Ein Gedicht zum Todestag. Sophie Lamé. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sophie Lamé
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737519854
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der Männer an sich, von denen keiner mehr zu sehen war. Nur Michel Souliac, der war noch da gewesen und er war es auch, der sie aufgeweckt hatte. Seine Stimme hallte in ihrem Kopf, als sie an den furchtbaren Morgen zurückdachte.

      „Bonjour ma belle!“ Sein Lächeln war falsch gewesen. „Schwing deinen Hintern vom Sofa und such deine Klamotten zusammen. Deine Freundin ist auf dem Klo, falls du sie suchst. Kannst dich wohl an nichts mehr erinnern, was? Ich helf dir auf die Sprünge, Kleines. Du und deine Freundin, ihr habt die Jungs ganz schön heiß gemacht.“

      Suzanne erinnerte sich schaudernd, dass Michel sich mit der Zunge über die Lippen gefahren war wie ein ekelerregendes menschliches Reptil. „So wild hätte ich euch gar nicht eingeschätzt. Wohl lange keine Männer mehr im Bett gehabt, was?“

      Suzanne konnte sein ekelhaftes Lachen so deutlich hören, als würde er leibhaftig in ihrer Küche stehen. Sie stützte den Kopf auf ihre Hände und versuchte vergeblich, die Erinnerungen zu verdrängen. Es gelang ihr nicht. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Irina in den Raum treten. Gerade in dem Moment, als Michel weiter gesprochen hatte.

      „Meine Freunde waren so begeistert, dass sie Lust auf mehr haben. Sogar Alphonse, der sonst sehr anspruchsvoll ist, was Weiber betrifft. Also haltet euch bereit, Mädels, verstanden?“ Seine schmeichelnde Stimme hatte vor Scheinheiligkeit nur so getrieft. „Ich kann meinen Freunden diesen Wunsch auf keinen Fall abschlagen, das werdet ihr doch sicher verstehen?“

      Suzanne schüttelte heftig den Kopf, als wolle sie eine lästige Fliege abwehren. Nein, bloß nicht daran denken, was dann passiert war. Doch sie wehrte sich vergeblich, die Erinnerung ließ sich nicht verdrängen.

      „Bist du verrückt geworden, du aufgeblasener Möchtegern-Krimineller? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir für dich die Nutten spielen?“ Irina war außer sich gewesen. Sie hatte einen gefüllten Aschenbecher aus schwerem Granit gepackt und ihn in Souliacs Richtung geschleudert. „Was bist du nur für ein perverses Schwein!“

      „Très charmante, ma belle. Ich liebe temperamentvolle Frauen.“

      Michel war dem Geschoss aus Asche und Stein geschickt ausgewichen und erstaunlich ruhig geblieben. Nur seine Finger hatten unablässig an seinem Handy herumgespielt.

      „Schade, dass ihr gar keine Wahl habt, Mädels. Für wie blöd haltet ihr mich?“ Er hatte sein Smartphone so gedreht, dass sie das Display sehen konnten. „Ein geiles Filmchen ist das geworden, ich muss mich selber loben. Absolut heiß. Und ein bisschen dreckig.“

      Suzanne hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, als sie sich an diesen Moment zurückerinnerte. Und der Albtraum war noch nicht vorbei gewesen.

      „Lasst euch bloß nicht einfallen, Ärger zu machen. Solche Filme sind im Netz sehr begehrt, da ist man in der Nachbarschaft auf einmal richtig bekannt. Meinst du nicht auch, Irina, dass dein seniler Opa ganz schön geschockt wäre, das zu sehen?“

      Noch bevor Irina sich hatte auf ihn stürzen können, hatte er sie gepackt und ihr mit einem einzigen Griff beide Arme nach hinten gedreht. Und dann hatte er Suzanne mit kaltem Blick gemustert.

      „Keine Spielchen, verstanden? Einige meiner Jungs stehen nämlich auch auf ganz junges Gemüse. Tja, ekelhaft sowas, aber wenn es sie anmacht … Soviel ich weiß, hast du eine zuckersüße Tochter, nicht wahr? Und ist sie nicht auch dein Patenkind?“

      Den letzten Teil des Satzes hatte er Irina, die mit schwindender Kraft versucht hatte, sich aus Souliacs brutalem Griff zu befreien, ins Ohr geflüstert.

      „Du perverses Schwein! Ich bring dich um, du elender Dreckskerl!“

      An diesen Punkt brach Suzannes Erinnerung ab. Sie wusste nicht mehr, wie sie es geschafft hatte, sich anzuziehen und nach Hause zu kommen. Doch was sie nicht vergessen würde, das war diese eine, unter Schmerzen und Wut herausgeschriene Drohung ihrer Freundin.

