Marattha König Zweier Welten Teil 2. Peter Urban. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Urban
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847610304
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Niemand geriet außer Kontrolle. Die beiden Flanken des Regiments bewegten sich lediglich etwas schneller in Richtung der überlebenden Feinde. Die Sepoys von der Madras-Infanterie taten es ihren Kameraden gleich. Nach dem undurchdringlichen Kugelhagel bohrte sich kalter Stahl in die Körper der überlebenden Soldaten aus Mysore. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass in den Augen ihrer Gegner die pure Mordlust geschrieben stand.

      Als der Sultan sah, wie seine Infanterie zwischen den Zähnen der

      Briten zermahlen wurde, hob er die Augen zum Himmel und fragte Allah um Rat. Oberst Cappellini, der neben ihm auf dem Pferd saß und auf Französisch vor sich hin schimpfte, dass man nun endlich die Kavallerie zum Einsatz bringen sollte, um die schwer bedrängte Infanterie zu entsetzen, hörte der Sultan überhaupt nicht. Dann sprach Allah zu ihm: Der Gott aller Gläubigen befahl seinem Diener Tippu, diese feigen Hunde ihrem Schicksal zu überlassen, denn das »baraka« war an diesem Tag nicht mit ihnen. Allah befahl dem Sultan, nach Seringapatam zurückzukehren und sich dort darauf vorzubereiten, die Ungläubigen würdig zu empfangen.

      Sherbrooke und Stapelton Cotton hatten beide den gleichen Gedanken, als sie mit ansehen mussten, wie Wesley den konzentrierten Angriff des Gegners abwehrte. Auf der linken und rechten Seite führten sie rasch frische Einheiten um die fliehenden Männer des Sultans herum, um diesen dann am Cauvery in den Rücken zu fallen. Doch die Soldaten aus Mysore rannten so schnell, dass ihre britischen Gegner sie nicht einholen konnten. Als die Nacht sich über das blutige Schlachtfeld von Malavelley senkte, gaben Sherbrooke und Cotton die Verfolgung auf. Sie hatten gewonnen! Und was für ein Sieg es war! Außerdem konnten die beiden Offiziere ihre Soldaten nicht mehr im Zaum halten. Viele machten sich bereits über die Toten und Sterbenden her, um zu plündern, was diese am Leib trugen. Gerüchte von sagenhaftem Reichtum, von Edelsteinen, die die Männer des Sultans in ihren Schärpen oder unter ihren Turbanen versteckt trugen, hatten die Runde gemacht. Wer nur den mageren Shilling des Königs und seine Autorität gegen sie zu setzen vermochte, war verloren. So diszipliniert Englands Soldaten und ihre indischen Verbündeten am Tag gekämpft hatten – im Schutze der Nacht entwickelten sie sich zu einem wüst plündernden, unkontrollierbaren Haufen.

      General Harris war außer sich vor Freude über diesen ersten großen Erfolg gegen den Sultan. Und nicht nur die Hyderabad-Armee hatte sich glänzend geschlagen. Davie Baird, der griesgrämige Schotte, war an der Flanke von irregulärer Kavallerie angegriffen worden. Sein Zorn und sein Hass – über viele Jahre aufgestaut, aber nie verdrängt – hatten sich entladen wie ein Donnersturm: Für nur siebenundzwanzig tote britische Soldaten schrieb der Generalmajor sich fast vierhundert tote Reiter aus Mysore auf die Fahnen.

      Natürlich war Oberst Wesley stolz auf den Sieg, doch der gute Ton und die herausragende Stellung von Meer Allum geboten es, dass er sich in dem Augenblick zurückzog, als General Harris zum großen Schulterklopfen und Lobpreisen ansetzte. Offiziell war er ja nur Berater des Generals aus Hyderabad. Außerdem war er hundemüde, schmutzig und durchgeschwitzt, und sein Nervenkostüm, das den ganzen Tag im Feld so bemerkenswert robust gewesen war, begann sich nun in einer Woge von Emotionen und Ängsten aufzulösen. Statt sich an eine festlich gedeckte Tafel im Hauptquartier zu begeben und dabei zu riskieren, dass seine Selbstbeherrschung in sich zusammenfiel wie ein Kartenhaus, wollte er sich lieber bei Charlotte verkriechen.

      Die junge Frau hatte schon lange vor Wesleys Rückkehr von diesem Sieg gehört und davon, wie tapfer ihr Verlobter sich geschlagen hatte. Mit dieser Neuigkeit und der Gewissheit, dass Wesley heil aus der Schlacht zu ihr zurückkehrte, war ihre seltsam pessimistische Stimmung vom frühen Morgen in das genaue Gegenteil umgeschlagen. Sie hatte zwei Gläser und eine Flasche Champagner auf den kleinen Tisch gestellt und ein ausgezeichnetes Diner auftragen lassen, bei dem sich ausnahmsweise einmal Fleisch im gedünsteten Reis befand. Charlotte hatte eine Kerze angezündet, ihr schönstes Kleid angezogen und wartete nun ungeduldig wie ein Kind auf ihren Helden.

      Bevor Arthur die Zeltplane zurückschlug, fuhr er sich mit der Hand über die Augen, um sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Es waren Tränen der Erschöpfung und der Erleichterung gewesen, die ihn überfallen hatten, als er langsam vom Cauvery ins Feldlager bei Malavelley zurückgeritten war, doch er schämte sich trotzdem. Was würde seine kleine Lady von ihm denken, wenn er nach einer siegreichen Schlacht mit rotgeweinten Augen bei ihr auftauchte?

