Yaren nickte knapp und stiefelte zu den Pferden hinüber, die noch immer unruhig an ihren Zügeln zerrten. Etan folgte ihm dichtauf.
„Schau nicht so grimmig drein. Wir werden die Kleine schon zurückholen.“
Darauf kannst du wetten!
Yaren maß seinen Waffengefährten mit einem argwöhnischen Blick. „Warum willst du eigentlich unbedingt mitkommen?“
Etan lächelte rätselhaft. „Ich lasse mir nie eine gute Jagd entgehen.“
Yarens Hengst empfing ihn mit einem freudigen Schnauben, doch als Bokan der Geruch des Drachenblutes in die Nüstern stieg, der seiner Kleidung anhaftete, stampfte er mit den Hufen und verdrehte die Augen. Yaren klopfte ihm beruhigend den Hals. „Alles ist gut“, murmelte er, obwohl nichts gut war. Während er Bokan mit der Satteldecke trocken rieb, schimpfte er lautlos vor sich hin. Dieses törichte Mädchen! Was für eine Verrücktheit hatte sie sich da wieder ausgedacht? Ohne Waffen und Vorräte in den Wald zu laufen, als wäre es ein Spaziergang im Garten! Sie war so unglaublich unbesonnen, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. Genau wie damals, als sie über die Palisaden zu ihren Brüdern geklettert war, ohne einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden.
In seinem Ärger ließ Yaren den Sattel so hart auf Bokans Rücken fallen, dass der Hengst erschrocken zusammenzuckte. Reumütig tätschelte er dessen Hals. „Tut mir leid, mein Alter.“
Er zog den Holzpflock aus dem Boden, der die Zügel an Ort und Stelle hielt und verstaute ihn in seiner Satteltasche. Er hätte sich dafür ohrfeigen können, dass er Ishiras Flucht sogar noch Vorschub geleistet hatte, indem er sich dafür eingesetzt hatte, dass ihr Bruder weniger scharf bewacht wurde. Er hatte ihrem Wort leichtfertig Glauben geschenkt, obwohl er ebenso wie Beruk und Koban genau gewusst hatte, dass sie der Armee nur um ihres Bruders willen half. Dennoch lag ihm die Enttäuschung wie ein Stein im Magen.
„Es wäre besser gewesen, wenn der Marenash den Jungen im Palast hätte in Gewahrsam nehmen lassen und nicht mit auf den Feldzug geschickt hätte“, sagte Etan.
Yaren antwortete nicht. Vielleicht wäre es besser gewesen. Vielleicht hätte Ishira aber auch trotzdem versucht zu fliehen. Sein Blick fiel auf ihre Satteltasche, die neben seiner eigenen lag. Aus einem Impuls heraus schlug er die Lederklappe zurück. Obenauf lag das längliche Bündel, das er auf den ersten Blick als ihr Rehime erkannte. Sie hatte das Instrument nicht mitgenommen. Seine Enttäuschung flaute ein wenig ab. Also hatte sie ihre Flucht nicht geplant, sondern einer spontanen Idee nachgegeben. Er widerstand dem Drang, das Instrument zu berühren, und ließ die Klappe langsam zufallen.
Und? fragte eine hämische Stimme in seinem Kopf. Was nützt dir diese Erkenntnis? Fort ist das Mädchen so oder so.
Der Stein in seinem Magen legte an Gewicht zu. Er wollte nicht daran denken, dass er Ishira vielleicht nie wiedersehen würde. Sie war in den letzten Monden so sehr Teil seines Lebens geworden, dass er sich nicht mehr vorstellen konnte, ohne sie zu sein. Es war mehr als schlichtes Verlangen, das ihn zu ihr hinzog. Ishira hatte es irgendwie geschafft, sich vor die Schatten seiner Vergangenheit zu schieben und die Schrecken verblassen zu lassen. Seine Rache an den Drachen zu vollenden und sein Leben im Kampf zu beschließen, war nicht mehr der einzige ihn beherrschende Wunsch. Dass er wieder lachen konnte, war ihm im Gegenteil wie ein Zeichen erschienen, dass es vielleicht doch eine Zukunft gab, die auf ihn wartete. Wollten die Götter ihn jetzt für seine frevelhaften Hoffnungen bestrafen?
Er richtete sich auf und drehte sich zu Etan um. „Fertig?“
Sein Waffengefährte saß bereits im Sattel „Ich bin bereit.“ Er taxierte Yaren mit einem seltsam stechenden Blick. Etan musste ihn dabei beobachtet haben, wie er Ishiras Satteltasche geöffnet hatte. Wie es schien, hatte er daraus die falschen Schlüsse gezogen. Oder die richtigen…
Yaren schwang sich gleichfalls in den Sattel. „Also los.“ Er drückte Bokan die Absätze seiner Stiefel in die Flanken. Der Hengst warf den Kopf zurück und galoppierte los. Es war nicht schwer, den Flüchtigen durch die Talenge zu folgen, wo das Terrain den Weg vorgab. Solange er Ishira und ihren Bruder einholte, bevor sie den Bach überquerten, konnten sie ihm nicht entkommen.
