Noch zu Tageslichtzeiten erreichte das Gefährt Weimar. Wenige Schritte waren es, um das Hotel Elefant zu erreichen, in welchem Dr. Gerresheimer ein gut gelegenes, ruhiges Zimmer mieten konnte. Auf Befragen war von ihm zu hören, dass er voraussichtlich zwei Nächte bleiben werde. Um sechs Uhr am Abend traf er im Eingangsraum des Hotels Hofrat Meyer. Dr. Gerresheimer hatte sich in einen dunklen Anzug gekleidet mit einem schwarzen Halstuch auf einem blütenweißen Hemd, dessen Fasson erneut dem Hofrat als ungewohnt auffiel. Behänden Schrittes erreichten sie das Stadtschloss, dem noch weitere, gut gekleidete Menschen zueilten. Der Bedienstete am Eingang grüßte mit Ehrerbietung Hofrat Meyer, seinem Begleiter wurde ohne jegliche Anmerkung der Zutritt gestattet.
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Der große Festsaal war hell erleuchtet. Die Anwesenden, durchwegs in Festkleidung, in Fracks gekleidet, hatten sich in kleinen Gesprächsgruppen zusammen gefunden. Bedienstete reichten Getränke. Hofrat Meyer begrüßte mit deutlicher Betonung Herrn Eckermann, der seit kurzer Zeit im Hause am Frauenplan viel Zeit mit Geheimrat Goethe verbrachte. Er stellte Dr. Gerresheimer vor mit der Bemerkung, dass dieser mit ihm zusammen heute in Weimar eingetroffen sei. Der Wunsch dieses Mitreisenden aus Frankfurt am Main gehe darauf hinaus, dass er eine Botschaft Herrn von Goethe überbringen solle von dessen Hochschullehrer, Professor Bergler. Die angenehme Reiseatmosphäre, die sich auf der Fahrt von Gotha nach Weimar herausgebildet habe, sei Anlass für ihn, Hofrat Meyer, die Bitte von Dr. Gerresheim nach einem Kontakt zum Geheimrat zu unterstützen „Ich bitte auch Sie, Herr Eckermann, das Ihre zu tun, dass unser Besucher Gelegenheit erhält, den Herrn Staatsminister derart zu sprechen, dass er seinen Auftrag ausführen kann.“ Herr Eckermann erklärte sich gern bereit, behilflich zu sein, er werde versuchen, bei dieser Zusammenkunft jetzt Herrn Dr. Gerresheim Herrn von Goethe vorzustellen. Sinnvoll werde dies aber erst sein, wenn der Großherzog seine vorgesehene Adresse an den Jubilar gerichtet habe.
Dies geschah alsbald. Alle Anwesenden spürten deutlich, dass der Großherzog nicht sich einer seiner vielen Pflichten entledigte, er war sich der Bedeutung dieses Tages sehr gewiss, voller Erinnerungen, voller Emotionen. Es war eine kurze Rede. Er verwies auf die treue Anhänglichkeit des Jubilars, seine Dienstleistungen für das Großherzogtum und das Gemeinwesen und auf die besonderen Beziehungen zwischen ihm, dem Souverän und seinem Staatsminister und unterstrich, dass es sich um eine ungewöhnliche Beziehung handele, die als Freundschaft zu bezeichnen er sich nicht scheue, sondern sich rühme. Dieser Beziehung verdanke er . „den glücklichen Erfolg der wichtigsten Unternehmungen meiner Regentschaft“. Das Auditorium nahm die Worte Carl Augusts mit erkennbarer Anteilnahme, ja mit Hochachtung dem Sprechendem gegenüber zur Kenntnis.
Die Atmosphäre lockerte sich spürbar. Nicht in einem förmlichen Defilee, eher spontan und ungezwungen wandten sich die Gäste dem Jubilar zu, um mit einigen persönlichen Worten an die lange Wohndauer in Weimar zu erinnern. Dabei konnte nicht ausbleiben, dass Ereignisse erwähnt wurden aus den fünf Jahrzehnten, an welche sich die Gratulanten als besondere Ereignisse im besonderem Maße erinnerten. Die Unterhaltung mit Hofrat Meyer allerdings verlief anders. Der Staatsminister fragte unverzüglich, wie es um das in Gotha befindliche Bild des Niederländers bestellt sei. Würde eine Chance bestehen, diesen Breughel für Weimar zu erwerben. Hofrat Meyer konnte keine allzu große Hoffnung erkennen „ Mir scheint, dass man in Gotha sehr stolz auf diesen Erwerb ist, in Schloss Friedenstein wird vordringlich darüber gesprochen, in welchem Raum, in welcher Hängung dieses Bild angebracht werden soll. Ob der Großherzog in einem direkten Kontakt mit seinem Dresdner Nachbar-Regenten einen Erwerb erreichen kann, dürfte zweifelhaft sein. Wenn der Großherzog dies versuchen würde, es wäre wünschenswert. Auch darf ich einen aus Frankfurt am Main in Weimar eingetroffenen Besucher vorstellen. Dr. Gerresheimer ist heute eingetroffen und bittet um ein Gespräch, um eine Botschaft aus Ihrer Heimatstadt zu überbringen.“ Der Angesprochene wandte sich dem Gast aus Frankfurt zu, schaute ihn aufmerksam an. „Welch eine Freude, einen Bürger Frankfurts gerade an diesem Abend hier zu sehen. Und wirklich, vor 50 Jahren verließ ich die Mainstadt zur Reise nach Weimar. Wenn man es genauer betrachtet, mein Aufenthalt als Bewohner in Weimar ist doppelt so, lang wie - lässt man die Studienjahre außer Ansatz - als das Wohnen in der Geburtsstadt. Hier bei der großen Anzahl der Anwesenden gibt es wenig Raum, miteinander zu sprechen. Wenn Sie mich morgen Vormittag aufsuchen wollen, Sie sind mir willkommen.“ Dr. Gerresheimer war sehr angetan davon, am kommenden Tag, möglichst unter vier Augen, mit dem Herrn Staatsminister zu sprechen.