      Er setzte seine tapferste Miene auf und umarmte Charlotte mit gespielter Fröhlichkeit. Beim endlos langen Abendessen zwang er sich, amüsant zu sein und in lockerem, unbefangenem Tonfall auf ihre neugierigen Fragen zu antworten. Natürlich konnte auch er aufrichtig darüber lachen, dass die Soldaten des Sultans gerannt waren wie die Hasen, und er bedachte sogar die kleine Seward mit einer erfundenen Anekdote über ihren heldenhaften Sergeanten, nachdem sie brav das Geschirr abgetragen und den Kaffee serviert hatte. Erst als Charlottes warmer, weicher Körper sich in der Vertrautheit und Stille ihres schmalen Feldbettes an ihn kuschelte und ihre Hände ihn sanft liebkosten, verlor er die Selbstbeherrschung.

      Eine Armee gegen einen übermächtigen Gegner zu führen, ohne wirklich zu wissen, wie so etwas eigentlich ging, und dabei jede Sekunde gewahr zu sein, dass der kleinste Fehler den Tod Hunderter guter Männer bedeuten konnte, war viel Verantwortung auf einen Streich für einen jungen Offizier, der erst ein einziges Mal im Leben Pulverdampf gerochen hatte. Jeden Augenblick während des Waffengangs von Malavelley war Wesley sich dessen bewusst gewesen: Sein kluger Kopf hatte immer nur großartige Theorien in sich aufgenommen und wunderbare Memoranden verfasst. Von der Quintessenz des Krieges aber wusste Arthur nur wenig. Er hatte Cäsar gelesen und die »Träumereien« des Marschalls von Sachsen; er hatte kluge Bücher über Friedrich den Großen verschlungen und in seiner Phantasie schon hundertmal auf dem Feld von Ephesus gestanden, doch im Grunde wusste er nichts. Er war ein Schüler, ein Dilettant, ein Spieler, bestenfalls ein Theoretiker, der brav seinen Lloyd auswendig gelernt hatte. Vor allem aber war Arthur ein Regimentsoffizier, ein Oberst, wie viele andere auch. Nun ja, vielleicht kein gewöhnlicher Oberst, denn er besaß diesen seltenen Charakterzug der Bescheidenheit und des Lerneifers, der so vielen seiner Waffenbrüder abging ... Während Charlottes kleine, warme Hände sanft über seinen müden Rücken strichen, wurde Arthur plötzlich klar, wie überheblich es doch gewesen war, General Meer Allum den frontalen Angriff gegen einen übermächtigen Feind zu empfehlen. Mit einem Mal wurde ihm klar, was alles hätte passieren können, wenn ... und dann sah er in seinem Halbschlaf ein Feld vor sich, auf dem tote Rotröcke lagen, und er hörte die Frauen der Soldaten jammern und sah Mary Seward, die sich schluchzend über die Leiche eines toten Sergeanten seines Regiments beugte, und irgendwie gingen ihm diese anklagenden, tieftraurigen Augen nicht aus dem Sinn ...

      »Arthur«, flüsterte Charlotte ihrem Verlobten ganz leise ins Ohr. »Warum hörst du nicht auf, dich so zu quälen? Es ist vorbei! Keiner von deinen Jungs liegt da draußen. Ihr habt hoch gespielt und gewonnen. Was ist schon dabei?«

      Wesley rollte sich auf den Rücken und starrte auf die schmutziggelbe Zeltplane. »Was ist schon dabei?« wiederholte er leise Charlottes Worte. »Wenn ich das nur wüsste, Liebste. Irgendwie ist es seltsam.« Er setzte sich auf, zog Charlotte in seine Arme und spielte mit ihren langen braunen Locken. »Aber es macht mir Spaß, Soldat zu sein. Heute früh, als du mir adieu sagtest, hat es mich eigentlich nicht gekümmert, dass ich dich allein zurücklassen musste. Irgendwie wollte ich nur raus, wollte mit den Männern des Sultans kämpfen, auf die Jagd gehen ... Vielleicht wollte ich meinem Bruder Mornington etwas beweisen, oder mir selbst, aber es ist ein ganz sonderbares Gefühl, wenn du plötzlich dastehst und es zwischen Leben und Tod nur noch deinen Befehl gibt. Es ist schrecklich! Große unvernünftige Jungen, die Krieg spielen und sich dabei königlich amüsieren ... der Klang der Trompeten, das Dröhnen der Kanonen, die Trommler, die Regimentsfahnen, schreiende Männer, die übereinander herfallen, obwohl sie einander nicht kennen und hassen ...«

      Charlotte wand sich aus Arthurs Umarmung und presste ihre Lippen auf die seinen. »Hör auf mit deinem Philosophieren und deinen Gedankenspielereien, Wesley! Akzeptiere einfach, dass du mit Leib und Seele Soldat bist, und such nicht irgendeine laue Entschuldigung dafür. Mich stört’s nicht. Und ich gebe ehrlich zu, dass ich verdammt stolz auf meinen Arthur war, als die Männer mir in den leuchtendsten Farben geschildert haben, wie ihr die Truppen des Sultans fertiggemacht habt. Du wolltest deinen Krieg. Jetzt hast du ihn und ... zum Teufel, wenn du dich auf