„Das kann ich verstehen. Ich weiß, dass ich damit nichts ändern kann, wenn ich Ihnen sage, dass Sie mein ganzes Mitgefühl haben, Anne.“ Sie seufzte. „Es ist schon zum Kotzen. Manchmal versetzt uns das Leben Tiefschläge, die so schmerzhaft sind, dass wir meinen, wir könnten sie nicht verkraften.“
„William ist nun schon das dritte Opfer der Bestie“, sagte ich frostig.
Ich versuchte klar zu denken, drängte meinen bohrenden Schmerz zurück und gab mir Mühe, den Mord mal nur als Kriminalfall zu betrachten.
„Konnten Sie schon etwas herausfinden?“, sagte Julie Waldenfels.
„Nur was wir bereits wissen. Die Bestie setzt sie sich mit ihrem Opfer zunächst in Verbindung, um Geld zu verlangen“, antwortete ich.
„Folglich muss sich der Mörder auch mit Sir Mowbray in Verbindung gesetzt haben.“
„Ich habe ein ungutes Gefühl. Hier laufen größere Dinge ab als nur eine einfache Erpressung. Warum sollte ein Dämon oder Werwolf wegen Geld morden?“
„Hat Ihnen William etwas von einer Erpressung erwähnt?“
„Nein.“
„Aber er hatte doch Vertrauen zu Ihnen, Anne.“
„Vielleicht nahm er die Drohung nicht ernst.“
„Das wäre eine Erklärung.“
„Ich werde den Fall aufklären, Chefin!“
„Die Zuständigkeit liegt bei Scotland Yard. Die CEDIS wurde zwar eingeschaltet, darf aber nur diskret ermitteln. Es darf in London keine Hysterie wegen einem Dämon oder Werwolf entstehen. Also seien Sie weiterhin vorsichtig und schweigsam. Alle Informationen nur an mich. Die Sache kann unter Umständen sehr gefährlich werden, Anne.“
„Ich werde allen Gefahren trotzen“, erwiderte ich mit loderndem Blick. Ich schob mein zartes Kinn trotzig vor, war entschlossen, nicht eher zu ruhen, bis ich die Bestie zur Strecke gebracht hatte.
„Vielleicht sollte ich Sie nicht allein in dieses Abenteuer gehen lassen. Der letzte Auftrag in Schottland hat Sie viel Kraft gekostet“, sagte Waldenfels besorgt.
„Ich brauche keine Hilfe!“, entgegnete ich kampflustig.
„Robin Barnes und Hendrik Hudson sind zurzeit verfügbar. Ich könnte die beiden nach London schicken. Sie würden sich freuen, wenn sie Sie unterstützen könnten.“
Mit Robin Barnes hatte ich gerade einen schwierigen Auftrag in Schottland erfolgreich abgeschlossen. Henrik Hudson war bei früheren Fällen zuverlässig an meiner Seite gewesen. Die beiden gehörten zu den besten Agenten der CEDIS, ich konnte ihnen vertrauen. Gerade in dieser Situation konnte ich die Stütze der beiden Kollegen gut gebrauchen.
„Robin und Hendrik sind mir stets willkommen, Chefin“, sagte ich leise.
„Ich schicke sie gleich morgen früh nach London, mit sämtlichen Unterlagen, die ich über die Bestie auftreiben kann.“
„Vielen Dank. Sie sind mir wirklich eine große Hilfe.“
„Quatsch!“, erwiderte Waldenfels, als befürchte sie mit einem Mal, zu weich vor mir dazustehen. „Ich tue es vor allen deshalb, weil es unsere Aufgabe ist, die Menschen vor den Höllenwesen zu beschützen.“
Mit sich vollauf zufrieden betrat Thalon zur selben Zeit seine finstere Behausung. Er machte im Flur Licht, nachdem er die Tür gewissenhaft hinter sich zugedrückt hatte. Er zog seinen Regenmantel aus und warf ihn über einen Kleiderhaken aus weißem Kunststoff. Dann schlüpfte er aus den leichten Schuhen und rutschte in bequeme Pantoffel. Vor dem Garderobenspiegel verharrte er einen kurzen Augenblick lang und betrachtete sein Gesicht. Sein dämonisches Aussehen hatte sich zurückgewandelt. Nun sah er wie ein langweiliger Mensch, wie ein Buchhalter aus. Niemand hätte in ihm die Bestie von London vermutet.
