»Warum eine Gefahr?«
»Lukas ist seit heute Morgen mit ihr befreundet und ich weiß nicht, wo er sie kennengelernt hat.« Hermines Unterton bei dieser Erklärung klang fast ein bisschen genervt. Scheinbar war es für sie klar, dass eine neue Facebook-Freundschaft automatisch eine große Gefahr für ihre neue Beziehung, oder was auch immer das mit Lukas war, darstellte.
»Vielleicht ist sie eine neue Arbeitskollegin? Oder sie kennen sich schon ewig, nur waren sie bis jetzt nicht auf Facebook befreundet? Eine alte Schulfreundin? Oder vielleicht sogar eine Verwandte? Es gibt tausend Erklärungen, wer diese Frau sein könnte und ich denke es bringt nichts, wenn du dich deshalb verrückt machst. Frag ihn doch einfach, wer sie ist.«
Hermine sah sie entgeistert an. Ihn fragen? Charlie hatte heute scheinbar in der Witzkiste geschlafen. Dann wüsste Lukas ja, dass sie all seine Aktivitäten auf Facebook und auch auf den anderen Social-Media-Plattformen verfolgte. Damit würde sie sich als Stalkerin outen. Das fehlte ihr gerade noch. Kurz überlegte sie, ob sie vielleicht tatsächlich eine Stalkerin war und es sich nur nicht eingestehen wollte, ließ den Gedanken aber schnell wieder fallen und erklärte ihrer Freundin stattdessen, warum sie Lukas auf keinen Fall auf die blonde Frau ansprechen konnte. »Ich muss es selbst herausbekommen«, schloss sie ihre Erklärung.
Das war Charlie zu viel. Sie hatte keine Lust mehr auf dieses für sie sinnlose Cyber-Hin-und-Her. »Mir fällt gerade ein, dass ich in einer Stunde einen Arzttermin habe. Fast hätte ich es vergessen. Ich muss los!«
Mit diesen Worten sprang Charlie von ihrem Sessel auf, zahlte und verließ fluchtartig das Kaffeehaus. »Jetzt schon?«, fragte Hermine noch, aber das hörte ihre Freundin schon nicht mehr und Hermine starrte erneut auf ihr Mobiltelefon.
-2-
Als Charlie am nächsten Morgen aufwachte, hatte sie wieder einmal von Stefan geträumt. Im Traum waren sie glücklich gewesen, so wie früher. Manchmal fragte sie sich, warum sie das alles aufgegeben hatte. Im Sommer war sie sich noch sicher gewesen. Sie hatte Gregor kennengelernt und er hatte ihr gezeigt, wie unglücklich sie eigentlich war. Dennoch hatte sie es nicht geschafft, sich richtig in Gregor zu verlieben. Obwohl, vielleicht war sie sogar etwas verliebt gewesen. Bestimmt, denn sie hatte es geliebt mit ihm zu kuscheln, seine Hände auf ihrem Körper zu spüren. Als Gregor einen Schritt weiter gegangen war und aus dem zärtlichen Streicheln eine erotische Situation wurde, hatte Charlie einen Rückzieher gemacht. Es kam ihr falsch vor, mit ihm zu schlafen. Warum, das konnte sie sich selbst nicht erklären. Wahrscheinlich hatte sie immer noch zu viele Gefühle für Stefan gehabt und außerdem hatte sie sich Gregor als so etwas wie ihren besten Freund gewünscht. Allerdings erklärte das nicht, warum sie sich dann von Stefan getrennt hatte, als sie gemerkt hatte, dass ihr Gregor viel bedeutete.
Das war doch alles verrückt. Und was hatte sie nun davon? Sie hatte keinen der beiden mehr. Gregor war zu seiner Ex-Freundin zurückgegangen, als er merkte, dass Charlie abblockte. Dann war die ganze Situation auch noch herausgekommen und nun konnten sie gar keinen Kontakt mehr haben. Charlie vermisste ihn sehr. Und das fast jeden Tag.
Stefan vermisste sie allerdings auch. Aber sie wollte ihm nicht wieder wehtun. Sie verstand selbst nicht, warum sie nicht einmal glücklich mit ihm sein konnte. Immer wenn alles perfekt lief, traf sie jemand anderen, der sie ebenfalls interessierte.
Wie gern hätte sie über all das mit Hermine gesprochen. Sie wusste immer einen Rat. Oder fand zumindest tröstende Worte. Aber Hermine war in letzter Zeit nicht wirklich ansprechbar gewesen. Sie war zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt.
Das Klingeln ihres Handys riss Charlie aus ihren Gedanken.
»Hey Charlie, hast du Lust auf einen Kaffee? Ich dreh noch durch hier in der Arbeit. Meine Gedanken kreisen nur um Lukas und er antwortet mir einfach nicht. Und das, obwohl er schon drei Mal online war, seit ich ihm die letzte Nachricht geschrieben hab«, brach es aus Hermine hervor.
