Jetzt erst bemerkt er mich und zuckt unwillkürlich mit den Schultern. Ich weiß nicht, ob ich lächeln soll. Ich schaffe es, keine Miene zu verziehen und so neutral, wie es mir in der peinlichen Situation möglich ist, dazustehen.
»Sie hat es verdient«, sagt er, als er mir in die Augen sieht und ich ihn näher betrachte.
Die dunkelbraunen Locken stehen ihm zerzaust vom Kopf ab. Er hat eine hübsche Nase, ein kantiges Kinn, nette Augen. Er ist jung. Vielleicht Mitte Zwanzig.
Er steht vor mir in dunklen, gepflegten Lederschuhen und in einem schwarzen Designeranzug, der sehr teuer aussieht und perfekt seine schlanke Figur und seinen Hintern in Szene setzt. Er sieht sexy, cool und schön aus.
»Wenn sie nicht bekommt, was sie will, wird sie zum Tier«, sagt er beiläufig und legt den Kopf dabei leicht schräg, so wie es Jagdhunde tun, wenn sie etwas von der Beute abhaben wollen. Er hat eine schöne Stimmfarbe. So eine, um den Kopf in seinen Schoß zu legen und sich stundenlang eine Geschichte vorlesen zu lassen.
»Sonst ist sie ganz okay. Sie hat noch nie jemandem die Kehle aufgeschlitzt«, fügt er hinzu, als ich nicht reagiere.
»Ich habe dich hier noch nie gesehen. Hast du dich verlaufen?« So sehe ich für ihn aus. Verlaufen? Und beim Du ist er auch schon.
»Hallo? Ich habe dich etwas gefragt. Sprechen kannst du doch, das hast du ja schon unter Beweis gestellt.«
»Mich? Ja, ähm, nein«, stolpere ich über meine eigenen Worte. Ich bringe ihn zum Lächeln. Ein süßes, charmantes Lächeln.
»Was denn nun? Doch Verlaufen?«, schmunzelt er.
»Nein, ich bin schon richtig hier. Es ist mein erster Tag«, sage ich. »Ich geh dann mal weiter.«
Der Gang ist nicht besonders breit und der junge Mann macht auch nicht besonders viel Platz. Ich muss mich quer zu ihm stellen, um mich ohne Körperkontakt an ihm vorbei zu quetschen.
»Ich bin Alexander.«
»Und ich Frau Engel«, höre ich mich prompt sagen und kann nicht fassen, dass ich das wirklich gesagt habe. Er sieht mich an, als hätte ich plötzlich Ebola oder eine andere ansteckende Krankheit und setzt sich in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung.
Okay, kein Essen in der Mensa mit Alexander, überlege ich verstört und bin verwundert, wie mich dieser Mann so schnell verunsichern konnte. Ich gehe, ohne ein weiteres Wort, weiter und stehe vor Gate 13.
Gate?
Was für eine seltsame Beschreibung für ein Büro. Ich klopfe an. Nichts geschieht.
Ich klopfe nochmal. Wieder nichts.
Ich blicke auf meine Uhr, bin 16 Minuten zu spät dran und das, obwohl ich pünktlich das riesige Privatgelände des Instituts erreicht habe. Auf meinen Käfer ist eben Verlass.
Aber ich konnte nicht ahnen, dass alles hier so riesig ist und das Institut Türen hat, für die man erst einmal studiert haben muss, bevor man ihren Mechanismus versteht. Plötzlich höre ich eine melodische Stimme vom anderen Ende des Gangs.
»Mit mir willst du nicht reden. Jetzt ist mir klar warum«, höre ich Alexander. Er ist noch da?
»Du scheinst dich ja prächtig mit Türen unterhalten zu können.« Er ist immer noch beim Du. Aber schlimmer ist, dass ich tatsächlich ein Selbstgespräch geführt habe, obwohl ich mir das schon lange abgewöhnen wollte.
Aber für dich bin ich immer noch Frau Engel. Dieses Mal höre ich meine Stimme nicht. Gott sei Dank.
»Wie geht die Tür auf?«, höre ich mich stattdessen fragen.
Alexander sagt nichts, schenkt mir stattdessen ein gemeines Grinsen.
Fieser Kerl. Ich überlege und dann zeige ich ihm meinen Daumen. Dann schmunzle ich, weil das die Lösung ist. Endlich, ich habe es nicht verlernt, wie man lächelt. Als Antwort erhalte ich einen Daumen nach oben von Alexander, dann verschwindet er wirklich hinter einer der anderen Glastüren. So bei Gate 7 oder 8, schätze ich.
