Wie kam es zu diesen Kopfreisen? Woher kamen diese Bilder? Konnte es sein, dass ein sonniger und warmer früher Morgen als Auslöser genügte? Die Zeit gebe es nicht, alles geschehe gleichzeitig, hatte er einmal gelesen. In diesen frühen Morgenstunden glaubte er das manchmal genau so zu erleben.
Abseits des vertrauten Alltags verging die Zeit langsamer. Bis man sich an die neuen Umstände gewöhnt hatte und der Autopilot wieder das Steuer übernahm. De-automatize, hatte er bei Osho gelesen, sich den ungewohnten Ausdruck in grossen und gut leserlichen Buchstaben auf eine Karte notiert und diese auf seinem Schreibtisch platziert. Er nahm sie selten wahr und wenn, dann flüchtig.
Es war das Simple und Alltägliche, das er an fremden Orten so schätzte. Zum Schuhmacher zu gehen. Zur Schneiderin, zum Einkaufen, zum Haareschneiden. Ihm zu Hause Vertrautes, dem er kaum einmal Aufmerksamkeit schenkte, wurde in der Fremde zu Staunenswertem. Wer staunt, versteht. Jedenfalls manchmal. Auf einer der tieferen Ebenen, doch selten auf der alltäglichen, dachte es so in ihm, als er kurz darauf mit seiner Stirn gegen den Dampfabzug über dem Herd stiess. Welcher Vollidiot hatte den bloss so saublöd konstruiert! Dass ihn selber kein Fehler traf, war ihm auch ohne Nachdenken klar. Am nächsten Tag stiess er von Neuem mit seiner Stirn gegen den Dampfabzug.
Schuhmacher sind eigensinnige Leute. Meist alt und verrunzelt. Jedenfalls die, die Harry in Erinnerung geblieben waren. Der Mann im brasilianischen Cascavel etwa, der sehr, sehr gerne redete (das tun Brasilianer generell, ob man zuhört oder nicht – eine Frau aus Bahía hatte ihm einmal erzählt, in Lima war das gewesen, ihr Sohn sei der Meinung, sie würde auch mit einer Wand reden) und derart in der griechischen Philosophie bewandert war, dass Harry nur das Zuhören blieb – er genoss es. Und dann der auf die achtzig zugehende Nixon-Fan (Alan Greenspan, der einstige US-Notenbankchef, bezeichnete Richard Nixon und Bill Clinton in einem Fernsehinterview als die beiden intelligentesten Präsidenten, mit denen er zu tun gehabt hatte) im argentinischen Mendoza, dessen Detailwissen an Fanatismus grenzte. Und dann der Schuhmacher an einer vielbefahrenen Strasse (seine Werkstatt bestand aus einer Kiste mit diversen Werkzeugen) im kolumbianischen Barranquilla, ein mundfauler Typ, der seine Sandalen regelrecht kaputt riss, dann aber so geschickt wieder zusammenflickte, dass Harry aus dem Staunen gar nicht mehr herauskam. Weniger Glück hatte ein holländischer Bekannter in Bangkok, der seine exquisiten Lederstiefel von einem Strassenschuhmacher besohlen lassen wollte, der sie mit 'no good' kommentierte, den Schaft von der Sohle trennte und schliesslich, da er nicht weiter wusste, es dabei beliess. Der Holländer blickte entgeistert auf das, was gerade noch sehr schöne Stiefel gewesen waren ... und brach in kaum mehr zu bändigendes Lachen aus.
Bangkoks Strassen sind überhaupt gewöhnungsbedürftig. Das merkt man spätestens dann, wenn einem auf dem Gehsteig ein Motorrad entgegen gebraust kommt oder man von wild in der Gegend hängenden Kabeln fast stranguliert wird. Robert Hein hat in The Bangkok Survivor's Handbook empfohlen, sich für diese Stadt die richtige Einstellung zuzulegen, die im Wesentlichen darin besteht, seinen Aufenthalt als Abenteuer zu begreifen und sich mit ganz viel Geduld, Toleranz und gutem Willen zu wappnen, denn die Thais glauben an Karma und Reinkarnation. Konkret: Man stirbt erst, wann seine Zeit gekommen ist. Und man wird wiedergeboren. Diese Zuversicht zeigt sich auch in ihrem Fahrstil. „Karma. You are where you are supposed to be or you wouldn't be there ... If, when crossing a street, a vehicle passes within inches of you, don't get angry at the driver. He's long gone and thought of you as only an obstacle. Instead, feel grateful that you weren't hit. When you are crossing a street, anger is a luxury not a survival instinct.“
Das Fahrverhalten der Brasilianer ist damit verglichen recht zivilisiert, doch wer annimmt, ein brasilianischer Zebrastreifen sei mehr als bloss eine farbige Markierung, liegt eindeutig falsch. Für ihn sei der kanadische Verkehr ein regelrechter Kulturschock gewesen, berichtet einer von Harrys Schülern. Er sei vor einem Zebrastreifen gestanden, hätte nach links und recht geschaut, als ein Wagen angehalten hätte. Was war denn das? Sollte/Konnte er vielleicht die Strasse überqueren? Er traute der Sache nicht und blieb stehen. Weitere Autos hielten, es bildete sich ein ansehnlicher Stau und er begann sich vage schuldig zu fühlen, denn ihm dämmerte, dass das etwas mit ihm zu tun hatte. Und so nahm er schliesslich seinen ganzen Mut zusammen, spurtete so schnell er konnte über den Zebrastreifen und, zu seinem grenzenlosen brasilianischen Erstaunen, überlebte er unverletzt.
