Waldesruh. Christoph Wagner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Wagner
Издательство: Bookwire
Серия: Hauptkommissar Travniczek ermittelt inHeidelberg
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738083446
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jetzt doch leid, und so drückte er ihm seine Karte in die Hand.

      „Wenn ein Schaden entstanden ist, wenden Sie sich an uns. Wir deklarieren das als Notfalleinsatz. Das kriegen wir dann schon irgendwie mit der Versicherung geregelt.“

      Er ließ den Mann stehen, sprang in seinen Dienstwagen, rief seinen Helfern noch ein kurzes „Danke, die Herren!“ zu und fuhr mit Blaulicht und Martinshorn weiter in Richtung Wilhelmsfeld.

      Sofort rief er Wolfgang Maurischat wieder an. Der war erneut völlig durcheinander. Die Funkstreife sei inzwischen gekommen. Nachdem die Beamten aber herausgefunden hätten, wer er war, seien sie sehr unfreundlich geworden, hätten ihm selbst gewissermaßen die Schuld gegeben an diesem Überfall und wären, ohne irgendetwas zu unternehmen, gerade eben wieder weggefahren.

      Travniczek ließ seine Wut zunächst am Gaspedal aus. Schon bei der ersten glücklicherweise nur leichten Kurve kam der Wagen ins Rutschen und er konnte ihn nur mühsam wieder in die Spur bringen. Er reduzierte das Tempo, ließ sich vom Präsidium die Nummer des Streifenwagens geben und rief sofort an.

      „Sie waren gerade an einem Tatort in Waldesruh, in der Wohnung Maurischat. Wie ist dort die Lage?“, fragte er, sich arglos gebend.

      „Kein Problem. Es ist nichts weiter. Da ist einer nach zehn Jahren Knast wegen Mord zurückgekommen, und in der Bevölkerung gibt’s verständlicherweise etwas Aufruhr. Da hat wohl jemand überreagiert und einen Stein ins Fenster geworfen. Warum kommt dieser Dummkopf auch wieder an seinen alten Wohnort zurück? Hätte sich doch denken können, dass er da nicht freundlich empfangen wird.“

      „Und deswegen hielten Sie eine ordnungsgemäße Tatortsicherung für überflüssig?“, fuhr ihn Travniczek an.

      „Ähm, … wir haben halt gedacht …“

      „So, gedacht haben Sie. Sie fahren augenblicklich zurück! Ich schätze, dass ich in etwa einer halben Stunde dort ankomme. Wenn ich dann nicht alles so vorfinde, wie es gemäß Ihrer Dienstvorschrift zu sein hat, sorge ich dafür, dass Sie danach froh sein können, wenn Sie im Präsidium noch die Scheißhäuser putzen dürfen.“

      Nur allmählich konnte er sich beruhigen. Was machte ihn so dünnhäutig, fragte er sich wieder. So aufregend war doch der Fall bis jetzt eigentlich nicht. Konnte er sich nicht verzeihen, dass er wieder in sein altes Muster gefallen war und bei seinem Bemühen um den Fall Maurischat einmal mehr seinen eigenen Fall, die Problematik um seine Tochter und ihren Stiefvater, erfolgreich verdrängt hatte?

      „Du wirst Julia heute noch anrufen“, befahl er sich. „Keine Ausreden mehr!“

      Er konnte noch nicht wissen, warum das diesmal tatsächlich nicht möglich sein sollte.

      Innerlich sehr viel ruhiger fuhr er weiter. Der Schnee fiel immer dichter. Es kamen ihm kaum noch Fahrzeuge entgegen und er fürchtete, dass er bald auch trotz Winterreifen steckenbleiben könnte. So hielt er an, stieg aus und montierte die Schneeketten.

      Es wurde richtig dunkel und das Licht der Frontscheinwerfer ließ den dicht fallenden Schnee wie eine geschlossene Wand erscheinen. Es war kein Fahren mehr, sondern eher ein langsames Vorwärtstasten. So brauchte er noch mehr als eine halbe Stunde, bis er Waldesruh endlich erreichte. Erleichtert atmete er auf.

      Er wusste, dass die Maurischats gleich das erste Haus links der Straße bewohnten. Davor stand der Streifenwagen. Das Grundstück war ordnungsgemäß abgesperrt. Vor der Eingangstür kam ihm ein Schutzpolizist entgegen.

      „Polizeiobermeister Venske“, stellte der sich beflissen vor. „Wir haben das Haus vorschriftsmäßig abgesperrt, die zertrümmerte Fensterscheibe fotografiert, auch den Stein, der drinnen liegt, und die Spurensicherung verständigt. Sonst können wir hier nichts mehr tun.“

      „Das sehen wir gleich“, meinte Travniczek ironisch lächelnd. „Haben Sie irgendwelche Personen gesehen, die vielleicht als Zeugen in Frage kämen?“

      „Nein, hier war niemand. Die ganze Zeit nicht.“

      Merkwürdig, dachte Travniczek. So wie die Scheibe aussah, musste es ja heftig gekracht haben, und hier herrschte sonst Totenstille. Normalerweise konnte man sich doch bei so einem Ereignis vor Schaulustigen kaum retten.

