„Ich wollte nur wissen, wie ich mich zu verhalten habe und wie die Aktivitäten hinter meinem Rücken zu deuten sind“ entgegnete ich und verabschiedete mich mit den besten Wünschen fürs Wochenende.
Nun hatte ich es aus berufenem Munde erfahren. Ich sitze nur so lange im Sattel, bis man einen fachlich gleichwertigen Ersatz gefunden hat, der auch die ideologischen Voraussetzungen der Parteimitgliedschaft erfüllt. Erst dann wird der Forderung nach ideologischer Besetzung, im Sinne einer Gewährleistung der führenden Rolle der Partei in allen Institutionen und Abteilungen, Rechnung getragen und der Makel, dass ein Leitungsmitglied sich offiziell gegen die allgemeine parteiliche Richtlinie wendete, getilgt. Erst dann ist die Gefahr einer Kettenreaktion für den Betrieb gebannt.
Einige Genossen, auch in Leitungsfunktionen der Werften tätig, beobachteten derzeit sehr genau den Lauf der Dinge und zogen Schlussfolgerungen für ihre persönlichen Verhaltensweisen, duckmäusern oder aufbegehren war die Frage, so wie meine eigenen Konsequenzen bereits in diesem Verlauf in meinem Innern vorprogrammiert wurden.
Die Entscheidung ist gefallen
Für Gabi hatte es geklappt. Sie war in Westberlin.
Ihre sehr kranke Mutter, meine Schwiegermutter, Oma Grete genannt, feierte Ende September ihren neunundsiebzigsten Geburtstag. Während im Vorjahr nur fünf Besuchstage gewährt wurden, war man diesmal großzügiger. Es wurden entsprechend der Antragstellung sieben Tage Besuchserlaubnis erteilt.
Gabi wollte anfangs nur fünf Tage beantragen, weil sie uns nicht so lange allein lassen wollte, aber unser Zureden half. Es wurden pro Tag zehn D-Mark Bewegungsgeld zum Tausch 1:1 bewilligt. Der Höchstsatz war auf 70,- DM begrenzt. Schwiegermutter hatte schon genug Geld beim Zwangsumtausch während ihrer Besuche in die Staatskasse eingezahlt, da wäre es dumm, etwas zu verschenken. Die Besuchszeit verkürzen kann man persönlich immer – umgekehrt klappt es nur bei schwerer Erkrankung.
Die Antragstellung zum Verwandtenbesuch war wieder zu physischer und psychischer Marter ausgeartet.
Infolge der ‚toleranten Regelungen‘ in den praktizierten Reisebeschränkungen für DDR - Bürger, leider ohne gesetzlichen Rückhalt aber international zugestanden, mussten zusätzliche Anlaufstellen für die Bearbeitung der vermehrten Anträge von der Volkspolizei eröffnet werden.
Für Köpenick wurde in Schöneweide eine neue eingerichtet.
Gabi hatte sich rechtzeitig bei unserem zuständigen Polizeirevier erkundigt. Sie wurde für den 02.09.1986, dem Eröffnungsdatum, einbestellt.
Gegen 08:30 war sie vor Ort und wurde sogleich geschockt. Über hundert Menschen warteten bereits.
Ein restauriertes altes Wohnhaus war zu diesem Zweck hergerichtet worden, die Bearbeitung erfolgte in der dritten Etage.
Beide Warteräume präsentierten sich total überfüllt. Die lauwarme Luft infolge der geschlossenen, nicht zu öffnenden Fenster, war stickig. Die Riegel waren entfernt worden. Im Treppenhaus standen die Menschen dicht gedrängt bis zum Hauseingang.
Mit dieser Überraschung hatte wohl keiner gerechnet. Die Stimmung bei den Wartenden war entsprechend. Den Nagel auf den Kopf traf ein Uniformierter, als er auf die Bemerkung eines Antragstellers, der sich über die schlechte Organisation empörte, antwortete: „Wollen wir etwas von ihnen oder wollen sie etwas von uns?“
Eine Stimme aus den Massen antwortete:“ Das hätten wir beinahe vergessen!“
Verhaltenes Grienen bei allen, der offene Protest war vereinzelt. Ein jeder hatte wohl innerlich kochend geschluckt, denn es war eine bittere Tatsache, dass die Zustimmung zur begehrten Reise mit Hilfe eines Negativvermerks der Beamten zunichte gemacht werden konnte.
Nach dreistündiger Wartezeit tat sich etwas mehr in den Amtsstuben. Ein Polizist fragte, wer am nächsten Tag, dem allgemeinen Schließtag, wieder kommen könne. Offensichtlich störte auch die Organisatoren dieser Andrang.
Gabi ließ sich gleich für früh 08:00 Uhr eintragen.
