„Es duftet zauberhaft nach Brokkoli“, rief die Malerin, die von einem grauhaarigen, gutmütigem Herrn begrüsst wurde. „Endlich jemand, der sich von dir nicht alles gefallen lässt, Aaron!“ „Himmel - ich bin froh darüber, dass die Zeiten vorbei scheinen, in denen mir wildfremde Frauen die Kleider vom Leib reissen wollen. Samt Hautfetzen. Ich war eine Jagdtrophäe!“ „Und hübsche Frauen dein Pelzschmuck“, entgegnete Aarons Stiefmutter, eine Frau mit einem Allerweltsgesicht. In ihren kräftigen Händen eine dampfende Suppenschüssel haltend, „seid friedlich.“ Begeistert betrachtete Martha die Essmöbel aus edlem, feingeschnitzen Holz. Das kostbare Geschirr von eleganter, europäischer Art. Das feingekräuselte Haar des Vaters. Seine charmant, zugleich schelmisch wirkende Mundpartie. Irische oder schottische Einflüsse, vermutete sie. Die vier setzten sich zu Tisch. „Zwei Personen fehlen. Wo sind Larry und David?“, fragte Aaron. „Larry ist fort zu einem Kunden. Mit dem Fahrrad“, erklärte die Stiefmutter. „Er kann doch jederzeit eines meiner Motorräder oder Autos nehmen“, bemerkte der Sänger entrüstet. „Das ist sein Beitrag für ein neues Umweltbewusstsein.“ David hatte mit einem Tablett - darauf frischgebackene Baguettes - den Raum betreten. „Ein Bike … bist du bekifft?“, fuhr Aaron ihn an. Doch der schritt zielsicher auf einen riesigen Flachbildfernseher zu. „Das müsst ihr alle sehen!“ Der Sänger zuckte erschreckt zusammen. „Ich vermutete darin eine moderne Sonnenbank“, schrie er entsetzt, „aber das ist doch Dylan im Weissen Haus! Der Typ sieht aus wie ein seniler Penner.“ „Der farbige Mann, der ihm den Orden an das Brustkuvert heftigt, war übrigens unser letzter Präsident“, sagte David. „Und wer ist der jetzige?“, fragte Aaron ungläubig. „Ein Angeber. Wir sollten uns freuen, denn in Memphis wurde einst Martin Luther King ermordet. Diese Preisverleihung ist ein denkwürdiger Augenblick“, bemerkte der Vater des Sängers, „unterlasse es bitte tunlichst, wie früher geschehen, mit einem Gewehr auf den Bildschirm zu ballern, mein Sohn. Denk‘ an dein schwaches Herz. In das nach dir benannte Hospital können wir dich nicht mehr bringen.“ „Wohin?“ „In das Krankenhaus, in welchem du obduziert wurdest. Es wurde inzwischen gesprengt.“ „Ich erinnere mich“, murmelte der Musiker leise, „meine Gedärme schienen an diesem Morgen explodieren zu wollen. Oder war es mein Inneres? Dieser ganze Elvisscheiss! Vor Augen eine neue Konzerttournee. Ich wusste, dass ich nur noch eine Farce meiner Selbst war. Ein grausamer Schmerz hatte mich in jenen Todesminuten gepackt … er war der Kampf mit dem Tod. Oder der mit meinem versauten Leben. Es war der Wunsch meines Herzens nach der Endlichkeit aller Dinge.“
III. „Schmusetarzan“
Aaron und Martha hockten auf seiner mit Kissen überladenen Sofagarnitur. Der Musiker hantierte mit einer kleinen Digitalkamera, indem er die Batterie und Speicherkarte ausgiebig prüfte. „Das Ding ist ein Paradies für die persönliche Eitelkeit, Martha. Knipsen, löschen, knipsen. Diese Selfies sind ganz nach meinem Geschmack. Wow!“ Die Malerin lächelte, hatte ihr Notebook auf dem Couchtisch platziert und in Betrieb genommen. „Selfish, selbstverliebt ist auch deine überwältigende Sammlung deiner vergoldeten LPs. Wolltest du damit das geraubte Gold der Indianer zurückerobern?