      Inzwischen war hinter Venske seine Kollegin aufgetaucht, der man ansah, dass sie sich im Augenblick nichts sehnlicher wünschte, als sich unsichtbar machen zu können.

      „Dann brauche ich Sie jetzt doch noch. Gehen Sie bitte ortseinwärts und läuten Sie an den nächsten Häusern. Fragen Sie nach, ob jemand etwas gehört oder gesehen hat.“

      „Verstanden. Das werden wir rausfinden“, antwortete Venske, drehte sich schnell um und ging mit seiner Kollegin die Dorfstraße hinein. Sie wollten sich unbedingt rehabilitieren.

      Travniczek sah ihnen nach. Schnell wurden sie im dichten Schneegestöber undeutlicher, bis er nur noch ihre Umrisse erkennen konnte, die sich dann auch auflösten.

      Jetzt erst fiel ihm der diffuse rötliche Schein auf, der von weit hinten oben am Berghang ausging und sich über das ganze Dorf legte. Seine Quelle war durch das Schneetreiben verborgen. Was konnte das sein? Zuerst dachte er an Feuer. Aber dazu hätte der Lichtschein unruhiger sein müssen. Es konnten auch ein paar starke Scheinwerfer sein, aber wofür sollten die in so einem winzigen Dorf dienen? Die latente Beklemmung, die sich seiner zu bemächtigen begann, bemerkte er noch nicht. Er hörte das ganz leise Wispern des fallenden Schnees. Irgendwo bellte ein Hund. Weiter entfernt antwortete ein anderer. Sonst war der Ort wie ausgestorben.

      Nur die vordersten Häuser waren im dunklen Weiß des nächtlichen Schnees noch einigermaßen deutlich zu erkennen. Der löste weiter hinten die Konturen in flimmernde Bewegung auf. Es kam ihm vor, als ob die Häuser mit dem spitzen Kirchturm schemenhaft zu einer lautlosen Musik tanzten. Wo war er da hineingeraten? Von dem rötlichen Leuchten schien ihm ein Sog auszugehen. War das vielleicht alles gar nicht wirklich? War das ein Spuk, ein Tanz von bösen Geistern, die ihn in ihren Bann ziehen wollten, um ihn niemals wieder freizugeben? War das rote Leuchten nicht gar so etwas wie der Eingang zur Hölle?

      Da – auf der anderen Straßenseite hinter einem Zaun – Bewegung: Zwei Gnome mit Mütze und dickem Wams? – – – Nein, es waren Kinder mit Pudelmützen, so in dicke Winterjacken eingemummelt, dass er nicht ausmachen konnte, ob es Jungen oder Mädchen waren. Sie mochten vielleicht zehn Jahre alt sein. Trotz der schwachen Beleuchtung glaubte er zu erkennen, dass es nicht Neugier war, die sie zum Haus herübersehen ließ, sondern eher so etwas wie bange Erwartung.

      „Kommt ihr mal her?“, rief er und winkte ihnen aufmunternd zu. Aber die Kinder sahen sich nur kurz erschrocken an. Dann zog eines das andere fort und sie waren sogleich zwischen den Häusern verschwunden.

      Warum liefen die so aufgeschreckt davon? Hatten sie Angst? Aber wovor?

      „Hallo, sind Sie Kommissar Travniczek?“

      Einen Moment setzte sein Herz aus. Dann drehte er sich um und sah einen jungen, großgewachsenen Mann aus dem Haus kommen.

      „Ja, ... Wolfgang Maurischat?“

      Der junge Mann nickte. Trotz der schwachen Beleuchtung erschien er Travniczek unmittelbar sympathisch.

      „Darf ich reinkommen?“, fragte Travniczek.

      „Natürlich.“

      Maurischat führte ihn in das Wohnzimmer. Auf dem hellen Teppichboden unmittelbar vor einem nierenförmigen Couchtisch sah er einen großen Blutfleck. Nicht weit davon entfernt lag ein schwerer Ziegelstein. Durch die zerborstene Fensterscheibe konnten Kälte und Schnee ungehindert eindringen.

      Travniczek ließ den Rollladen herunter.

      „Ich sollte doch alles so lassen, wie es war“, entschuldigte sich Maurischat verlegen.

      „War auf jeden Fall richtig, aber erfrieren brauchen wir deshalb trotzdem nicht. – Wie geht es Ihrem Vater?“

      „Der Arzt meinte, außer der Platzwunde wahrscheinlich