Die Straße mußte kurz vor 1900 bebaut worden sein, dachte er und betrachtete die Backsteinfassaden mit den Sandsteinrahmungen der Fenster und Haustüren. Hier und da waren noch die alten hölzernen Fensterahmen zu entdecken, doch meist hatten die Produkte der Baumärkte die Häuser erobert und verunstaltet, und statt Blumenrabatten sah man ganze Batterien von Mülltonnen und Fahrradstellplätze neben ein paar kümmerlichen Mahonien und ungepflegten Rasenstücken. Das war sicher einmal eine gutbürgerliche Wohngegend, schätzte Patrick und suchte die Nummer 17. Neben der Haustür entdeckte er ein unauffälliges Metallschild „Studio Olga.“ Frau Elias sollte im Obergeschoß wohnen, dieses Studio mußte sich also im Parterre befinden – was auch immer sich dahinter verbarg.
Die Haustür ließ sich ohne vorheriges Klingeln öffnen. Der junge Mann trat in einen schmalen Flur, zur Linken an der einzigen Wohnungstür wieder ein Metallschild, diesmal nur mit dem Namen Olga versehen. Geradeaus führte eine Treppe mit ausgetretenen Holzstufen ins obere Stockwerk, das Fenster zum Hinterhof auf dem Treppenabsatz hatte noch schöne farbige Glasscheiben aus der Gründerzeit. „Bitte Schuhe abputzen“ stand in Fraktur auf einem schon recht ramponierten Emailleschild an der untersten Stufe. Einen Abtreter gab es allerdings nicht mehr, um dieser Aufforderung Genüge zu leisten.
Gerade wollte Patrick auf die Treppe zusteuern, als sich die Tür neben ihm öffnete. Eine junge Frau kam heraus; mit Jeans und Kapuzenpulli nachlässig gekleidet, trug sie eine prall gefüllte Plastiktüte in der Linken, offensichtlich voll mit allerlei Hausmüll. Doch Patricks Gruß blieb ihm fast im Halse stecken. Er kannte dieses Gesicht, diese langen dunklen Haare, diese großen Augen, diesen kaum geschminkten Mund mit den vollen Lippen! Und doch wusste er nicht, woher! Aber er hatte es schon einmal gesehen, da war er sich ganz sicher. Und es hatte ihn schon damals fasziniert – aber wann war das gewesen? Dabei schien es ihm, es wäre erst vor wenigen Tagen gewesen. Oder war es nur eine Ähnlichkeit mit einer anderen?
Einen Augenblick trafen sich ihre Blicke, die junge Frau erwiderte seinen Gruß, mit einer dunklen Stimme und einer etwas harten Aussprache, die ihn sofort auf eine slawische Herkunft schließen ließ. Daher also der Name Olga, dachte er verwirrt. Dann gab er sich einen Ruck und betrat die erste Stufe, während die Unbekannte zur Hintertür ging, um den Müll zu entsorgen.
Als Margarete Elias ihre Tür einen Spalt öffnete, sah er die Kette, die sie von innen verriegelte. Er nannte seinen Namen, und die alte Dame ließ ihn ein. „Sie sind also der Nachfolger von Pastor Berkholz,“ sagte sie und betrachtete ihn neugierig. „Das ist aber sehr freundlich von Ihnen, daß Sie mich besuchen wollen.“
Sie führte ihren Gast in ein Zimmer mit einer hohen, von einem Stuckrahmen verzierten Decke. Patrick blickte sich um: Vor den Fenstern dunkelrote samtene Portieren, dazwischen eine Standuhr aus Mahagoni, auch der ovale Tisch und drei Stühle mit hohen, gebogenen Lehnen waren aus dem gleichen Holz. Hinter dem Tisch ein ebenfalls dunkelrot bezogenes Sofa, darüber ein Ölbild in einem wuchtigen Rahmen, eine Gebirgslandschaft darstellend.
Das alles mochte altmodisch sein, aber der Pastor bewunderte die Geschlossenheit des Ganzen, die auf einen guten Geschmack schließen ließ. Auf dem Tisch entdeckte er zwei Gedecke, eine Kaffeekanne, einen Teller mit Kuchen – ganz offensichtlich hatte die alte Dame mit Besuch gerechnet, genauer, mit nur einem einzigen Gast. Und das war er. Irgendwie tat sie ihm leid: Sie hatte nicht nur keine Angehörigen in der Nähe, sondern offensichtlich auch keine Bekannten oder Freundinnen. Doch Frau Elias hatte seinen Blick bemerkt und lächelte: „Das ist für den Pastoren, meine Bridgeschwestern kommen immer erst nachmittags.“ Also eine Fehleinschätzung!
Patrick überreichte endlich sein Geschenk, sagte ein paar Worte zum Anlaß, dann nötigte seine Gastgeberin ihn auf das Sofa, setzte sich ihm gegenüber und begann, munter zu plaudern. Und sie war gut informiert über das Zeitgeschehen, wie er feststellen mußte. Doch irgendwie konnte er sich nicht recht auf das Gespräch konzentrieren, immer wieder geriet ihm die schöne Unbekannte von dort unten in den Sinn. So nutzte er die Gelegenheit, als die Unterhaltung etwas ins Stocken geriet, und fragte die alte Dame möglichst beiläufig: „Als ich ins Haus kam, hing neben der Tür ein Schild mit einem Studio oder so ähnlich. Haben Sie einen Fotografen als Nachbarn?
