Auf gute Nachbarschaft. Ben Worthmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ben Worthmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738096095
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Frühling stand kurz bevor, es war nicht mehr kalt, aber immer noch früh dunkel. Nina hatte ihr knappes Jogging-Dress angezogen. Er spürte ihren Atem, als sie sich kurz von hinten über ihn beugte, um ihm einen Kuss in die Halsbeuge zu drücken. Dann war sie auch schon zur Tür hinaus.

      Mehr als eineinhalb Stunden vergingen, ohne dass sie zurückkehrte. Er begann sich zu fragen, wo sie so lange blieb. Womöglich hatte sie unterwegs jemanden getroffen und war noch irgendwo eingekehrt. Sie neigte ja manchmal zu solchen plötzlichen Entschlüssen und konnte dann schon mal die Zeit vergessen. Er rief einige ihrer engeren Freundinnen an, alle waren zu Hause, niemand hatte an diesem Abend Kontakt zu ihr gehabt, auch Claudia nicht, ihre beste Freundin. Weitere Zeit verstrich, eine Stunde und mehr, ohne dass er später im Einzelnen hätte sagen können, was er getan hatte, um seine quälende Unruhe zu ertragen, die alles um ihn herum unwirklich erscheinen ließ.

      Irgendwann beschloss er, mit dem Fahrrad loszufahren, um Nina zu suchen. Aber als er es aus dem Keller holen wollte, wo es normalerweise stand, fand er es dort nicht. Er spürte kurz einen leichten Schwindel. Dann hastete er nach draußen und stellte fest, dass das Rad an der Hauswand lehnte.

      Langsam fuhr er Ninas gewohnte Laufstrecke ab. Sie führte am Rande des großen Parks ganz in der Nähe vorbei, der nicht nur aus Grünflächen, sondern teilweise auch aus dichtem Buschwerk und einem Waldareal bestand. Langsam fuhr er die Route ab. Keine Spur von Nina oder sonst jemandem. Auch in dem Restaurant am Rande des Parks war sie nicht.

      Er überlegte, ob er sofort zur Polizei gehen sollte. Aber das war wohl doch etwas voreilig. Vielleicht war Nina inzwischen ja wieder zu Hause. Als er die Wohnungstür aufschloss, hoffte er zu hören, wie das Wasser in der Dusche rauschte. Er rief ihren Namen. Nichts. Inzwischen war es weit nach Mitternacht und Ninas Aufbruch lag mehr als dreieinhalb Stunden zurück. Jan merkte, wie sich seine Unruhe in Wogen von Panik verwandelte, die ihn durchfluteten. Er führte noch ein paar weitere ergebnislose Telefonate. Dann hielt es ihn nicht länger zu Hause. Er stieg ins Auto und fuhr zur Polizei. Was man ihm dort sagte, machte ihn zornig, aber im Grunde hatte er so etwas erwartet: Für eine Vermisstenanzeige sei es noch viel zu früh, Nina Kronenburg sei schließlich eine erwachsene Frau in einem freien Land und Menschen kämen manchmal auf die sonderbarsten Ideen. Am besten gehe er wieder nach Hause und warte erst mal die Nacht ab. Die meisten Vermissten kehrten erfahrungsgemäß am nächsten Tag wohlbehalten zurück.

      Als einer der beiden Beamten schließlich noch meinte, oftmals glaube man einen Menschen ganz genau zu kennen, aber es gebe dann doch noch irgendetwas „oder eben auch irgendjemanden“, von dem man nichts wisse, musste Jan an sich halten, um nicht die Nerven zu verlieren. Eiskalte Idioten!, dachte er im Hinausgehen. Wahrscheinlich lachten sie jetzt über ihn.

      Er fuhr zurück zum Park, nahm seine Taschenlampe aus dem Auto mit und begann, die ganze Laufstrecke akribisch abzusuchen. Auch abseits des Pfades leuchtete er immer wieder ins Gebüsch. Dabei spielte es für ihn keine Rolle, ob das wirklich sinnvoll war, was er da tat. War es die Vorstellung, dass Nina gestürzt war, irgendwo lag und Hilfe brauchte, die ihn antrieb? Er wusste es selbst nicht.

      Besonders gründlich nahm er sich das Waldstück vor, wo es dichtes Unterholz gab. Und dort fand er sie.

      Der Schein seiner Lampe fiel auf den leicht gekrümmten, auf der Seite liegenden Körper. Dann auf das Gesicht, das schrecklich verzerrt war. Auf die Augen mit ihrem leeren Blick.

      Er sank neben ihr auf den Boden, ließ seinen Oberkörper über sie fallen und schrie.

      7.

      Jan war sich selbst ein Rätsel. Es irritierte und ängstigte ihn, dass die Vergangenheit ihn plötzlich wieder so fest im Griff hatte. Christina hatte ja so recht mit allem, was sie ihm an den Kopf geworfen hatte. Und trotzdem – er konnte sich doch nicht einfach schütteln wie ein nasser Hund und alles war dann wie immer.

      Tagsüber versank er oft in Grübeleien, im Büro, unterwegs, am Abendbrottisch mit der Familie. Und nachts kam wieder dieser Albtraum wie in früheren Jahren.