      „Ich bring dich um, du elender Dreckskerl!“

      Sollte Irina tatsächlich …? Nein, unmöglich, das konnte nicht sein. Und es durfte nicht sein. In Suzannes Vorstellung begannen Bilder zu entstehen, die sie mit einer energischen Handbewegung zu verscheuchen versuchte. Nein, dazu war ihre Freundin nicht fähig. Nicht mehr, verbesserte sie gleich darauf eine leise Stimme in ihrem Kopf. Diese Zeiten waren lange vorbei, und Irina hatte sich seither nichts mehr zu Schulden kommen lassen. Zudem hatte ihnen dieser Michel Souliac ja auch überhaupt keinen Ärger gemacht. Er hatte sich nicht einmal mehr gemeldet. Zufrieden mit ihrer eigenen Erklärung gab Suzanne dem schnurlosen Telefon einen Schubs, so dass es sich auf dem Tisch drehte und dabei gegen ein Glas schlug, an dessen Boden sich ein undefinierbarer brauner Belag abgesetzt hatte.

      „Ich muss dringend spülen“, murmelte sie, als im Nebenzimmer ein ohrenbetäubender Lärm losbrach. Suzanne Hérault seufzte. Sie erhob sich mit einer so heftigen Bewegung von ihrem Stuhl, dass er nach hinten weg kippte und mit der Lehne hart auf dem Fliesenboden aufschlug. Mit langen Schritten lief sie durch den bereits dämmrigen Flur und riss die Tür zum Kinderzimmer auf.

      „Was ist denn nun schon wieder los, Herrgott nochmal?“

      Vier Kinderaugen richteten sich erschrocken auf Suzanne, die wie ein Racheengel im Türrahmen stand.

      „Samantha hat …!“

      „Aber Kévin hat angefangen und dann hat er das Regal umgestoßen und …!“

      Während die beiden Kinderstimmen sich vor Aufregung fast überschlugen, starrte Suzanne auf das Durcheinander im Zimmer und wünschte sich nicht zum ersten Mal an diesem Tag ganz weit fort. Der Raum sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Das kleine weiße Regal, das aus zwei übereinander gezimmerten Brettern bestand, war umgestürzt und hatte alles, was sich zuvor darauf befunden hatte, mit sich gerissen. Kinderbücher, Brettspiele und kleine Plastikfiguren lagen über dem Boden verstreut. Ein ausgedienter Schuhkarton, in dem Samantha ihre Puppenkleider aufbewahrte, lag plattgedrückt unter den Regalbrettern. Mit versteinertem Gesicht ging Suzanne durch das Zimmer zum Etagenbett ihrer Kinder und schüttelte die Decke im oberen Bett auf. Sie hatte das Gefühl, sich auf etwas konzentrieren zu müssen, um keinen hysterischen Anfall zu bekommen. Sie beugte sich zur unteren der beiden Matratzen hinunter und schüttelte auch hier Kissen und Decke auf. Ihr Blick fiel auf das Laken und ihre Lippen wurden schmal. Suzanne drehte sich zu ihrer Tochter um, die immer noch hinter ihr auf dem Fußboden saß. Gerade wollte sie den Mund öffnen, um Samantha ein für allemal klar zu machen, dass sie im Bett nicht trinken sollte, als sie deren weit aufgerissene Augen sah.

      „Es ist einfach so passiert, Maman“, wimmerte das Kind und Suzanne sah ihr an, dass sie gleich in Tränen ausbrechen würde. „Ich habe geträumt und dann war auf einmal das Bett nass.“

      Die Kleine schniefte und wehrte ihren siebenjährigen Bruder ab, der singend vor ihr herumtanzte.

      „Samantha hat ins Bett gemacht, Samantha hat ins Bett gemacht.“

      „Schluss jetzt, Kévin!“ Suzanne hob drohend die Hand und bedeutete ihrem Sohn mit einer Kopfbewegung und einem eindeutigen Blick, den Mund zu halten und das Zimmer zu verlassen. Sie setzte sich zu ihrer Tochter auf den Boden und zog sie in ihre Arme. „Meine Kleine, das ist nicht schlimm, Maman ist nicht böse.“ Sie wiegte sie sachte hin und her. Was mochte ihr Kind wohl so beschäftigen, dass sie plötzlich ins Bett nässte? Oder konnte das in diesem Alter auch passieren, wenn man schlecht träumte? Suzanne wusste es nicht.

      „Hast du denn einen bösen Traum gehabt, mein Schatz?“, fragte sie ihre Tochter und streichelte ihr weiter beruhigend die schmalen Ärmchen.

      „Ich weiß nicht“, Samantha zog noch einmal geräuschvoll die Nase hoch. „Vielleicht habe ich wieder von dem Mann geträumt.“

      „Von welchem Mann?“ Suzanne Hérault musste sich zusammenreißen, um ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich in ihrem Körper aus und ließ ihn seltsam starr werden. „Samantha, von welchem Mann?“

      „Der, mit dem sich Tante Irina letztens so laut gestritten hat. Der mit den eklig schmierigen Haaren.“

      Suzannes