“ „Memphis ist arm. Hier gibt es kein Gold. Sag‘ mal, wo sind eigentlich die Hippies abgeblieben?“, fragte er zaghaft. „Die haben inzwischen entweder ein Restaurant, ein Reisebüro oder eine Tauchschule in einem Land ihrer Sehnsucht aufgemacht. Oder sie sind Biobauern geworden“, antwortete sie mit einem energischen Unterton, „eine Bitte habe ich an dich …“ „Was?“ „Keine weiten Schlaghosen und Plüschhemd. Der Look der Siebziger, der überkandidelte Trompetenlook sind out, mein Lieber! Kein Machogürtel und bombastischen Diamantringe. Jeans und T Shirt reichen vollkommen. Das Open Air Konzert an diesem Nachmittag ist eine Spende der hiesigen Banken. Eine Art Gratisveranstaltung für die armen Schlucker dieser Stadt.“ Aaron schluckte benommen. Neugierig blickte er auf Marthas Notebook. Die Frau schob das Gerät in seine Reichweite. „Eine Maustaste? Oh, allmächtiger Google! Aber das Wichtigste im Leben sind in der Tat genug Mäuse“, lachte er, „das ist einfacher als Klavierspielen ohne Noten.“ Er tippte das Stichwort >Herzoperation<. Sogleich flackerten Fotos von Herzkatheder und Bypass über den Bildschirm. „So etwas gab es damals noch nicht“, murmelte er leise. „Hast du deine Frau eigentlich gut behandelt, Aaron?“ „Sprichst du von Priscilla? Nein. Niemand konnte sich in meiner Nähe entwickeln.“ Der Mann googelte seinen eigenen Namen. Ein Bild, das auftauchte, zeigte ihn in einem prinzenhaften, königsblauem Frack. Neben dem amerikanischen Präsidenten Richard Nixon stehend. „Dem habe ich eine Waffe geschenkt“, bemerkte er nicht ohne Stolz. „Waffenbesitz und mögliche Gewalt sind ein Urübel der amerikanischen Gesellschaft“, entgegnete Martha barsch. Zögernd setzte der Musiker einen Link auf ein verheissungsfreudiges Kurzvideo. Auf einem Klo sang ein unansehnlicher, fettleibiger Unbekannter: „Because I’m a tramp I had to die. People I had taken too many of these damned pills and drugs. We’re caught in a trap and I can‘t walk out. We can‘ go together and build our dreams on suspicious minds.“ „Was für ein Abgang!“, schluchzte Aaron.
Das Paar stieg in einen cremefarbenen Mercedes sintflutzeitlichen Baujahres ein. „In diesem Oldtimer werden wir bestimmt nicht auffallen“, witzelte Martha, „die Therapie in der Einsamkeit der Rocky Mountains hat dir gut getan. Um zweidutzend Kilos an Leibfett bist du inzwischen erleichtert. Das ist schön! Nur umgezogen - wie von mir gewünscht - hast du dich nicht.“ Trotzig setzte der Mann eine Schmetterlingsbrille auf. „Mein Markenzeichen! Warum rechnet mir niemand an, dass sich die Frauen mittels meiner Musik, durch ihr hysterisches Gekreische ihrer eigenen Sexualität, der eigenen Lust bewusst geworden sind?“, klagte er. Der Mercedes fuhr gemächlich durch die mit Notenspielereien verzierte Gartenpforte auf den Boulevard. Plötzlich schrie Aaron auf. „Sieh‘ doch! Dort steht mein Flugzeug. Es trägt noch immer den Namenszug meiner Tochter.“ Der Mann krümmte sich vor Schmerz. „Sofort anhalten, Martha! Ich muss Lisa anrufen“, brüllte er ungehalten. „Gedulde dich!“, versuchte die Malerin den Sänger zu beschwichtigen, „dein Flugzeug ist nur ein Magnet,