      Es war und blieb immer derselbe Traum. Jede Szene, jedes Detail wiederholte sich ohne die geringste Abweichung. Er stand mit Nina im Flur ihrer Wohnung, die Wandlampe neben dem Garderobenschrank leuchtete, es musste also Abend oder Nacht sein. Sie schrien einander an. Er ging immer näher auf sie zu, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stand. Ihre Augen waren vor Angst geweitet, sie stieß ihn gegen die Brust, versuchte ihn abzuwehren. Er streckte seine Arme nach vorn und presste die Handflächen gegen die Wand. Jetzt war sie gefangen, jetzt konnte sie ihm nicht mehr entkommen. Plötzlich duckte sich Nina, schlüpfte unter seinen Armen hindurch und rannte schreiend in Richtung Wohnungstür. Noch bevor sie diese erreicht hatte, war er hinter ihr, packte sie bei den Schultern und riss sie zu Boden.

      Dann wurde er wach, schweißnass und mit rasendem Herzschlag. Er wusste sich diesen Traum nicht zu erklären. Er erschien ihm so sinnlos, hatte nichts mit dem Leben zu tun, das er und Nina geführt hatten. Nie hatte es ernsthaften Streit zwischen ihnen gegeben, allenfalls harmlose Wortgefechte. Und niemals hatte er die Hand gegen sie erhoben oder hatte sie derart außer sich vor Angst gesehen.

      In den letzten Tagen war Christina deutlich auf Abstand gegangen. Sie kam ihm nicht mehr verärgert oder aggressiv vor, sondern eher vorsichtig und abwartend. Dabei war ihm durchaus klar, dass all seine Beschwichtigungsbemühungen bisher nichts gefruchtet hatten. Dazu kannte sie ihn zu gut. Er musste etwas unternehmen, so viel stand fest. Die Suche nach einem Therapeuten wollte er vorerst noch beiseite lassen. Zunächst musste er mit Andreas sprechen. Vielleicht konnte er ihn abends, wenn er von der Arbeit kam, abpassen und ihm dann die Fragen stellen, die ihn bewegten.

      Tatsache war, dass Ninas Mörder nie hatte gefasst werden können. Der lief noch immer unbehelligt durch die Welt, war vielleicht, wie er selbst, inzwischen ein Ehemann und Familienvater, hatte beruflich Karriere gemacht, wurde geschätzt als Kollege, Freund, Schwiegersohn. Jan hatte sich oft gefragt, wie jemand mit solch einer gewaltigen Schuld leben konnte. Aber die Menschen waren bisweilen erstaunliche Verdrängungskünstler. Psychologen würden vielleicht von Abspaltung reden, was wohl bedeutete, dass ein begangenes schweres Verbrechen irgendwann im Bewusstsein nicht mehr vorhanden war, ähnlich wie ein schlimmes Erlebnis, das nach und nach verdrängt werden konnte.

      In den zurückliegenden zehn Jahren hatte Jan, anders als in der ersten Zeit, nur noch in großen Zeitabständen bei der Kriminalpolizei nachgefragt, dreimal insgesamt, immer in der Hoffnung, dass es doch noch eine heiße Spur geben könnte. Aber es lagen keine neuen Erkenntnisse vor. Der Fall Nina Kronenberg war zu den Akten unter der Rubrik „Ungelöst“ gelegt worden, nachdem selbst Fahndungsaufrufe im Fernsehen erfolglos geblieben waren. Auch wenn die Aufklärungsquote bei keinem anderen Delikt so hoch war wie bei derartigen Kapitalverbrechen, gab es doch Morde wie diesen, die ungesühnt blieben und es bleiben mussten, weil es irgendwann einfach keinen Ermittlungsansatz mehr gab. Und hier hatte letzten Endes alles gefehlt. Es gab weder DNA-Spuren noch Zeugen noch ein Motiv, keine Zeichen von sexueller Gewalt.

      Nina war erwürgt worden. Von wem und weshalb, blieb ein Rätsel.

      Der Kriminalkommissar, der damals die Ermittlungen geleitet hatte und inzwischen in Pension gegangen war, hatte sich Jan gegenüber bis zum Schluss immer sehr verständnisvoll gezeigt. Wegen seines Schocks hatte Jan ein paar Tage im Krankenhaus behandelt werden müssen, aber natürlich war es ihm nicht erspart geblieben, von der Polizei befragt zu werden, genau wie Ninas Verwandte und Freunde. Er hatte das als kaum erträgliche Zumutung empfunden und das auch in heftigem Ton zu verstehen gegeben. Der Kommissar hatte ihm begütigend erklärt, dass diese Vernehmung unumgänglich sei und zur Routine gehöre, zumal er, Jan Hofmeister, sozusagen der engste Angehörige der getöteten Nina Kronenburg sei.

      Jan hatte Christina nie von seinen Nachfragen bei der Polizei erzählt. Er wollte ihr nicht wehtun, sie nicht beunruhigen. Sie war so voller Optimismus, so voller Lebensfreude. Und wenn sein seelisches Gleichgewicht von Zeit zu Zeit in Schräglage zu kippen drohte, war es die Gewissheit, Christina an seiner Seite zu haben, die ihn rasch wieder ins Lot brachte. Dafür