Der Großherzog selbst hatte sich der Tischordnung angenommen, um sicher zu stellen, dass an der langen Tafel jene Gäste möglichst zusammen saßen, die miteinander sprechen würden. Es wurde ein vorzügliches Mahl serviert, sämtliche Weine, sowohl die der Unstrut als die vom Rhein waren edle Getränke, die rundum als außerordentlich empfunden wurden. Da bereits am Festbeginn der Großherzog und der Jubilar – dieser mit einer kurzen, aber ebenso emotional geprägten Dankadresse – sich geäußert hatten, gab es keine Tischreden. Es wurde ein gelungenes Fest. Nahezu alle Teilnehmer äußerten sich beim Verlassen des Stadtschlosses überaus lobend. Dr. Gerresheimer, der dem Wein nur mäßig zugesprochen hatte, suchte das Hotel auf, zog sich in seinen Raum zurück, um nachzudenken darüber, wie er am kommenden Morgen dem Geheimrat am gefälligsten seine Botschaft vortragen könne.
Zu angemessener Zeit betrat der Besucher aus Frankfurt das Haus am Frauenplan und wurde sogleich in das Arbeitszimmer des Hausherrn geführt. Dort traf er Goethe und Hofrat Meyer, die sich in lebhaftem Gespräch befanden. Dr. Gerresheimer erwies beiden seine Reverenz und erklärte, dass er sowohl im Auftrage des Magistrats der Stadt Frankfurt am Main als auch im Auftrage von Professor Bergler gekommen sei, um Herrn von Goethe einzuladen, einen Blick in seine Stadt zu werfen, wie sie sich in 180, 190, 200 Jahren darstelle. Er sei ermächtigt, den Herrn Geheimrat zu bitten, am kommenden Morgen sich bereit zu halten, um in einem Fahrzeug des 21. Jahrhunderts eine ca. einstündigen Reise von Weimar nach Frankfurt zu unternehmen. Herr Hofrat Meyer sei ebenfalls geladen, an dieser Reise teilzunehmen. Die Reise werde unternommen in einem Luftfahrzeug, das am nächsten Morgen ca. 9 Uhr hier in Weimar eintreffen werde. Er, der Frankfurter Bote, sei ein Mensch des 21. Jahrhunderts, er halte sich für fähig, einem Bewohner Weimars aus dem 19. Jahrhundert zu versuchen darzustellen was sich zwischen dem Jahr 1825 und heute verändert habe. Er wisse sehr wohl, dass dies eine überaus schwierige Aufgabe sei um zu versuchen, dem Bewohner einer Stadt wie Weimar zu erklären, wie das Leben in einer modernen Großstadt sich darstellt, wie dies Frankfurt heute ist. Es werde aber dafür gesorgt sein, dass alle Fragen, die der Herr Geheimrat äußern werde, in kürzester Zeit beantwortet werden würden. Falls Herr von Goethe einen persönlichen Bediensteten für diese Reise glaube zu benötigen, so sei eine Mitreise natürlich möglich, es gebe jedoch in Frankfurt jeglichen Service, ein hiesiger Bediensteter sei insofern nicht zwingend erforderlich.
„Wie mag eine derartige Reise möglich sein?“ Herr von Goethe zeigte sich überaus irritiert. Welche Menschen werde er in Frankfurt sehen und sprechen. Er könne sich noch sehr gut an seinen letzten Aufenthalt in seiner Heimatstadt vor 10 Jahren erinnern, der mit mancherlei besonderen Erinnerungen verknüpft sei. Vor allem die längeren Aufenthalte seiner Zeit in der Gerbermühle bei der Familie von Willemer sind von vielfältiger