Aeia - Professor Meusburger
Die Tür öffnet sich automatisch und zischt dabei wie eine Schleuse aus einem Science Fiction Film.
Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet. Vielleicht ein modern eingerichtetes Büro mit einem beeindruckenden Schreibtisch, hinter dem Ronan Meusburger, mein Chef, sitzen würde. Oder ein Labor mit einer sündhaft teuren, technischen Ausstattung, wie die an der Universität, nur viel besser.
Vielleicht haben mir auch die ersten Eindrücke des Anwesens, der Sportwagen, Lu, Eve und der teure Anzug von Alexander, eine außergewöhnliche Vorstellung meines zukünftigen Arbeitsplatzes suggeriert.
Aber Moment mal, außergewöhnlich ist es hier. Ich habe noch nie zuvor ein solches Chaos gesehen.
Selbst das, aus allen Nähten platzende, Archiv an der Uni, ist im Vergleich hierzu super ordentlich.
Meine Augen huschen reflexartig hin und her, verzweifelt auf der Suche nach einem Ruhepunkt.
Regale, bis zur Decke voll mit Papier, Büchern, Ordnern, sind als Raumteiler aufgestellt und lassen schmale Gassen entstehen. Dazwischen kann man sich bewegen, wenn man keine Angst hat, von einem fünf Kilo Wälzer erschlagen zu werden, der bedrohlich weit aus der obersten Regalreihe ragt.
Hier und da steht ein kleiner dreibeiniger Tisch, der entweder überquillt mit Landkarten, auf denen mit einer unleserlichen Handschrift etwas Wildes draufgekritzelt ist, oder mit aufgeschlagenen Büchern.
Die Tür zischt hinter mir zurück ins Schloss und ich wage es, ein paar Schritte tiefer in das Gate 13 einzudringen. Ich bin nicht abergläubisch, aber irgendwie macht mich die 13 nervös.
Über mir, in drei Metern Höhe, hängt eine Glühbirne ohne Schirm an der Decke. Die einzige Beleuchtung, die ich ausmachen kann. Ich hebe meinen Fuß, um über ein paar, am Boden verstreute, Aktennotizen zu steigen.
»Herr Meusburger sind sie hier?«, frage ich in die ausgefüllte Leere hinein. Der Raum ist viel größer, als ich bisher angenommen habe. Die Bücherregale sind nicht nur Raumteiler, sondern entpuppen sich nach kurzer Zeit als ein verwinkeltes Labyrinth.
Ich entdecke noch mehr russische Kronleuchter und biege an Abzweigungen ab, die überall vor mir aus dem Nichts auftauchen. Hoffentlich finde ich hier wieder hinaus, um mich zum Mittagessen mit Lu zu treffen. Die wird Augen machen, wenn ich ihr von Gate 13 erzähle.
»Von was?«
Ich erschrecke zu Tode, quietsche und hechte einen halben Meter hinter ein Bücherregal. Mein Gott, ich bekomme einen abartigen Schreck. Hinter mir steht plötzlich ein grauhaariger, kleiner Mann.
Er sieht aus, wie man sich einen verrückten Professor vorstellt. Auf den zweiten Blick ist er gar nicht so klein. Tatsächlich ist er genauso groß wie ich. Er kommt mir so nahe, bis ich ihn riechen kann. Der Geruch kommt mir bekannt vor, aber mir fällt nicht ein, woher ich ihn kenne.
Ich schaue in sein argwöhnisches Gesicht und habe den dringenden Verdacht, dass ich schon wieder laut gedacht habe. Ich studiere seine knorrige Nase, die struppigen Haare und die zusammengekniffenen Augen, von denen trotz der Skepsis, die seine ganze Erscheinung ausstrahlt, eine vertraute Wärme ausgeht. Und dann erinnere ich mich plötzlich, nach was er riecht.
Nach Papier.
Er riecht wie ein Buch. Kein altes, vermodertes, sondern wie ein neues, ungelesenes.
Angenehm, frisch und spannend.
»Sind sie Professor Meusburger?«
Er bewegt seine Oberlippe vor und zurück, dann öffnet sich sein Mund, um etwas zu sagen: »Ich habe doch schon notiert, dass wir keine Putzfrau benötigen. Was bilden die sich nur ein? Sieht es hier etwa aus, als müsste jemand