Aber sie wollte nicht. Stattdessen nahm sie ihr Handy und rief Max Grothe an. Einen alten, bereits pensionierten Kollegen ihres Vaters, der nach dessen Tod ihr Vertrauter und später Mentor geworden war.
»Hallo Dana!«
Heutzutage brauchte man sich nicht einmal mehr zu melden, wenn man jemanden anrief, das Display verriet, wer zu später Stunde störte.
»Hallo Max, hast du Zeit?«
»Für dich immer, was ist los? Geht es dir gut?«
»Keine Sorge, es ist nur dieser Fall.«
»Verstehe.« Ein leises Stöhnen. »So ich habe meine alten Knochen in den Sessel bemüht, erzähl!«
Sie liebte Max. Er verstand sie, bei ihm brauchte es nicht vieler Worte, keinen Smalltalk, kein Blah Blah.
»Es ist wieder eine aufgetaucht. Weiblich, jung, blond, wahrscheinlich erwürgt, in ein weißes Herrenhemd gekleidet, abgetrennter linker Ringfinger. Max, sie werden immer jünger und wir haben keine Spur. Die Abstände werden kürzer und er scheint sich auf dieses Gebiet hier zu konzentrieren.«
»Dann beginnt er Fehler zu machen.«
»Ich weiß und trotzdem, dieser Fall nimmt mich mit, mehr als andere.«
»So einen wird es immer geben. Man kann es nicht erklären, aber an manche verlierst du deine Seele. Du wirst sie nie mehr los, selbst nach Abschluss wachst du die ein oder andere Nacht auf und erinnerst dich an sie.«
»Er hält diese Frauen fest, er quält sie. Er gibt ihnen vielleicht sogar ein wenig Hoffnung, weil er sie nicht sofort tötet und dann löscht er sie aus.«
»Dir einen Rat zu geben, wie du die Bilder aus deinem Kopf vertreibst, kann ich nicht, das weißt du. Sie spornen dich an, mehr von dir zu verlangen, als du in der Lage bist zu leisten. Das ist gut, denn so lässt du nicht locker und ihr werdet ihn finden, aber lass nicht zu, dass es dich kaputt macht.«
»Das tue ich nicht, du kennst mich.«
»Eben drum.«
»Ich danke dir.«
»Jederzeit.«
»Ich weiß.« Sie musste lächeln.
»Ach Dana«, sagte er, in dem Moment, in dem sie die Verbindung trennen wollte.
»Ja?!«
»Ich ... ach nichts. Pass auf dich auf.«
»Werde ich.«
In dem Raum, den man ihnen in der zuständigen Dienststelle bereitgestellt hatte, in den Tische und Stühle, eine Kaffeemaschine und ein Kühlschrank gestellt worden waren, saß Dana zwei Tage später.
Ihr Laptop war geöffnet, hatte in den Ruhemodus gewechselt, ihr Kaffee war kalt und sie starrte auf die Unterlagen vor sich.
Der Täter lieferte ihnen Anhaltspunkte, er schien sich nur bedingt vorzusehen und nicht von ihnen gestört zu fühlen.
Sie hatten an einer Leiche fremde, männliche DNA gefunden, nicht registriert, vielleicht nicht einmal die des Täters, aber auch nicht die eines Mannes aus dem Umfeld der Frau oder Verdächtigen.
Das Profil sprach für einen Serientäter, keiner Täterin, zwischen 25 und 50 Jahren, eine Zeitspanne von beinahe einer Generation.
Die Hemden, die er verwendete, waren Allerweltshemden. Eine Firma, die große Stückzahlen produzierte, preiswert in die halbe Welt lieferte und sogar im Angebot einer großen Discount Supermarktkette vertreten war, die wiederum fast weltweit agierte.
Der Ringfinger war mithilfe einer handelsüblichen Säge entfernt worden, so einer kleinen, wie sie häufig in Werkzeugkoffern zu finden war.
Die Frauen waren zu unterschiedlichen Tageszeiten verschwunden, niemandem war etwas aufgefallen. Kein Auto, in das sie gezerrt worden waren, keine Schreie, keine Gemeinsamkeiten, bis auf das Aussehen.
Mal hatte er sie vergraben, mal an öffentlichen Plätzen abgelegt, die letzte ins Meer geworfen.