Brasilianer empfinden Stopp-Signale und Rotlichter ähnlich wie Italiener – als eine im besten Fall gute Diskussionsgrundlage. Zudem legt ihnen ihr natürlicher Instinkt nahe, Kontrollen möglichst zu umgehen. Wie Sergio, ein klassisch ausgebildeter Kontrabass, der mangels Auftrittsmöglichkeiten auf Taxi umsattelte. Auf einer längeren Fahrt von Cidreira nach Torres erzählte er ausführlich von seinen Engagements in Uruguay, Argentinien und Bolivien. Ob er auch Paraguay besucht habe, wie viele hier im Süden? Einkaufstrips über die Grenze zähle er nicht zu den Ländern, die er besucht habe. Er schwelgte in Erinnerungen und war mit seinen Gedanken definitiv nicht da, wo sie hätten sein sollen. Wäre Harry auf einer langen gerade Strecke ihm nicht im letzten Moment ins Steuer gefallen, wären sie wohl unvermeidlich mit zwei Pferden kollidiert, die sich losgerissen hatten und über die Autobahn stürmten.
Von Zeit zu Zeit verlangsamte Sergio, um von den Kameras nicht geblitzt zu werden. Kurz vor einer Verkehrskontrolle, öffnete er das Handschuhfach, nahm eine Brille heraus und setzte sie auf. Auf Harrys erstaunten Blick meinte er: „Laut meinem Fahrausweis muss ich eine Brille tragen. In Tat und Wahrheit brauche ich sie zum Lesen, also auf die Nähe, nicht auf die Weite. Doch da in meinen Ausweis steht, ich sei Brillenträger und man mit der Polizei nicht diskutieren kann, setze ich sie halt auf. „Um jeitinho brasileiro, tudo é um jeitinho no Brasil“, fügte er hinzu. Darunter versteht man die kreative Art und Weise wie man in Brasilien den Herausforderungen des Lebens begegnet und immer wieder einen Weg, irgendeinen, findet, inklusive das Gesetz zu brechen und sich dabei gut zu fühlen. (Als Harry diese Geschichte seinen brasilianischen Studenten erzählte, begannen sie bereits zu lachen, als er das Handschuhfach erwähnte ... sie wussten schon, was kommen würde).
Ein paar wenige Male hatte Harry erlebt, dass Autofahrer abbremsten, als sie ihn vor dem Zebrastreifen warten sahen. Und dann, als ein abbremsender Fahrer beinahe einen Auffahrunfall ausgelöst hatte. begriff er plötzlich, warum sie es in der Regel nicht taten.
Der aus Ungarn stammende Peter Kellemen hat in seinem 1961 erschienenen Brasil para principiantes geschildert, wie er in São Luis, im Nordosten, sich um eine Aufenthaltserlaubnis bemüht hatte. Als er nach seinem Beruf gefragt wurde und wahrheitsgemäss mit Arzt antwortete, verfiel der Konsul in kurzes Nachdenken und sagte dann: „Also gut, wir werden Agronom in Ihren Antrag reinschreiben. So wird das gehen.“ Kellemen, unsicher, ob er auf die Schippe genommen wurde, korrigierte den Konsul: „Nein, nein, ich bin Arzt, nicht Agronom.“ „Das ist mir klar, Sie haben es ja gesagt. Doch sehen Sie, in Brasilien brauchen wir derzeit keine Ärzte, sondern Agronomen, weshalb ich Sie in Ihrem Antrag zum Agronomen mache.“ Kellemen, der befürchtete, das sei womöglich eine Falle und er könnte der Lüge überführt werden, insistierte, nein, nein, er sei wirklich Arzt und von Landwirtschaft verstünde er so ziemlich gar nichts, worauf sich der Konsul leicht genervt an seinen Sekretär wandte: „Der Mann scheint noch nie vom jeito brasiliero gehört zu haben. Kläre ihn