Tauben kennen ihren Weg. Gitte Osburg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gitte Osburg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738062908
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      In ihrem Kopf fuhren die Gedanken Karussell. Bin ich eine Versagerin? Steht das Wort überhaupt im Duden oder gibt es nur Versager? Eine Ehe, wie die meiner Eltern, habe ich nun nicht führen können. Wenn die das erfahren… dieses Theater halte ich nicht aus: „Denkt an die Kinder, die brauchen einen Vater!“

      Eine Autohupe riss sie aus den Gedanken. Inga drehte sich verdutzt um, ein gutaussehender Mann guckte aus dem Auto:

      „Bin ich hier richtig in der Lindenallee?“

      „Nein“, Inga überlegte kurz „immer geradeaus bis zur großen Kreuzung an der Honsel-Tankstelle, dann rechts die Straße runter, an der Fußgängerzone vorbei bis rechts die Lindenallee kommt.“ Der Mann mit den markanten Gesichtszügen bedankte sich und fuhr weiter. Früher hätte sie ihn bestimmt angehimmelt.

      Am Kindergarten angekommen brachte sie Katja schnell rein. Damit es keine Tränen gab, versprach sie abends etwas Schönes mitzubringen. Gerade wollte sie gehen, da hielt sie die Kindergärtnerin auf. „Hallo, Frau Mertens! Entschuldigen Sie, ich weiß, Sie haben nicht viel Zeit, aber nächste Woche wollen wir ein Sommerfest im Kindergarten machen, würden Sie bitte einen Kuchen oder Salat mitbringen?“

      „Ja, wann nächste Woche?“

      „Am Freitag.“

      „Geht klar, ich werde einen schönen bunten Nudelsalat mitbringen.“ Inga drehte sich um und ging raus. Hoffentlich war ich nicht zu unhöflich, dachte sie und ist schon wieder auf dem Weg. Noch einige Meter lief sie vom Kindergarten über die Wilhelmstraße durch eine schmale Gasse, dann hatte sie das Büro- und Ärztehaus in der Lindenallee erreicht. In der oberen Etage lebte und arbeitete Rechtsanwalt Dr. Zinn. Den hatte sie noch nie zu sehen bekommen. Diese obere Etage mit Dachterrasse war für Inga in der Tat so etwas wie ein Symbol für das „Ganz-Oben-Angekommen-Sein“, für das für sie Unerreichbare. An ihrer Tür, in der ersten Etage, stand „ALOE-Versicherung, Sachbearbeiterin Inga Mertens“. Sie hörte Stimmen. Wieso war der Chef schon da? Sie wollte noch mal die Akte „Konrad“ durchgehen, bevor er kam. Er hatte Besuch, schon so früh am Morgen. Zwei Herren unterhielten sich mit ihrem Chef. Als sie öffnete, trat plötzlich betretendes Schweigen ein. Hier stimmt was nicht, da bin ich gemeint, dachte Inga.

      „Frau Inga Mertens?“, fragte der Größere von beiden.

      „Ja.“

      „Kriminalpolizei“, stellte er sich vor. „Wir müssen Sie leider bitten, mit aufs Präsidium zu kommen. Wir haben ein paar Fragen an Sie.“

      Verwirrt dachte Inga, was wollen die von mir, die sollen mich in Ruhe lassen! Als wenn ich nicht schon genug Probleme hätte!

      Kapitel 3

      „Zigarette? Kaffee? Oder etwas anderes?“

      „Nein, danke!“

      Seit einer halben Stunde war sie auf dem Revier und die Fragen nach ihrer Person nahmen kein Ende. Kommt doch endlich zur Sache! Inga wurde immer nervöser.

      „Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?“

      „Gestern Abend.“

      „Wann genau, um wie viel Uhr?“

      „Um elf, äh, um 23.00 Uhr, ungefähr.“

      „Was hat er Ihnen gesagt? Wo wollte er hin, wann wollte er zurück sein? Was hat er mitgenommen?“

      „Nicht so viel auf einmal.“ wandte sich nun der große Polizeibeamte fast vorwurfsvoll an seinen jungen Kollegen. Inga war nun völlig verwirrt. Warum die vielen Fragen?

      „Er muss Ihnen doch etwas gesagt haben zum Abschied oder ist er wortlos gegangen?“

      Inga nickte: „Als er ging, hat er gar nichts gesagt. Er hat mich verlassen, eben einfach so.“

      „Einfach so? Erzählen Sie bitte, wir sind auf Ihre Hilfe angewiesen.“

      „Vorher haben wir uns gestritten.“

      „Worüber?“

      „Ich bin zu engstirnig, ich raube ihm seine persönliche Freiheit, er kann sein Leben nicht nach seinen Vorstellungen gestalten, er muss raus.“

      „Wer hat mit dem Streit angefangen?“

      „Er. Aber warum fragen Sie mich das alles?“ wollte Inga jetzt wissen.

