohl in der breiten Bevölkerung, als auch in den alten und neuen Führungsetagen, eine Rolle gespielt haben mag.
Festzuhalten gilt es hier die verschiedenen Formen des Schweigens mit Vor- und Nachteilen auf der Beziehungsebene, die zu unterschiedlichen Zwecken benutzt werden konnten. Ich weiß noch, wie beide meiner Großväter immer wieder erzählten, „der hat damals schon in der Hitlerzeit …“, und immer schwang ein Gefühl von geschehenem Unrecht im Unterton mit. Es war ein Groll untergemischt, der darauf verwies, dass es so, wie es jetzt (also damals, als ich es als Kind von ihnen erzählt bekam) ist, nicht in Ordnung ist. Dieses Gefühl trifft man auch heute an, spricht man mit Menschen, die Hitlerzeit und Nachkriegsdeutschland und die Gegenwart erlebten. Diesen kurzen Statements ist emotionale Kunde der deutschen Aufarbeitung in einem nicht zu akzeptierenden Ist- und Kurz-Zustand zu entnehmen. Es ist ein unbestimmtes Gemisch aus Groll, Vereitelung anderer und unbenannt bleibender Vorstellungen, Enttäuschungen, Scham über nicht erfolgte Konfrontation. Hilflosigkeit aufgrund fehlender Macht, Einfluss auf eine Korrektur nehmen zu können, die notwendig hätte stattfinden müssen. Es folgte ein sich Abfinden mit dem, wie und was der Fall ist. Übrig bleibt Enttäuschung und Groll – Menschen gehen diesbezüglich emotional weder entschieden in die Enttäuschung, in der erzählt und gefühlt werden könnte, was genau immer noch so weh tut. Noch geht es in den Groll, der Wut und Hass auf die Umstände während der Hitlerzeit in den persönlichen Bedeutungen und Erlebnissen fühlbar und deutlich werden lassen könnte – der Verrat selbst darf nicht benannt werden. Ebenso wenig wie die Fortführung des Verrats durch personelle Kontinuität nach dem Krieg, wie Dieter Schenk es für das BKA aufzeigt oder Kurt Blüchel für die Kassenärztliche Vereinigung (2003).