Johannes B. Heimensteiner
Ein fünfzigjähriges Jubiläum in Weimar
Johannes B. Heimensteiner
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
Copyright: © 2014 Johannes B. Heimensteiner
ISBN 978-3-7375-0866-7
Konvertierung: Sabine Abels / www.e-book-erstellung.de
In Radioberichten, in Tageszeitungen, im Fernsehen wird berichtet fast zeitgleich – was hier und in der großen Welt geschieht. Aber weiß man dies wirklich? Oder ist das, was wir lesen, hören, sehen das, was der Überbringer der News für berichtenswert hält?
Auf vielen Bücherseiten wurde und wird berichtet, was in der Vergangenheit geschah. Vielleicht ist unsere Kenntnis über Historisches präziser als über das derzeitige Geschehen.
Und immer plagt den Menschen die Frage – und zwar vorwiegend dann, wenn er sich einmal aus der heutigen Informationsflut ausblendet – wie wird zu leben sein in 100, 150, 200 Jahren. Welche Gerätschaften, welche Nahrungsmittel, welche Wohnformen, welche Reisemöglichkeiten stehen bereit. Woran erfreuen sich zukünftige Menschen, was haben sie für Vorstellungen, für Wünsche, für Ziele.
Welch eine Freude würde es sein, wir könnten einen klaren Blick in diese Zukunft richten. Maschinenbauer, Erfinder, Zukunftsforscher können sagen, was alsbald, in naher Zukunft, und – eingeschränkt – in ferner Zukunft technisch möglich sein wird.
Indessen hatten die Menschen in diesem Lande auch vor 150 oder 200 Jahren vermutlich in gleicher Weise ihre Wünsche – was den Blick in die Zukunft anbelangt.
Was wäre, wenn einem Bewohner der deutschen Lande Anfang des 19. Jahrhunderts ein genauer Blick in die heutige Gegenwart möglich gewesen wäre.
Was wäre, wenn 1825 ein berühmter Bewohner Weimars seine Vaterstadt Frankfurt am Main, wie sie heute sich darstellt, sehen und besuchen würde.
Was wären die Erlebnisse, die Beobachtungen des Weimarer Geheimrats von Goethe bei einem Aufenthalt in dieser Mainstadt heute - und vielleicht – bei einem Kurzbesuch in Italien
Es sei versucht, sich dies vorzustellen.
I
Reise nach Frankfurt am Main
- 1 -
Der November dieses Jahres 1825 entsprach seinem Ruf, ein grässlicher Monat zu sein. Der goldene Oktober verwöhnt – zuweilen – mit warmen Tagen, mit heller Sonne, mit Farben des Laubes, wie sie niemals ein Maler erschaffen kann. Alle Früchte sind geerntet, die Luft ist nahezu unbewegt, Ruhe und Stille breiten sich aus. Nur das Rauschen der Blätter, die auf die Wege herabgefallen sind, erreicht das Ohr des Passanten oder des Wanderers. Die Vögel sind verstummt, sie wissen, eine harte Zeit wird kommen.
Auch in der Haupt- und Residenzstadt Weimar des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach hatte der Oktober des Jahres 1825 seine Panoramen entfaltet. Sowohl im Park an der Ilm als auch in der Belvederer Allee und im Park des Schlosses Belvedere türmte sich das bunte Laub. Aber bereits am Ende des Monats Oktober war von der Licht – und Farbfülle kaum eine Spur mehr zu erkennen. Ein länger andauernder Regen, nicht heftig aber ständig über mehrere Tage hatte das form- und farbenprächtige Laub mehr und mehr zerrinnen lassen. Ein Drehen des Windes von West auf Nordost in beträchtlicher Heftigkeit hatte überdies nahezu das gesamte Blattwerk, das sich noch an den Bäumen und Sträuchern befunden hatte, von den Ästen und Zweigen gelöst und in alle Winde zerstreut. Diese Witterung mit Regen, Wind, sich verringernden Temperaturen setzte sich im November fort, Tag um Tag. Erste Schneeflocken mischten sich gelegentlich in den Regen. Sonnenschein, Wärme, Farben in Gärten und Wäldern, alles dies waren lediglich Erinnerungen, Hoffnungen.
