Ein anderer Zwischenfall hatte sich ereignet: Gerd, der mir 300 Mark vorgeschossen hatte, als er mit mir durch die USA getrampt war, wohnte auch zu Hause. 200 Mark hatte ich ihm schon zurückgezahlt. Sein Vater wollte Wohngeld von ihm. Gerd meinte, der sei reich genug und hätte sich nie um ihn gekümmert. Dem werde er dafür gerade noch was zahlen! Dummerweise hatte dieser wohl mitbekommen, dass er mir das Geld geliehen hatte. Und dummerweise arbeitet der auch für eine Versicherung wie mein Vater, aber bei der verhassten Konkurrenz. Selber Beruf, selbes Verhaltensmuster! Er setzt sich also in sein Auto und besucht meinen Vater, um sich von dem das Geld zu holen, das sein Sohn ihm nicht zahlen will. Doch da gerät er an den falschen! Fast hätte es Mord oder Totschlag gegeben, wie meine Mutter mir später mitgeteilt hat. Das war der lang erwartete Auslöser. Mein Vater rastet aus. „Man leiht sich kein Geld, man verdient es sich! Und man wählt sich seinen Umgang aus! Mit solchem Pack verkehrt man nicht!“ Was folgt, ist wieder der totale Rausschmiss mit Hausverbot. Das ist mir völlig schnuppe. Nur, dass meine Mutter am Ende die Leidtragende ist.
In den sieben Wochen bei den Vermessern habe ich mir einiges an Geld auf die Seite tun können, ist doch Unterkunft und Verpflegung frei. Abends sitzen wir oft beim Kartenspiel. Da kommen meist ein paar Einheimische auf ein Bier in die Pension, um Neuigkeiten über den Trassenverlauf zu erfahren. Vor allem ein pensionierter Zahnarzt, der in der Nähe eine Villa und einen Fischteich hat. Es bestand ein alter Plan, auf welchem die Autobahn genau durch diese Villa ging. Dieser Verlauf war aber aufgegeben worden. Doch das wussten nur wir. Unser Chef legte diesen Plan wie durch Zufall oft so auf einen Tisch, dass er sichtbar war. Das brachte den Zahnarzt fast zur Verzweiflung. Er lud uns dann zum Bier ein, dann noch ein paar Schnäpse, um uns zu überzeugen, diesen Trassenverlauf zu verwerfen. Der Chef meinte dann, dass sei gar nicht so einfach, wir könnten da wohl kaum was machen. Aber man könnte ja mal was versuchen… Beide spielten gerne Schach. Aus Gaudi spielte unser Chef mit ihm um die Trasse. Dabei flossen die Biere und Schnäpse rundenweise. Und jedes Mal verlor der Zahnarzt, weil er gar nicht mitbekam, wie der andere mogelte. Am Ende spielte der ihm noch die gefangenen Fische ab, so, dass wir fast jeden Tag frische Forellen von der Wirtin gebraten bekamen. Es war eine tolle Zeit. Wir kamen dabei in tiefe, unberührte Wälder. Selbst Pilzsucher verirrten sich nicht hierher, wie wir und unsere Forellen merkten. Wir tauchten in idyllischen Gehöften auf, meist nur für Nebenmessungen, um einen Polygonpunkt zu bestimmen oder Erkundigungen einzuholen, um einen bestimmten Ort ausfindig zu machen. Die Leute waren oft misstrauisch. Niemand wollte die Autobahn, außer den Städtern. Vielleicht doch einige, denn es hatte sich herumgesprochen, dass die Entschädigung für den Landverlust 6 Mark pro Quadratmeter sein sollte. Das brachte so manchen Bauern zum Umdenken…
Unten am Schönbühl, bei Lindau, lag ein kleiner Campingplatz. Dort hatte ich schon ein paar Mal gezeltet gehabt, wenn wir Buben damals mit dem Fahrrad nach Lindau gefahren sind. Wie es aussieht, wird der auch der ‚Straßensanierung‘ zum Opfer fallen. Als wir da mit Messlatte, Theodolit und den anderen Geräten herummachen, krabbelt aus einem Zelt ein älterer Mann heraus, eine Art Clochard. Joseph heißt er und hat hier seit Jahren seinen Wintersitz, wie er uns erzählt. Der Platzbesitzer duldet ihn, da er irgendwie auch als Platzwächter fungiert. Sein Zelt befindet sich am Rande des Geländes. Er führt uns hin. Unter einer größeren aufgespannten Zeltplane, die auch als Unterstand für seine zwei rostigen Fahrräder dient, steht ein kleines Armeezelt, sein Zuhause. „Du musst ja ein ganz schön harter Bursche sein, bei dem Wetter da drinnen zu wohnen! Wie machst du das denn, um nicht zu erfrieren?“ Er holt grinsend eine Flasche mit klarem Inhalt unter seinem Lager hervor und reicht sie uns. Wir trinken alle einen Schluck davon. Ist ja kalt genug draußen, und das verlangt die Höflichkeit! Guter Bodenseeobstler! Dann nimmt er selber einen gehörigen Schluck und wischt sich den Mund mit dem etwas schmuddeligen Ärmel ab.