Immer hatte er sie ein paar Tage festgehalten, die Zeitspanne variierte.
Sie wiesen Spuren von Gewalt auf, die keiner Regel folgte.
Vier Opfer waren als vermisst gemeldet und nachdem man ihre toten Körper gefunden hatte, identifiziert worden.
Sie hatten viele Ansätze; Vermutung, Thesen, Analysen bezüglich des Fingers, weshalb ein weißes Herrenhemd, warum auf diese Art und Weise.
Zeugen vernommen, Verdächtige auch, Freunde, Familien, Bekannte, Kollegen der Opfer befragt, seinen Unterschlupf gesucht, sie hatten alles getan, was zu tun gewesen war.
Ihm näher gekommen waren sie trotzdem nicht.
Dana war sicher, dass es den ›perfekten Mord‹ gab, denn eben das, was Nummer fünf anmahnte, war nichts anderes. Aber dieser Fall würde es nicht sein.
Georg klopfte gegen die Scheibe und unterbrach ihre Gedanken.
Der Leiter der Sonderkommission trat vor die Beamten, neben ihm nahm der Staatsanwalt platz. Er lehnte sich an einen Tisch und räusperte sich.
»Das Opfer heißt Ina Drews, 21 Jahre alt, Studentin, ledig und ist vor zehn Tagen zu einer Reise durch Indien aufgebrochen, hat das Flugzeug nie betreten. Wir haben ihre Familie kontaktiert.
Erste Untersuchungen haben ergeben, dass ihre Leiche nicht unweit des Fundortes im Wasser versenkt worden ist. Wie die Spuren zeigen, von der Landungsbrücke aus.
Zu diesem Zeitpunkt war Frau Drews bereits tot. Keine Schaumpilzbildung in den inneren Atemwegen und der Lunge, keine Lungenballonierung, keine Flüssigkeit in der Lunge oder sonstige Merkmale für Ertrinken. Was die äußerliche Betrachtung vor Ort ergeben hat, wurde bestätigt. Frau Drews ist durch Strangulation durch Kompression des Halses mit den Händen zu Tode gekommen.
Das vorläufige Gutachten liegt vor.
Alles weist darauf hin, dass sich der Körper zwischen den Pfosten der Landungsbrücke verfangen hat und aufgrund von Strömungsänderungen später freigekommen ist. Wahrscheinlich hat sie drei Tage im Wasser gelegen.«
Es war, wie bei den anderen Opfern; der Finger war post mortem abgetrennt worden, es hatte kein sexueller Kontakt stattgefunden. Er hatte ihr Nahrung gegeben und sie nach Eintritt des Todes nicht lange bei sich behalten, hatte sie umgehend entsorgt.
Dana würde bei dem Gespräch mit den Eltern und dem Bruder dabei sein und graulte sich davor. Es war kein schönes Erlebnis, Angehörige und Freunde, die gerade vom Tod eines geliebten Menschen erfahren hatten, zu befragen. Man kam sich immer auch wie ein Ankläger vor, denn prinzipiell gehörte jeder zum Kreise der Verdächtigen. Dann war Feingefühl geboten, um niemanden zu verletzen, aber gleichzeitig aufmerksam zu bleiben, dem vermeintlichen Täter nicht die Möglichkeit zu geben, in der trauernden Gruppe unterzutauchen und zu verschwinden.
Trotzdem liebte sie ihren Beruf, konnte sich nicht vorstellen, etwas anderes zu machen, denn wenn sie erfolgreich waren und das waren sie fast immer, dann gab es ein klein wenig Gerechtigkeit und eine Art Aufatmen, bei den Familien.
Jedoch waren Serientäter etwas Besonderes, Spezielles, kaum Kalkulierbares und Seltenes, wenn man, wie in diesem Fall, von einem psychisch Gestörten ausgehen konnte.
Natürlich war sie nicht berechtigt, den Täter als solchen zu bezeichnen. Es oblag anderen Stellen, die psychische Gesundheit zu beurteilen, aber das Denken konnte man ihr nicht verbieten.
Für sie war der Täter gestört!
Das Handy klingelte und Dana nahm das Gespräch an.
»Hallo Max.«
»Dana, kannst du reden?«
Sie stand auf und schloss die Tür, setzte sich wieder.
»Ja, was ist los?«
»Ich