***
Ishira war überrascht, wie schnell sie selbst zu Fuß wieder am Bach anlangten. Ihrem Empfinden nach musste es später Vormittag sein. Sie hatten die Strecke, für welche die Armee beinahe einen ganzen Tag benötigt hatte, in nicht einmal der Hälfte der Zeit zurückgelegt. Beim Anblick des glitzernden Bandes meldete sich mit aller Macht ihr Durst zurück, der sie schon eine ganze Weile quälte. Sie trat auf die vordere Rampe und beugte sich vor, um eine Handvoll des klaren, kalten Wassers zu schöpfen. Es schmeckte köstlicher als jedes Getränk, das sie je gekostet hatte, und sie musste an sich halten, nicht zu schnell zu trinken. Wieder und wieder tauchte sie ihre ineinandergelegten Hände ins Wasser, bis ihr Durst endlich gestillt war. Neben ihr tat Kenjin es ihr gleich. Sie hörte sein erlöstes Seufzen, als er sich schließlich die Tropfen vom Mund wischte. Dafür forderte jetzt auch Ishiras Magen sein Recht. Nur, wie sollten sie etwas zu essen beschaffen? Sie versuchte, das nagende Hungergefühl zu ignorieren, und schaute sich um. Bisher hatten sie sich keine Gedanken darüber machen müssen, dass sie Spuren hinterlassen könnten, doch jetzt sah die Sache anders aus. Im feuchten Untergrund würden ihre Füße sich tief genug eindrücken, um für das kundige Auge erkennbare Spuren zu hinterlassen – und ein erfahrener Fährtenleser würde ihr Verfolger zweifellos sein. Ishira hatte so eine Ahnung, wer kommen würde. Sofern die Drachen ihn nicht verwundet hatten – an Schlimmeres wagte sie nicht einmal zu denken –, würde Kiresh Yaren es als eine Frage seiner persönlichen Ehre ansehen, sie zurückzuholen. Wenigstens hatten die Gohari keinen ihrer schrecklichen Bluthunde mit auf den Feldzug genommen…
Unschlüssig erwog Ishira ihre Alternativen. Sollten sie auf dem von den Gohari durch den Wald gepflügten Pfad weitergehen? Die Armee hatte den Boden dermaßen aufgewühlt, dass Fußspuren, die in umgekehrter Richtung verliefen, unmöglich von den übrigen zu unterscheiden waren. Dafür würden sie es ihren berittenen Verfolgern auf diese Weise leicht machen, sie einzuholen. War es also besser, sich in die Wildnis zu schlagen? Je weiter sie sich allerdings von der einzigen Wegmarkierung, die sie hatten, entfernten, desto größer wurde die Gefahr, sich zu verirren.
Ihr Bruder war bereits zum jenseitigen Ufer gewechselt und winkte sie mit heftigen Bewegungen zu sich. Sie laut zu rufen wagte er nicht, um etwaigen Verfolgern nicht ihren Standort zu verraten. Ishira warf einen letzten Blick zurück und lauschte, aber das Gluckern des Baches schluckte alle übrigen Geräusche. Sie raffte ihr Kleid und rannte durch das Wasser zur gegenüberliegenden Rampe.
„Was ist bloß mit dir los?“ schimpfte Kenjin. „So kenne ich dich gar nicht. Stehst wie eine Zielscheibe in der Landschaft herum. Lass uns endlich verschwinden! Oder willst du, dass sie uns kriegen?“
Ishira schüttelte stumm den Kopf, obwohl das Ziehen in ihren Eingeweiden bei jedem Schritt stärker wurde, als würde sich ein unsichtbarer Faden straff ziehen. Instinktiv überließ sie sich Kenjins Führung, der für den Moment eher Herr der Lage war als sie und genau zu wissen schien, was zu tun war. Hinter ihrem Bruder tauchte sie wieder in das dämmerige Licht des Zedernwalds ein. Nach kurzer Zeit verließen sie den aufgeworfenen Pfad, der sich wie eine Wunde durch den Waldboden zog, und suchten sich ihren Weg zwischen den Farnen. Das erschwerte zwar das Vorankommen, doch dafür konnten sie weniger leicht entdeckt werden. Dabei wählte Kenjin mit Bedacht eine Route, die in etwa parallel zur derjenigen verlief, auf der sie mit dem Heer gekommen waren, sich jedoch außer Sichtweite von dieser hielt. Leider wichen die Zedern bereits wenig später dem lichten Bambuswald. Zwischen den schlanken Stangen gab es bis auf die wenigen Felsen kaum Verstecke.
Ein Windstoß ließ den Bambus über ihren Köpfen mit melodischem Klacken gegeneinander schlagen. Gewöhnlich empfand Ishira diesen Ton als angenehm und beruhigend, doch jetzt zerrte er an ihren Nerven. Alle paar Schritte sah sie sich über die Schulter um, ob ein Reiter durch den Bambus brach. Jedes Mal, wenn sie einen Schatten zu erblicken glaubte, ging es ihr durch und durch, und jedes Mal stieß sie zitternd die Luft aus, wenn sie erkannte, dass ihre