Abgelaufen. Eva Karnofsky. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eva Karnofsky
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742755995
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Touristen zu befreien. Ein kaum zwanzigjähriger Polizist, der nicht so aussieht, als hätte er das Rad erfunden, verlangt ihre Reisepässe, bevor sie einsteigen, und notiert sich ihre Namen. Reine Beschäftigungstherapie, befindet Rosa-Li. Als ob der Mörder über eine Stunde ausharren würde, bis er das Weite sucht. Der junge Beamte fragt nun auch Jorge, ob er im Hotel übernachtet habe, doch Jorge schüttelt den Kopf.

      Mit Hilfe einiger Dollar hat Roberto an der Rezeption herausgefunden, dass Alejandra auf der Anmeldekarte lediglich geschrieben hat, sie sei in Begleitung. Einen Namen hat sie nicht angegeben. Da hat Jorge Glück gehabt. Die Polizei würde so schnell nicht nach ihm fahnden. Vielleicht hat er ja darauf bestanden, nicht auf der Karte zu erscheinen. Doch überprüfen ließ sich das nicht, denn die Leute an der Rezeption waren nicht mehr die gleichen wie gestern. Ob Alejandra verheiratet ist? Sie würden Jorge fragen müssen.

      Er sieht jetzt wie ein Häuflein Elend aus. Alejandras Tod scheint ihm doch nahezugehen. Kunststück. So eine Freundin muss er erst wieder finden: Sie sah toll aus, war intelligent und schätzungsweise zwanzig Jahre jünger als er. Jorge ist zwar klug und hat Humor, aber kaum der Typ, auf den die Frauen fliegen. Zumindest ihr Geschmack ist er nicht mit seinen schütteren, aschblonden Haaren und dem roten Bluthochdruckgesicht. Und vor allem ist er verheiratet. So wie sie.

      Rosa-Li schaut versonnen auf die Bäume am Hang, die sie aus dem Busfenster mit der Hand greifen könnte. David ist nun schon seit über einem halben Jahr verschwunden. Sie hat in den vergangenen Wochen in Deutschland alle Hebel in Bewegung gesetzt, sämtliche Freunde und Bekannten von ihm angerufen, doch vergeblich. Sie hat sogar eine Anzeige in seine Lieblingszeitung gesetzt, er möge sich melden. Sie würde ihn nicht finden, hieß es in dem Brief, den sie unter ihrem Computer fand, als sie von ihrer letzten Kolumbienreise nach Bonn zurückkehrte, und bis jetzt hat er Recht behalten. Er ist wie vom Erdboden verschluckt. Er hat seine Website geschlossen, seine Accounts auf Twitter und Facebook gelöscht, sein Handy abgemeldet und er antwortet nicht auf ihre Mails.

      Immer wieder steigen Schuldgefühle in ihr hoch. Was wäre, wenn sie sich damals an ihre Abmachung gehalten und sich nicht wieder in diverse Abenteuer gestürzt hätte? Jedes Mal, wenn sie für ihre Recherchen unterwegs war, plagte David die Angst, ihr könnte etwas passieren. Sie hatte ihm versprochen, kein Risiko mehr einzugehen. Und ihr Versprechen gebrochen. Ob bei ihm da das Fass übergelaufen war? Wie oft hatten sie sich während ihrer Ehe wegen ihrer aus seiner Sicht gefährlichen Recherchereisen gestritten. Er hatte ihr dann immer Verantwortungslosigkeit ihm gegenüber vorgeworfen, und sie hatte ihn des fehlenden Verständnisses für ihren Beruf geziehen. Ob er sich nur an ihr rächen wollte? Oder von ihrer neuerlichen Affäre mit ihrem Ex-Lover Roberto etwas erfahren hatte? Sie stellt sich immer wieder die gleichen Fragen. Soll sie die Beziehung zu Roberto beenden? Aber hätte sie sie überhaupt begonnen, wenn das Konstrukt ihrer Ehe nicht bereits Risse gehabt hätte?

      Ihnen kommt ein Bus entgegen, und Rosa-Li bricht der Schweiß aus. Schon auf der Hinfahrt gestern ist ihr angst und bange geworden, als sie sich die schmale, aus dem Hang gebrochene Schotterpiste hinaufquälten. Bei Gegenverkehr trennten sie nur wenige Zentimeter vom Abgrund. Gott sei Dank fahren sie nun auf der Hangseite. Doch was, wenn die Straße die beiden Busse nicht trägt? Gar nicht auszudenken. Sie greift nach Robertos Hand. Er scheint ihre Gedanken zu lesen und grinst. »Heldenhafte Reporterin überlebt Erdrutsch am Machu Picchu. Wäre doch ein toller Titel für deine heimischen Blätter!«.

      »Du bist ein Scheusal. Was kann ich denn dafür, dass ich nicht schwindelfrei bin?«.

      Roberto tut ihr gut. Nie hat sie ihn schlechter Laune erlebt. Und er redet, während David meist geschwiegen hat. Gelegentlich ertappt sie sich bei dem Gedanken, dass sie gern mit ihm zusammen leben würde. Doch schon damals, fast sechzehn Jahre ist es nun her, war ihr Verhältnis daran gescheitert, dass sie mehr wollte als eine lockere Beziehung auf Distanz. Ob sie sich jetzt damit abfinden kann? Sie weiß es nicht. Und will es im Moment auch gar nicht wissen. Vor ihnen liegt eine gemeinsame Woche. Sie ist fest entschlossen, sie zu genießen.