Nicht jeder konnte das, denn bei den obligaten achtzehn Tagen Grundurlaub im Jahr macht sich jeder Tag, den man für derartige persönliche Angelegenheiten opfern muss, einschneidend bemerkbar. Hinzu kommt noch der Tag der Entscheidungsverkündung, drei Wochen später. Wieder müssen Stunden eingeplant werden um den Pass zu erhalten oder ein „leider“ zu hören.
Mittwoch, dem 03.09.86, war Gabi die Achte und wartete wieder eineinhalb Stunden. Hier erfuhr sie auch, dass am Vortage die letzten Antragsteller erst 23:30 Uhr die Polizeidienststelle verlassen hatten. Das war extrem, obwohl Wartezeiten von sechs bis acht Stunden keine Seltenheit darstellten.
Nach achtzehn Tagen und der üblichen Warteprozedur bekam Gabi ihren Pass. Gitta, Gabis Schwester, wurde wieder mit den Worten: “Sie wissen doch, wer ihnen das eingebrockt hat“, abgelehnt.
Michaela, eine ihrer Töchter, war 1984 offiziell mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern, auf der Grundlage eines Ausreiseantrages, nach Westberlin übergesiedelt.
Diesmal hatte Gabis Besuchserlaubnis einen höheren Stellenwert für uns.
In Westberlin angekommen, frischte Gabi alle Verbindungen die wir hatten persönlich auf. Über die Verwandten wurde auch die Verbindung zu einer Rechtsanwältin aufgenommen, die unseren Übersiedlungswunsch registrierte. In den sieben Tagen gab es so viel zu tun.
Es sollte eingekauft werden – Kleidung und Artikel, die hier in der DDR kaum erschwinglich oder gar nicht erhältlich waren, möglichst alle Verwandten besucht und viele Eindrücke gewonnen werden. Diesmal sollten auch die kulturellen Schönheiten nicht zu kurz kommen.
Aus Braunschweig sagten sich Rika, Klaus und Kinder zu einem Kurzbesuch in Westberlin an. Sie hatten 1982 die DDR verlassen. Ein Gedankenaustausch war für unsere Entscheidung äußerst wichtig. Als alte Freunde schwebten sie nicht belanglos im Raum, sie konnten uns über viele Dinge offen Aufschluss geben. Es ist ganz wichtig, dass man sich bei einem derartigen Vorhaben in totaler Übereinstimmung mit seinen inneren Emotionen, der Denkweise und der Handlung befindet. Es darf auch nicht der Bruchteil eines Zweifels von der Richtigkeit des Tuns übrig bleiben. Schließlich wollten wir Gabis Elternhaus aufgeben, uns unwiederbringlich von unserem Lebenswerk trennen.
Erst 1978 waren wir in das von uns total umgebaute und erweiterte Haus eingezogen. In jedem Stein, jeder Verkleidung jedem kunsthandwerklich gefertigten Ausrüstungsteil steckten Stunden persönlicher, schöpferischer Arbeit. Hier fühlten wir uns wohl und schalteten ab.
Jedoch kann das Leben nicht allein aus dem Verdrängen der Umwelt, dem Dasein in einem selbst gezimmerten ‚goldenen Käfig‘ bestehen. Nicht allein die materiellen Werte bestimmen die Lebensqualität. Für mich war auch von ausschlaggebender Bedeutung wie Gabi denkt. Sie musste ihren, von den Eltern vererbten Grund und Boden, aufgeben. Ich hatte meine innere totale Übereinstimmung bereits verbucht. Auch Gabi konnte jetzt im Ergebnis ihrer Besuche gleiches für sich finden.
Ein Problem tat sich mit Mandy auf, die seit dem Sommer 86 fest mit Sven liiert war. Ihren achtzehnten Geburtstag feierte sie im Januar 87. Sie sollte zum Schritt ihrer Eltern stehen.
Unsere Familie wird zusammenbleiben und fest zueinander stehen, auch wenn Unannehmlichkeiten und magere Jahre zu erwarten sind. Dieser Grundsatz musste über alles andere als oberstes Gebot gestellt werden.
Im Oktober nahm Gabi eine Arbeitsstelle an. Bisher war sie die letzten Jahre Hausfrau und Familienmanagerin. Als Damenmaßschneiderin hatte sie hin und wieder für einige Kunden privat gearbeitet. Die Freizeit, die sie dadurch gewann, kam unseren Kindern und der gesamten Familie zugute. Martin brauchte nicht in den Schulhort, das Haus und der Garten waren ständig in gutem Zustand und mich erwartete eine ausgeglichene Ehefrau, wenn ich abends heim kam. Nebenbei nähte Gabi noch für uns alle und ersparte dadurch so manche Kosten. Mit der Vorbereitung und Durchsetzung unseres Vorhabens musste sich auch hier etwas ändern.
Ich war mir im Klaren, dass ich nach Einreichen