      Doch anstatt einer Antwort folgt die nächste Frage:

      „Haben Sie eine Ahnung, wo er sein könnte?“

      „Nein, das heißt, manchmal habe ich vermutet, da ist eine andere Frau. Es verschwanden Sachen von ihm und tauchten nicht mehr auf. Einmal meinte er, der Anzug habe ihm nicht mehr gepasst und da habe er ihn verschenkt. Beim nächsten Mal hatte er angeblich was weggeschmissen, obwohl das alles noch gute Sachen waren.“

      „Haben Sie nie näher nachgeforscht?“

      „Nein, ich hatte irgendwie meinen Stolz und klammern wollte ich nicht mehr. Aber warum fragen Sie mich das alles? Was ist denn passiert?“ Scheu und ängstlich schaute sie die Polizeibeamten an.

      „Ihr Mann arbeitet doch in der Forschung, bei ChemO? Sie müssen uns helfen, ihn zu finden. Er weiß etwas, was ihn für einige Leute sehr wertvoll macht. Wir beobachten ihn schon seit einigen Tagen, aber heute Nacht haben wir seine Spur verloren. Von einer anderen Frau ist uns nichts bekannt. Jedenfalls haben unsere Kollegen nichts feststellen können.“

      In Ingas Kopf schwirrten die Gedanken, keine andere Frau. Der Streit. Warum spricht er nicht mit mir über seine Probleme?

      Ihre Antwort kam fast automatisch: „Ja, ich melde mich, sobald ich von ihm höre. Kann ich jetzt gehen?“

      Nur raus hier, diesen forschenden Blicken konnte sie nicht mehr standhalten. Der junge Beamte bot ihr an, sie wieder zurückzubringen. Inga ließ sich gleich nach Hause fahren und rief im Büro an und meldete sich krank. Nur für heute wollte sie ein paar Stunden allein sein, durch die Wohnung laufen. Und immer wieder hämmerten in ihrem Kopf die gleichen Fragen: Warum ist er weg von uns? Wo ist er?

      Vom Fenster aus schaute sie gedankenverloren Nachbars Brieftauben zu, hörte sie zufrieden gurren und sah sie turteln. Irgendwie hatte es so eine Taube doch gut. Sie wird in die große Freiheit entlassen, aber kehrt immer wieder zurück. Für sie gibt es beides: Fernweh und Heimatverbundenheit. Aber vielleicht will sie gar nicht weg, sondern wird von den Menschen dazu gezwungen und kämpft sich dann durch alle Wetterlagen nach Hause.

      Plötzlich kam Inga eine Idee. Ein Detektiv hatte Klaus beobachtet. Hatten nicht die Polizisten etwas Ähnliches gesagt? Vielleicht, nein ganz bestimmt sogar wurde sie jetzt überwacht. Unsicher schaute sie sich um. War jemand in der Wohnung? Nein, nichts festzustellen. Das sind Profis, da merke ich doch sowieso nichts, dachte sie, um gleich darauf den einmal aufgenommenen Faden weiter zu spinnen: Aber im Film finden sie doch auch immer die Wanzen. Sie fing an zu suchen. Hob alles an, was anzuheben war; nahm alles ab, was sich abnehmen ließ, immer hektischer bis plötzlich die Tränen aus ihr herausbrachen.

      Kapitel 4

      Inga stand vor dem Spiegel. Ihr verweintes Gesicht schmeichelte ihr nicht gerade. Sie beschloss: Jetzt denke ich an mich und gehe zum Frisör. Bei ihrem Frisör in der Wilhelmstraße, der Hauptgeschäftsstraße in Heiligenstadt. Dort war es voll und sie musste warten. Zum Glück bekam sie einen Fensterplatz. Verträumt schaute sie auf die Straße. Der „Untere Wilhelm“ wurde als Fußgängerzone mit vielen Geschäften ausgebaut und der „Obere Wilhelm“ ist eine befahrbare Straße ebenfalls mit vielen Geschäften geblieben. Allerdings war am „Oberen Wilhelm“ immer mehr los, weil die Meisten ihre Wege mit Auto erledigten.

      Da stand der Wagen von heute Morgen. Inga kniff die Augen zusammen. Am Lenkrad, verborgen hinter der Zeitung, saß ein Mann. Das könnte derselbe Mann von heute Morgen sein. Aha, mein persönlicher Spitzel – von wegen „Lindenallee“. Inga