»Ja, klar. Treffen wir uns in einer halben Stunde im neuen Kaffeehaus in der Gumpendorferstraße. Ich kann mich ohnehin nicht auf die Arbeit konzentrieren. Ich habe wieder von Stefan geträumt. Er fehlt mir so.« Charlie schöpfte Hoffnung, dass sie dieses Mal auch ihre eigenen Sorgen loswerden konnte.
»Du Arme, das musst du mir unbedingt genauer erzählen. Bis gleich.«
Hermine saß schon an einem Tisch, als Charlie ins Kaffeehaus kam. Sie starrte - wie so oft in letzter Zeit - auf ihr Handy und ihre Finger machten Scroll-Bewegungen.
»Hallo!«, begrüßte Charlie ihre Freundin und nahm gegenüber von ihr Platz. Nach etwa zehn Sekunden seufzte Hermine laut und hob den Kopf. »Hey! Gut, dass du da bist!« Sie schenkte Charlie ein schwaches Lächeln und richtete ihren Blick dann wieder auf ihr Handy.
»Was schaust du denn?«, fragte Charlie mit gespieltem Interesse. Der Sarkasmus in ihrer Stimme fiel Hermine nicht auf, oder zumindest schenkte sie ihm keine Beachtung. »Ich checke gerade die weiblichen Freunde von Lukas auf Facebook. Sieh dir einmal die an! Kein Wunder, dass er mir nicht mehr antwortet, wenn er solche Mädels kennt.«
Charlie sah sich das Bild der brünetten jungen Frau an und überlegte kurz, ob sie sie schon einmal gesehen hatte. Sie war sich nicht sicher. Wahrscheinlich hatte Hermine ihr schon einmal ein Foto dieser Frau gezeigt. »Du hast doch bestimmt auch hübsche Männer unter deinen Facebook Freunden. Oder?«, gab sie zu bedenken.
»Ja, schon. Aber ich like nicht dauernd deren Bilder und schreibe auch nicht mit ihnen. Aber egal jetzt, du hast gesagt, dass du von Stefan geträumt hast. Wie geht´s dir?«
Ein warmes Gefühl machte sich in Charlies Magengegend breit. Sie war glücklich, dass ihre Freundin das Thema ansprach, und dann auch noch ganz von selbst.
»Ich bin nicht sicher, ob es richtig war, mich von Stefan zu trennen. Er fehlt mir so. Gleichzeitig fehlt mir Gregor aber auch. Vielleicht sogar noch mehr, weil ich weiß, dass ich mit ihm nie wieder richtig sprechen kann.«
»Hm, ich glaube …« Und da war es wieder, das leise Geräusch, das Charlie so hasste, und das anzeigte, dass Hermine eine Nachricht bekommen hatte.
»Warte kurz!«, sie entsperrte ihr Handy und nach ein paar Sekunden trat ein breites Lächeln auf Hermines Gesicht. Obwohl man ihr ansehen konnte, dass sie versuchte es zu unterdrücken. »Lukas hat mit geschrieben! Er schreibt, dass es ihm Leid tut, dass er nicht sofort geantwortet hat, aber in der Arbeit ist ihm immer wieder etwas dazwischen gekommen, so dass er seine Nachricht nicht fertig tippen konnte.« Charlie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee.
»Ich verstehe trotzdem nicht, warum er immer so viele Bilder von anderen Frauen liked. Ich poste jetzt schon jeden Tag irgendein Foto von mir, aber bis auf ein oder zwei Mal haben sie ihm noch nie gefallen.«
Charlie kannte sich viel zu wenig mit Facebook aus, sie versuchte es dennoch mit einem aufmunternden Satz, um die Laune ihrer Freundin zu verbessern. »Es wird doch sehr viel gepostet oder?«
»Ja, klar!«
»Kann es nicht sein, dass man da den ein oder anderen Post gar nicht mitbekommt?«
Hermine sah etwas verwirrt aus. »Ja, prinzipiell schon. Aber wenn mich jemand interessiert, dann schaue ich doch auf seine Wall, um eben genau keinen Post zu verpassen.«
Charlie verstand nicht genau, was ihre Freundin meinte, wollte aber auch nicht nachfragen, da ihr Interesse in Bezug auf Social Media nicht besonders groß war. Stattdessen machte sie nur »Mhm«.
Die Freundinnen saßen sich kurz schweigend gegenüber. Das war etwas, dass Charlie an ihrer Freundschaft mit Hermine liebte. Die beiden unterhielten sich oft und viel, aber manchmal saßen sie einfach nur da und jede dachte nach. Das Schweigen war nicht unangenehm. Momentan war es ihr sogar lieber als das Reden, denn in den Gesprächen ging es meist nur um Facebook und Charlie konnte es einfach nicht mehr hören.
»Hast du denn wieder einmal etwas von Gregor gehört?«, fragte Hermine plötzlich. Charlie erschrak aus zwei Gründen.