Baird hatte bis zum Morgengrauen kein Auge zugetan. Unruhig warf er sich auf dem Feldbett hin und her. Kurz nach fünf Uhr stand er auf und steckte den Kopf in einen Eimer mit kaltem Wasser. Henry Harvey Ashton hatte ihn aufgefordert, sich nicht in die Organisation der Truppen des Nizam einzumischen und seiner Wege zu ziehen. Mit
Lord Clives Befehl in der Hand hatte er es gewagt, dem Generalmajor zu erklären, dass dieses Kommando seines wäre und dass Baird besser daran täte, sich wieder aus Vellore zu verabschieden und nach Madras zurückzureiten. Bereits beim Zusammentreffen von General Harris’ Stab hatte Sir Davie lautstark sein Missfallen darüber kundgetan, dass das faktische Kommando über eine fast elftausend Mann starke Streitmacht an einen Offizier gefallen war, der gerade halb so alt war wie er selbst, und der auf den Dienstlisten der Horse Guards weit hinter ihm stand. Lord Clive hatte damals nur kühl erklärt, die Zusammenarbeit mit den indischen Verbündeten erfordere ein diplomatisches Geschick, das Baird fremd sei. Dem Gouverneur von Madras gegenüber hatte der Schotte sich nicht durchzusetzen vermocht. Er hatte einen bitteren Brief an Lord Mornington gesandt, den neuen Generalgouverneur von Britisch-Indien. Morningtons Antwort war enttäuschend ausgefallen. Er verschanzte sich hinter der Entscheidung Sir Alured Clarkes und bedauerte, dass er für Baird nicht viel mehr tun könne als zu empfehlen, ihm die schottischen Regimenter zu unterstellen, falls dies in General Harris’ Sinn sei.
Seit Baird in den Kerkern des Sultans drei Jahre lang durch die Hölle gegangen war, wartete er auf eine Gelegenheit, Rache zu nehmen. Nun plante man einen Kriegszug gegen Mysore und schloss ihn von dieser Operation aus. Er zog sich Hemd und Uniformrock über, nahm seine Waffe und verließ zornig das Zelt. Es gab Dinge, die ein Offizier und Gentleman in dieser Zeit nicht hinnehmen konnte. Henry Harvey Asthon unziemliche Worte – vor dem gesamten Offizierskorps des 12. Regiments und den Generalen des Nizam – waren ein Affront, der Blut forderte. Hätte sich dieser verdammte irische Buchhalter, dieser Wesley, am Vorabend nicht so energisch zwischen ihn und diesen Schnösel Ashton geworfen, hätte Baird das Problem bereits bereinigt – mit der Waffe in der Hand. Grob trat er seiner Ordonnanz ins verlängerte Rückgrat und herrschte den Soldaten an, ihm Brandy und sein Frühstück zu bringen. Dann ließ er sich in einen Stuhl vor dem Zelt fallen und grübelte.
Henry Harvey Ashton war bereits seit einer Stunde auf den Beinen. Es war ihm endlich gelungen, den indischen General Meer Allum zu überzeugen, dass es besser sei, die Regimenter aus Hyderabad dem britischen Oberkommando direkt zu unterstellen. Meer Allum war an sich kein Problem gewesen. Der Mann war ein erfahrener Soldat und ein vernünftiger Bursche. Er hatte eingesehen, dass es einfacher war, wenn alle nach derselben Pfeife tanzten. Nur der Nizam hatte sich anfangs gesträubt: Es war ihm seit langem bewusst, dass er nicht viel mehr als eine Marionette in britischer Hand war und seinen »muzznud« lediglich den Truppen verdankte, die »John Company« ihm finanzierte. Aus reiner Selbstachtung und um zumindest den Schein einer gewissen Unabhängigkeit zu wahren, hatte er einige Zeit mit Ashton und damit indirekt auch mit Lord Clive und Lord Mornington gerungen. Doch ohne den Gouverneur in Madras und den Generalgouverneur in Kalkutta konnte er nichts gegen die Marattha unternehmen, die regelmäßig die Grenzen seines Reiches bedrohten. Seit 1795 existierte ein Schutzvertrag, in dem England seine Sicherheit garantierte und Militärhilfe zusicherte, falls die Lehnsfürsten des Bajee Rao II. sich zu weit vorwagten. Aus diesem Grunde hatte er Mornington auch ein elftausend Mann starkes Kontingent zugesichert, um mit Tippu Sultan, dem Tiger von Mysore, zu einer Einigung zu kommen, obwohl gar keine unmittelbare Feindschaft zwischen ihm und dem Herrscher in Seringapatam bestand.
Henry Harvey Ashton konnte mit sich und der Welt zufrieden sein. Der Nizam hatte am Ende doch nachgegeben, ohne sich von England brüskiert zu fühlen, und die Truppen von General Meer Allum würden ausgezeichnet mit den britischen Einheiten zusammenarbeiten. Als er seinen hellgrauen Araberhengst Diomed vor dem Eingang seines Zeltes zügelte, dachte der Offizier nur an den Erfolg seiner Mission, den aufregenden Feldzug, der nun bald beginnen würde, und ein reichhaltiges Frühstück. Den heftigen Streit mit Sir Davie Baird am Vortag hatte er fast schon vergessen. Er öffnete den Rock und rieb sich den schweißnassen Hals trocken. Ein leichter Wind streichelte seine erhitzte Haut. Wohlbehagen durchrieselte seine Glieder.