An einem Wohnwagen lehnen ein paar Klappstühle. Er stellt sie auf und lädt uns ein zu Sitzen. Er wird nicht viel Besuch bekommen und nützt unser Dasein zu einem Schwätzchen. Er kramt ein zerdrücktes Paket Kekse aus einem Karton, der wohl als Vorratsschrank dient. „Hier, bedient euch. Viel kann ich euch nicht anbieten!“ Dann wieder reihum ein Schluck Schnaps. „Lebst du schon lange so?“ fragt ihn Volker, der andere Vermesser. „Da müsste ich nachrechnen… Irgendwann war ich sogar mal verliebt und hätte mich fast verheiratet. Doch das ging dann auseinander. Ich bin wohl nicht so für das Zusammenleben mit anderen gemacht. War schon immer etwas anders. Viel draußen, viel unterwegs. Wie oft ging ich anstatt in die Schule, einfach spazieren. Ins Moor, in den Wald, in die Berge. Klar, dass das dann Prügel hagelte, wenn ich wieder auftauchte. Aber Prügel waren eh ein fester Bestandteil meiner Kindheit. Ich steckte mir Zeitungen in die Hosen und ließ sie kommen. Das war damals die Erziehung. Doch ich hatte meine Ideen, und die Prügel, anstatt sie auszutreiben, hämmerten sie nur noch tiefer in mich ein. Am Ende waren sie mir egal. Wie ein Preis für eine Freiheit, die nur ich hatte und niemand anders. Man schickte mich in eine Maurerlehre. Außer ein wenig Mauern lernte ich vor allem das Trinken! Aber ich hielt es nie lange wo aus. Ich kam ziemlich weit rum, einmal bis auf Frankreich. Ich kann sogar etwas Französisch! Meist immer mit dem Radel.“ Die Flasche war leer. „Wir müssen noch was tun, heute!“ meinte unser Chef. „Aber wir kommen morgen wieder. Wir haben ein paar Tage in der Ecke zu tun. Morgen bringen wir dir eine neue Flasche mit! Versprochen!“
Am Abend in der Pension, das gleiche Programm. Nur spielte unser Chef diesmal und die nächsten Abende mit dem Zahnarzt nicht nur um Forellen, sondern auch um Schnaps. Denn der besaß eine große Obstwiese, die er einem Bauern überlassen hatte, der ihn in Naturalien, bestem Obstler, zahlte. Am nächsten Tag richten wir es so ein, dass wir früher fertig sind und statten Joseph einen neuen Besuch ab. Der ist natürlich sehr erfreut, als er uns sieht, vor allem die Flasche. „Da, als Ersatz für das Heizmaterial, das wir dir gestern weggesoffen haben!“ „Ach, das ist nicht schlimm!“ meint er und winkt uns heran. Er zeigt uns ein Kabel mit einem Stecker daran. „Man muss mit seiner Zeit leben!“ meint er und wir sehen, das Kabel führt zu einer Heizdecke. „und wenn es noch kälter wird, habe ich eine Zusatzmethode, schaut mal her!“ Er legt sich auf seine fleckige Steppdecke, kramt zwei Bügeleisen irgendwo raus und stellt sie hochkant auf jeder Seite neben sich. „Ganz schön clever!“ müssen wir zugeben. Wir hatten vom Metzger noch ein paar belegte Semmeln übrig. Wir verteilen sie und spülen sie mit Schnaps hinunter. „Und was machst du das Jahr über?“ „Im Sommer haue ich hier ab. Da ist zu viel los auf dem Camping. Ich bin mehr für die Stille! Außerdem ist das dem Chef lieber, wegen der anderen Gäste. Die würden sich nicht wohlfühlen mit einem Penner als Nachbarn! Dann schnappe ich mein Fahrrad und fahre ins Schwäbische. Da wohne ich in einem Gartenhäusle und kümmere mich um den Garten des Besitzers, der weiter weg wohnt.“ „Und wovon lebst du? Ich meine, man braucht doch Geld und so…“ „Wenn ihr wüsstet, was alles weggeschmissen wird, heutzutage! Reden wir mal nicht von den Mülltonnen. Das sind oft Dreckdinger. Der Müll müsste getrennt werden, vor allem das Essbare extra! Wie viele Menschen könnten sich davon ernähren! Ich gehe lieber hinter die Supermärkte und schaue in die Container. Was da alles landet!“ Er wühlte in seiner Kiste und brachte ein Paket gekochten Schinken, ein paar verbeulte Dosen, verpacktes Vollkornbrot mit überschrittener Haltbarkeitsdauer. „Und dann lebe ich viel von Obst, Gemüse, man braucht sich nur richtig umzuschauen, alles ist da!“ „Und die Bullen, machen die nicht Ärger?“ „Ach, mit der Zeit kennen wir uns. Sie wissen, dass ich kein Räuber bin. Und wenn mal was rumliegt und ich es aus dem Weg schaffe, durch mich ist noch niemand zu Schaden gekommen!“ Die Flasche war leer. Unser Chef holte eine andere aus dem Kombi. Damit du eine warme Nacht hast! Bis morgen!“
Abends ging das Gespräch dann um Joseph. Der Zahnarzt verlor am Ende immer, selbst, wenn unser Chef ihm mal einen Sieg ließ. Er war zu gutgläubig. Er rechnete nicht damit, dass sein Gegenüber trickste. Aber es war ja für die Winterheizung des Clochards! „Eigentlich das ideale Leben,“ meinte Volker. „Du hast nichts, man kann dir also auch nichts nehmen. Du zahlst keine Steuern, keine Versicherungen…“