Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Edith Stein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Edith Stein
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783738023152
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Wert gelegt, und ich glaube, daß dies mehr als alles andere dazu beigetragen hat, ihr ihr jüngstes Kind besonders teuer zu machen. Und weil unser Schicksal in eigentümlicher Weise verflochten ist, darum ist es wohl angebracht, daß ich in diesem Lebensbild meiner Mutter von meiner eigenen Entwicklung etwas mehr sage als von der meiner Geschwister.

       3.

      Meine Eltern wohnten seit anderthalb Jahren in Breslau, als ich am 12. Oktober 1891 zur Welt kam. Im Juli 1893 starb mein Vater. Ich berichtete schon, daß meine Mutter mich auf dem Arm hielt, als er von uns Abschied nahm, um die Reise anzutreten, von der er nicht lebend zurückkehren sollte, und daß ich ihn noch einmal zurückrief, als er sich schon zum Gehen gewandt hatte. So war ich für sie das letzte Vermächtnis meines Vaters. Ich schlief bei ihr im Zimmer, und wenn sie abends müde aus dem Geschäft heimkam, dann war ihr erster Weg zu mir. Ja, wenn ich krank war, nahm sie sich kaum Zeit, den Mantel abzulegen, setzte sich zu mir auf den Bettrand und ließ sich das einfache Abendessen dorthin bringen.

      Ihre Gegenwart verscheuchte aber auch bei mir alle Leiden und Schmerzen. Als ich 7 Jahre alt war, durfte ich für die Weihnachtsferien mit Erna nach Lublinitz fahren. Am Heiligen Abend bekam ich heftige Schmerzen und konnte von dem guten Weihnachtskarpfen nichts mehr herunterschlucken. Der Arzt stellte eine Infektion fest, und ich mußte die ganzen Ferien als Patientin zubringen. Da meine Mutter ihr Geschäft nicht im Stich lassen konnte, schickte sie meine Schwester Else, um mich zu pflegen. Am Sonntag aber war sie selbst, ohne Anmeldung, plötzlich da. Weil es mir in dem großen Schlafzimmer im Giebel etwas einsam war, hatten mich die guten Tanten heruntergeholt und auf das Sofa im gemütlichen Eßzimmer gebettet. Als meine Mutter plötzlich im Türrahmen stand, war ich mit einem Sprung an ihrem Hals und blieb dann auf ihrem Schoß, bis sie am Abend wieder heimfahren mußte.

      Trotz dieser innigen Verbundenheit war meine Mutter nicht meine Vertraute — so wenig wie sonst jemand. Ich machte für den äußeren Betrachter unbegreifliche, sprunghafte Umwandlungen durch. In den ersten Lebensjahren war ich von einer quecksilbrigen Lebhaftigkeit, immer in Bewegung, übersprudelnd von drolligen Einfällen, keck und naseweis, dabei unbezähmbar eigenwillig und zornig, wenn etwas gegen meinen Willen ging. Meine älteste Schwester, die ich so sehr liebte, hat ihre junge Erziehungsweisheit vergeblich bei mir angewandt. Ihr letztes Mittel war, mich in eine dunkle Kammer zu sperren. Wenn diese Gefahr drohte, legte ich mich steif auf den Boden, und meine zarte Schwester konnte mich nur mit äußerster Anstrengung aufheben und forttragen. In dem finstern Gefängnis ergab ich mich keineswegs in mein Schicksal, sondern schrie aus Leibeskräften und trommelte mit beiden Fäusten gegen die Tür, bis meine Mutter schließlich sagte, dies könne man den Mitbewohnern des Hauses nicht zumuten, und mich befreite.