»Das Leben ist eine feine Sache, wenn es Krieg gibt und man fernab der Zivilisation im Felde steht«, ging es ihm durch den Kopf, während er seinem indischen Diener zuschaute, der ihm eine Tasse mit heißem, starkem Tee füllte.
Sir Davie Baird spuckte den Kautabak aus und nahm noch einen großen Schluck aus der Brandyflasche, der er seit dem Frühstück bereits große Aufmerksamkeit gewidmet hatte. »Verdammter Ashton!« zischte er zwischen den Zähnen hindurch. Seine Miene drückte eine gewisse Selbstgefälligkeit aus, als er aufstand und nach seinem Schwert griff. »Verdirbt mir die Stimmung mit seinem Geschwätz, dieser Rotzbengel.« Er warf einen Blick in Richtung des Zeltes des Kommandeurs des 12. Regiments. Ashton war allein. Außer seinem Boy würde niemand Zeuge dessen sein, was nun folgen sollte. Und wer würde einem indischen Boy schon Glauben schenken? Entschlossen stiefelte Baird los.
Lord Clive hatte den Kurier sofort empfangen. Der Mann war aus Vellore nach Madras geeilt und hatte bei diesem halsbrecherischen Ritt zwei gute Pferde lahm geritten. Doch General Meer Allums Depesche war so wichtig, dass die Pferde nicht zählten. Baird und Ashton hatten sich in den frühen Morgenstunden duelliert. Ashton war von einer Kugel in die Seite getroffen worden. Der Arzt des 12. Regiments und der Leibarzt des Nizam hatten alles versucht, doch es war aussichtslos: Ashton würde nicht mehr lange leben. Meer Allum hatte Baird unter Arrest gestellt, obwohl er nicht dazu befugt war, und wollte jetzt wissen, wer denn nun die Kontingente aus Hyderabad befehligen würde, und was er mit dem heißblütigen schottischen Generalmajor anfangen sollte.
»Baird behauptet, dass Ashton ihn angegriffen und er sich nur verteidigt hat?« Lord Clive konnte der Geschichte Meer Allums keinen Glauben schenken. Er kannte sowohl den Generalmajor als auch den Kommandeur des 12. Regiments.
»Unser General hat nach Zeugen gesucht, aber es gibt keine. Ashtons Boy ist spurlos verschwunden. Wir haben nur Sir Davies Wort. Das alles hat sich in den frühen Morgenstunden abgespielt, Mylord«, antwortete der Offizier des Nizam in korrektem Englisch.
»Man wird Ihnen ein neues Pferd und eine Eskorte geben, Sir. Richten Sie Meer Allum meinen Dank aus, dass er sich um diese traurige Geschichte gekümmert hat. Er soll Baird nach Madras schicken. Ich werde sofort einen neuen Offizier nach Vellore entsenden. Der General soll mir nur ein paar Stunden zum Nachdenken lassen, damit ich den richtigen Mann abkommandieren kann.«
Im Geiste hatte Lord Clive seine Entscheidung bereits getroffen. Er würde Arthur Wesley von seinem Posten des Generalquartiermeisters abberufen und ihn zur Armee des Nizam entsenden. Der Junge sprach nicht nur Hindi, auch sein Vernacular war mehr als respektabel. Außerdem verfügte er über das nötige Feingefühl, einen problematischen Verbündeten nicht zu brüskieren, und über beachtlichen militärischen Sachverstand. Damit musste die Armee in nächster Zeit zwar auf eine ihrer besten Nachrichtenquellen über Mysore verzichten, doch der Gouverneur war sicher, dass Elphinstone und der Afghane Barrak ben Ullah den Verlust von Oberst Wesley wettmachen konnten. Eilig schrieb Clive eine Depesche an Meer Allum. Dann informierte er den Kommandeur des 33. Regiments, dass er das Kontingent aus Hyderabad de facto befehligen musste, weil sein bester Freund einem unsinnigen Ehrenkodex zum Opfer gefallen war.
Arthur verlor keine Zeit. Er verließ Madras alleine, ohne irgendeine Eskorte in Anspruch zu nehmen. Er kannte den Weg nach Vellore gut, und es störte ihn nicht, durch die Nacht zu reiten. In den frühen Morgenstunden des 18. Dezember erreichte er die Grenze zum Karnataka. Ashton war blass und augenscheinlich schwer verletzt; trotzdem machte er einen ruhigen und überlegten Eindruck. Zuerst hofften alle, er würde sich erholen, und sogar die Ärzte zeigten sich optimistisch. Arthur verbrachte viel Zeit am Krankenlager des Freundes. Irgendwie glaubte auch er daran, dass Ashton eines Morgens aufstehen würde und alles wieder so war, wie vor dem Duell mit Baird. Alles, was die Ärzte tun konnten, war für den Kommandeur des 12. Regiments getan worden. Doch trotz aller Hoffnung