      Für Aguas Calientes bleibt ihnen keine Zeit. Dabei wäre Rosa-Li gern ein Weilchen durch den kleinen Ort geschlendert. Schließlich hat sie Urlaub. Sie liebt die bunte peruanische Artesanía, und die wartet hier reichlich auf Kunden. Allerdings wäre es dumm, sich gleich am zweiten Ferientag den Koffer mit Decken, T-Shirts und Holzketten vollzustopfen, tröstet sie sich.

      Darüberhinaus hat der Flecken wenig zu bieten. Staubige Straßen, die sich beim nächsten Regenguss in Schlammwüsten verwandeln, Kanalisation, die über die Straßen in den Bergfluss rinnt, und billig hochgezogene Hotels, die meisten im Plattenbaustil. Aber dafür ist Machu Picchu allgegenwärtig.

      Auf dem kleinen Bahnsteig mitten im Ort drängen sich bereits die Menschen, die nach Cusco wollen. Ob der Mörder unter ihnen ist? Sie schaut sich die Leute genau an, doch niemand fällt ihr auf. Die meisten sind Touristen, aus den USA vor allem. Doch welchem Mörder steht schon seine Tat ins Gesicht geschrieben?

      »Sag mal, Jorge, war Alejandra eigentlich verheiratet?«, fragt sie den Gynäkologen.

      »Sie lebt von ihrem Mann getrennt und hat die Scheidung eingereicht. Oder ich muss wohl besser sagen, sie lebte von ihm getrennt.«

      Ein verlassener Ehemann – auch der könnte ein Mordmotiv haben.

      »Kennst du ihn?«, hakt sie nach.

      »Nicht persönlich. Er stellt Textilien her, in großem Stil. Ich weiß nur, dass er seine Arbeiter ganz schön ausbeutet. Zahlt den meisten sogar noch unter Mindestlohn. Wir haben eine Familienplanungsstation in dem Viertel von Lima, in dem eine seiner Fabriken liegt. Die Frauen beklagen sich bitter über ihn.«

      »Und Alejandra wollte natürlich Geld vom Herrn Gemahl.«

      Jorge schüttelt den Kopf. »So war sie nicht. Sie hatte ständig Streit mit ihm, weil er seine Leute aussaugt. Hat ihm sogar mal damit gedroht, ihm ein paar Kollegen aus der Nación auf den Hals zu hetzen. Sie brauchte sein Geld nicht. Die Eltern sind nicht arm, und sie selbst hatte einen guten Vertrag bei der Zeitung.«

      Sie würden sich nach dem Ehemann erkundigen müssen. Vielleicht wollte er ja einem Artikel vorbeugen, der seiner Firma geschadet hätte. Obwohl: Wen stört es schon in Peru, wenn jemand seine Mitarbeiter schlecht bezahlt? Korrupte Politiker, uneheliche Kinder von Präsidenten, koksende und fremdgehende Fernsehstars – darauf fahren die Leute ab. Aber Ausbeutung? Die meisten Reichen leben selbst davon, und die Armen sind froh, wenn sie überhaupt eine Arbeit haben. Dass Alejandra wirklich so ein Gut-Mensch war, der freiwillig auf Unterhalt vom reichen Ehemann verzichtete, nur weil dieser das Geld nicht auf ganz ehrenhafte Weise verdient hat, will Rosa-Li auch nicht so recht glauben.

      Der Zug ist einsteigebereit, und ein Polizist bezieht vor der Tür Posten. Wieder werden ihre Namen notiert, und wieder werden sie gefragt, wann sie gekommen seien und wo sie übernachtet hätten. Und wieder sagt Jorge nicht die Wahrheit. Er sei mit dem ersten Hubschrauber gelandet, gleich hinaufgefahren, und nach einem Rundgang wieder hinunter. Seine Tickets? Im Abfall. Wenn jemand sich die Mühe machte, seine Angaben zu überprüfen, wäre Jorge schnell der Lüge überführt.

      »Sag mal, hast du eigentlich keine Angst, dass jemand die Passagierlisten kontrollieren könnte?«, fragt Rosa-Li ihn leise, als sie schließlich im Zug Platz nehmen.

      Er lacht auf. »Ich dachte, du kennst die Schlamperei unserer Behörden. Und du weißt auch, wie man solche Probleme gegebenenfalls löst.«

      »Mit ein paar Scheinchen, ich weiß. Aber wenn trotzdem mal was rauskommt, machst du dich doch erst recht verdächtig.«

      »Rosa-Li, du denkst immer noch zu Deutsch. Die ganze Sache wird jetzt ein paar Tage lang hochkochen, weil Alejandra nicht ganz unbekannt war, dann kommt ein neuer Skandal, und Peru hat ihren Tod vergessen. Ich helfe ihr nicht mehr, wenn ich meine Ehe und den Fortgang des Projekts riskiere. Stell dir vor, die Medien würden Laura da mit reinziehen, womöglich sogar behaupten, sie hätte aus Eifersucht die Freundin ihres Mannes auf dem Gewissen. Ihre Karriere wäre ruiniert. Und ich weiß nichts, gar nichts, was zur Aufklärung des Ganzen beitragen könnte.«

      »Sie hat dir wirklich nichts von dem Informanten erzählt, den sie treffen wollte?«.