Margarete Elias sah ihn mit einem irgendwie traurigen Blick an: „Ach, die Olga meinen Sie. Ja, wissen Sie, das ist so eine Geschichte. Ich will weiß Gott nichts Schlechtes über andere Menschen sagen, das soll man doch nicht, Herr Pastor, nicht wahr?“ „Nein, sicher nicht. Aber was ist an einem Studio denn so schlechtes?“
„Nun ja, vielleicht bin ich auch bloß etwas altmodisch, und die Olga ist eigentlich ein ganz nettes Mädchen. Ja, das ist sie. Bloß...“ Sie schwieg, aber als der junge Pastor sie fragend anblickte, setzte sie sich möglichst gerade und holte einmal tief Luft.
„Wissen Sie, Herr Pastor, man kann ja nicht immer bloß lesen oder auf den Fernseher gucken. Da rücke ich mir dann gern den Stuhl ans Fenster und schaue einfach ein bisschen hinaus. Es ist bestimmt nicht gerade viel los hier in unserer Straße. Nur morgens, wenn die Nachbarn zur Arbeit fahren und die Pendler dann hier einen Platz für ihr Auto suchen, ist es laut und lebhaft. Die Leute gehen von hier zum Bahnhof zu ihrem Zug nach Hamburg, denke ich. Genau genommen laufen sie eher, das ist heute wohl so, wo keiner mehr Zeit hat.“
Patrick spürte, wie sein Gegenüber ablenken wollte. Irgend etwas schien ihr unangenehm zu sein, aber das steigerte nur noch sein Interesse. „Sie wollten doch eigentlich etwas zu dem Studio sagen,“ unterbrach er sie, möglichst beiläufig und bemüht, keinen Vorwurf auszusprechen.
Frau Elias blickte ihn ein wenig gequält und schuldbewusst an. „Ja, verzeihen Sie, ich komme manchmal vom Hundertsten ins Tausendste. Also, die Olga... Also, das ist so, und ich will wirklich nichts Schlechtes über sie sagen...“ Irgendwie kam sie wieder ins Stocken, doch dann raffte sie sich auf: „Also, wenn ich so hinausschaue, dann sehe ich oft Männer, die hier ins Haus kommen. Eine ganze Reihe, und ziemlich genau jede Stunde einer. Bei so vielen Herrenbesuche, da muß man doch denken...“ Wieder brachte sie den Satz nicht zu Ende. Doch Patrick hatte verstanden:
Das Studio dort unten war eine Art Bordell, und die schöne Unbekannte namens Olga eine Prostituierte. Das war ja bekannt, daß die Damen heute in irgendeiner stillen Straße eine Wohnung für ihr Geschäft anmieteten. Es gab diese kleinen Anzeigen in der Tageszeitung und die Hinweise im Internet, da brauchte es keiner behördlich kontrollierten Häuser mehr. Nicht umsonst war die Clemensstraße im ehemaligen Hafenviertel längst wieder eine normale Wohnstraße, auch wenn ihr Ruf noch nicht ganz vergessen war.
Irgendwie war Patrick enttäuscht: Das Mädchen, das ihm da eben begegnet war, das ihn irgendwie berührt hatte, war nichts als eine ganz gewöhnliche Hure. Nur eines schien jetzt klar zu sein: Er war dieser Frau ganz sicher noch nie begegnet. Es konnte nur irgendeine Ähnlichkeit sein, die ihn diese plötzliche Sympathie empfinden ließ. Auch wenn er sich nicht erinnern konnte, wem sie ähnlich sieht.
Frau Elias machte noch immer ein bekümmertes Gesicht. „Die Olga ist ganz sicher nicht so eine... Sie wissen schon, Herr Pastor. Und sie kommt ja auch nicht von hier, sondern irgendwo aus dem Osten. Man hört das ja auch deutlich. Und man liest ja auch, daß diese Mädchen irgendwie gezwungen werden, also entführt oder so. Und auch wenn Olga immer freundlich zu mir ist, ich bin sicher, sie ist sehr, sehr traurig. Vor allem, wenn dieser glatzköpfige Kerl mit seinen Kumpanen hier auftaucht, abends meistens, dann dröhnt da unten die Musik, und danach hab ich die Olga schon öfter weinen hören. Aber was soll ich alte Frau da machen!“ Margarete Elias hatte ihre Hände im Schoß gefaltet und blickte ihren Besucher ratlos an.
Patrick nahm sich zusammen. Er war hier, um dieser alten Dame zum Geburtstag zu gratulieren, und die Frau dort unten ging ihn erst einmal nichts an. Aber Frau Elias mit ihrem Mitgefühl und ihrer Hilflosigkeit umso mehr. Er griff nach ihren Händen: „Nein, da können Sie wahrscheinlich wenig machen. Aber ich finde es schön, daß Sie