Plötzlich klingelte sein Handy.
„Ja“, meldete sich die Bestie.
„Ist er tot?“
„Ja, sicher!“
„Das wird allen anderen Opfern eine Lehre sein. Künftig werden Sie alle bezahlen! Ich brauche das Geld dringend für die Klinik.“
„Ja, Meister“, antwortete Thalon.
„Was ist mit Baring?“
„Er wird bezahlen, ich bin sicher.“
„Gut, ich zufrieden mit dir.“
„Danke, Meister.“
Dann erfolgte ein Klicken, der Anrufer hatte das Gespräch beendet.
Kichernd nickte der skrupellose Mörder. Er liebte seine Aufgabe, das blutige Morden lag in seiner Natur. Er hätte es den ganzen Tag tun dürfen.
Wenn nur der Meister nicht wäre! Er gab die Befehle vor.
5
Die Fahrzeuge von Scotland Yard trafen ein.
Ich öffnete die Tür, um die Polizisten einzulassen. Der Mann, der die Truppe anführte, war mittelgroß, hatte den aufgeschlossenen Blick eines progressiv eingestellten Menschen, brünettes Haar und stahlblaue Augen.
„Ich bin Inspector Tolbert“, stellte er sich vor. Dann wies er auf einen adretten Hünen und sagte: „Und das ist Sergeant Nelson.“
Ich ließ sie passieren. Das übliche Treiben der Spurensicherungsleute setzte ein. Sie besprühten alle möglichen Stellen in der Bibliothek mit ihrem weißen Pulver und trachteten, die Fingerabdrücke des Mörders zu finden.
Währenddessen untersuchte der Polizeiarzt den Toten. Der Mann war hager, roch nach Pfefferminze, hatte einen schlechten Fuß und hinkte leicht.
Inspector Tolbert wechselte einige wenige Worte mit ihm. Dann machte der Polizeifotograf seine Aufnahmen von der Leiche.
Der zweite Trupp der Spurensicherung brachte Strahler an der Terrasse an. Es war wichtig herauszufinden, wie der Mörder auf das Grundstück gelangt ist. Die Tatortermittler schritten mit starken Taschenlampen in der Hand immer tiefer in die parkähnliche Anlage. Es dauerte nicht lange, und die Überreste eines weiteren zerfetzten Opfers wurden entdeckt.
Schnell wurde der hintere Teil des Grundstücks ausgeleuchtet. Kurz darauf wurde die Identität von Thomas Moore, einem der Personenschützer, und Acon, dem Schäferhund, festgestellt. Es wurde ein weiteres Team von Tatortermittlern angefordert.
Das Gesicht von Inspector Tolbert drückte Ekel aus. Er rümpfte die Nase.
„Erneut hat die Bestie von London zugeschlagen. Zuerst Jacob Wesley, der Börsenmakler, dann George Lynch, der Getränkefabrikant, und heute Sir Mowbray. Der Bodyguard scheint ein Zufallsopfer zu sein. Er war wohl zur falschen Zeit am falschen Ort.“
Ich saß auf einem Element der samtenen Wohnlandschaft und betrachtete neugierig den Chefermittler von Scotland Yard. Inspector Tolbert nahm neben mir Platz.
William Mowbray wurde in eine Zinkwanne gelegt. Die Schrauben des Deckels quietschten, als die Männer sie zudrehten. Als der Fabrikant sein Haus für immer verlassen hatte, verlangte Inspector Tolbert von mir eine detaillierte Schilderung der letzten Stunden.
Ich ließ nur die unwichtigen Dinge und den Sex aus, alles andere sagte ich ihm. Die Lage der Leiche war mit Kreide auf dem Boden markiert worden. Auch davon machte der Polizeifotograf einige Aufnahmen. Sergeant Nelson beaufsichtigte inzwischen die Arbeit der Spurensicherungsmänner, die sich nun an der Terrassentür zu schaffen machten.
„Sir Mowbrays Tod geht Ihnen sehr nahe, nicht wahr?“, fragte Edward Tolbert.
Er zog einen Inhalationsstift aus der Tasche und führte ihn zuerst in das linke, dann in das rechte Nasenloch, um wieder besser Luft zu bekommen.