Von Eisenach kommend, erreichte der Postwagen seinen Halt in Gotha. Im Wagen reiste lediglich ein Fahrgast, der des kühlen Wetters wegen einen festgeschlossenen, glatten Stoffmantel trug. Die Hände hatte er in die Manteltaschen tief versenkt und einen Eckplatz eingenommen. Über die Knie bis zur Brust reichend hatte sich dieser Reisende ein wärmendes Plaid gebreitet. Selbst die Füße waren hiermit teilweise bedeckt. Überraschenderweise war er ohne Kopfbedeckung. Mütze, Hut, Zylinder waren nirgends zu sehen. Dieser junge Mensch, mit glatter Frisur, bartlos, reiste barhäuptig. An der Haltestelle Gotha verblieb dieser Fahrgast im Wagen. Der Kutscher hatte vermerkt, dass der Pferdewechsel nur kurze Zeit in Anspruch nehmen würde, ein weiterer Fahrgast werde hier zusteigen und ebenfalls bis Weimar reisen. Gerade dieser Gast habe Wert darauf gelegt, dass unverzüglich die Reise weitergehe, er müsse zwingend bis zum frühen, spätestens mittleren Nachmittag in Weimar sein. Dieser Mitreisende trat hinzu, der Kutscher öffnete beflissen die Tür des Reisewagens. Der Mitreisende war ein älterer Herr, eine soignierte Erscheinung, eingehüllt in einen dunklen Mantel mit üppigem Schalkragen. Beim Einsteigen nahm er seinen glänzenden Zylinder vom Kopf und entbot dem Gast in der Kutsche einen kurzen, freundlichen Gruß. Sogleich setzte sich das Gefährt in Bewegung und nahm Fahrt auf.
Mit Ausnahme des Grußes der beiden Fahrgäste gab es zunächst keinen Gesprächskontakt miteinander. Allerdings, in einer Kutsche auf einen engen Raum angewiesen, konnte nicht ausbleiben, dass beide einander sehen mussten. Sie taten dies auch, legten es aber darauf an, das gegenseitige Betrachten möglichst unverbindlich erscheinen zu lassen. Die Blicke aus den Wagenfenstern zu beiden Seiten der Kutsche gaben immer Gelegenheit, den Miteisenden unauffällig zu sehen, zu beobachten. Der ältere der beiden Reisenden war erstaunt darüber, dass der jüngere Fahrgast keine Stiefel trug, sondern schwarze Halbschuhe mit fester, kräftiger Sohle, die mit Bändern auf der Oberseite der Schuhe, durch Ösen geführt, befestigt waren und deutlichen Glanz aufwiesen. Derartige Schuhe waren dem Beobachter bislang nirgends begegnet. Auch erschien ihm der Schnitt des festen Tuchmantels ungewohnt und insbesondere ein schmaler Kragen fiel auf. Anstelle eines Schalkragens, den man hierorts aus modischen und Zweckmäßigkeitsgründen trug, um Hals, Mund und Nase vor Witterung und Kälte zu schützen, handelte es sich hier um eine der Nackenlinie angepasste Kragenform. Dem Schutze vor Halserkältungen war ein gesonderter Schal um den Hals gelegt, der ein wenig anders gefärbt mit der Farbe des Stoffmantels jedoch angenehm harmonierte.
Die Reisegeschwindigkeit hatte sich ein wenig erhöht. Vermutlich war es nur eine geringfügige Unebenheit, die aber ausreichte, um die Kutsche in ein plötzliches, recht spürbares Schwanken zu versetzen. Nur mit einigem Bemühen war es dem jüngeren Reisenden gelungen, in seinem Sitzplatze sich zu halten, fast wäre er gegen den gegenüber Sitzenden gestoßen. Da seine Beine versuchten, Halt zu finden, war der ältere Reisende leicht von den Schuhspitzen des jüngeren berührt worden. Dieses kleine Malheur war Auslöser für Gespräch und Austausch. „Wann werden wir voraussichtlich in Weimar sein. Ich komme von Frankfurt am Main mit einem besonderen Auftrag, den ich in Weimar zu erfüllen suche. Mein Name ist Dr. Gerresheimer.“ „Nun, wir werden, normale Straßen- und Witterungsverhältnisse vorausgesetzt, voraussichtlich am späteren Nachmittag in Weimar eintreffen. In Erfurt ist erneut Halt und Pferdewechsel. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Halt in Erfurt ebenso nur kurze Zeit in Anspruch nehmen wird wie der Pferdewechsel in Gotha. Mein Name ist Meyer, ich leite die Bildersammlung des Großherzogs und bin auch Berater in mancherlei Fragen des Geheimrats von Goethe, der im übrigen heute ein ungewöhnliches Jubiläum begeht.“ „ Welch ein Zufall; gerade dieses Jubiläum ist der Anlass meiner Reise nach Weimar. Meine Promotion bei Professor Bergler in Frankfurt am Main ist kürzlich abgeschlossen. Die Dissertation befasste sich mit den Büchern 1 und 2 von Dichtung und Wahrheit. Unzweifelhaft nach mehr als zweijähriger Arbeit an diesen Texten wäre die Begegnung mit dem Autor etwas Außerordentliches. Ich empfände es als eine Gnade, dem berühmten Verfasser begegnen zu dürfen und insbesondere dann, wenn der Herr Staatminister mit mir sprechen