      Das war es, was meine Angehörigen für gewöhnlich äußerlich an mir beobachten konnten. Aber in meinem Innern gab es noch eine verborgene Welt. Was ich am Tage sah und hörte, das wurde dort verarbeitet. Der Anblick eines Betrunkenen konnte mich tage- und nächtelang verfolgen und quälen. Ich bin später oft dankbar gewesen, daß von meinen Brüdern in diesem Punkte nichts zu befürchten war und daß ich auch keinen andern mir nahestehenden Menschen in diesem schauderhaften Zustand sehen mußte. Es blieb mir immer unbegreiflich, wie man über so etwas lachen konnte, und ich habe in meiner Studentenzeit angefangen, ohne einer Organisation beizutreten oder ein Gelübde abzulegen, jeden Tropfen Alkohol zu meiden, um nicht durch eigene Schuld etwas von meiner Geistesfreiheit und Menschenwürde zu verlieren. Wenn in meiner Gegenwart von einer Mordtat gesprochen wurde, lag ich nachts stundenlang wach, und das Grauen kroch aus allen dunklen Ecken auf mich zu. Ja, ein etwas derber Ausdruck, den meine Mutter in meiner Gegenwart erregt aussprach, schmerzte mich so, daß ich die kleine Szene (eine Auseinandersetzung mit meinem ältesten Bruder) nie vergessen konnte. Von all diesen Dingen, an denen ich heimlich litt, sagte ich niemanden je ein Wort. Es kam mir gar nicht in den Sinn, daß man über so etwas sprechen könnte. Nur selten verriet ich meinen Angehörigen etwas davon; ich bekam nämlich manchmal ohne erkennbare Ursache plötzlich Fieber, und im Delirium sprach ich dann aus, was mich innerlich beschäftigte. Einen solchen Fall haben mir meine Geschwister oft erzählt. Als ich etwa 5 Jahre alt war, las meine Schwester Frieda in der Schule „Maria Stuart“ und durfte dann mit meiner Mutter ins Theater gehen, als das Stück aufgeführt wurde. Es war vorher viel davon die Rede, und ich hatte wie gewöhnlich mehr aufgeschnappt als für mich bestimmt war. Während die beiden im Theater waren, kamen bei mir die Fieberphantasien, und ich rief ein über das andere Mal in großer Erregung: „Schlagt doch der Elisabeth den Kopf ab!“ Ich erinnere mich noch wie nachhaltig dieser Eindruck war. Als ich im nächsten Jahr anfing, zur Schule zu gehen, und so weit war, daß ich Gedrucktes notdürftig lesen konnte, suchte ich mir den richtigen Band von Schillers Werken aus dem Familienbücherschrank, ging damit zu meiner Mutter in die Küche und fragte sie, ob ich ihr „Maria Stuart“ vorlesen dürfte. Sie sagte ganz ernsthaft: „Lies nur“. Wie weit ich damals gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Man kann sich denken, daß solche plötzlich hervorbrechenden Feuergarben meine Angehörigen erschreckten. Man nannte das „Nervosität“ und suchte mich nach Möglichkeit vor Überreizung zu schützen.

      Die erste große Umwandlung vollzog sich in mir, als ich etwa 7 Jahre alt war. Ich wüßte keine äußere Ursache zu nennen. Ich kann es nicht anders erklären, als daß damals die Vernunft in mir zur Herrschaft kam. Ich erinnere mich gut, daß ich von da ab die Überzeugung hatte, meine Mutter und meine Schwester Frieda wüßten besser als ich, was für mich gut wäre, und daß ich ihnen in diesem Vertrauen bereitwillig gehorchte. Der alte Eigenwille schien verschwunden, ich war in den folgenden Jahren ein leicht lenksames Kind. Hatte ich mir eine Unfolgsamkeit oder eine ungezogene Antwort erlaubt, so bat ich bald wieder um Verzeihung, obwohl mich das jedesmal die größte Überwindung kostete, und war glücklich, wenn dann der Friede wieder hergestellt war. Zornesausbrüche kamen kaum noch vor; ich erreichte schon früh eine so große Selbstbeherrschung, daß ich fast ohne Kampf eine gleichmäßige Ruhe bewahren konnte. Wie das geschah, weiß ich nicht; ich glaube aber, daß der Abscheu und die Scham, die ich bei Zornesausbrüchen anderer empfand, das lebhafte Gefühl für die Würdelosigkeit eines solchen Sich-gehen-lassens mich geheilt haben.

      Allmählich wurde es auch in der inneren Welt lichter und klarer. Gehörtes und Gesehenes, Gelesenes und Selbsterlebtes boten einer regen Phantasie Stoff zu den kühnsten Bauten. Ein großes Ereignis, das mich lange beschäftigte, war der 80. Geburtstag einer Großtante, zu dem aus der weitverzweigten Verwandtschaft wohl 100 Personen geladen waren. Die alte Dame (Frau Johanna Radlauer; ich habe den Namen schon früher erwähnt) hatte selbst ihren jugendlichen Frohsinn noch bewahrt, und ihre vielseitig begabten Kinder und Enkel verstanden es, glänzende Feste vorzubereiten. Auf dem reichhaltigen Programm stand diesmal ein Tanz aus Großmutters Jugendtagen, den 8 Kinderpaare in Kostümen der Zeit aufführen sollten. Die Ballettmeisterin des Stadttheaters, eine Französin, übte ihn ein. Meine Schwester und ich waren eins der Paare; wir waren damals 9 und 7 Jahre alt. Da wir zu den Jüngsten gehörten und in keiner Kindertanzstunde vorgebildet waren, traute man uns nicht viel zu und stellte uns ganz in den Hintergrund. Aber schon in der ersten Probe holte uns Mme. Prochère in die vorderste Reihe. Sie war begeistert von der Fixigkeit, mit der ich ihre Ideen erfaßte und ihnen entsprach. Sie fragte mich öfters, ob ich nicht ganz zu ihr ins Ballet kommen wollte. Ich hielt diese Frage für gar keiner ernsthaften Antwort wert; trotzdem schmeichelte sie meiner Eitelkeit sehr. Erna war etwas steifer; aber das schadete nichts, weil sie der „Herr“ war. Sie bekam einen Frack aus braunem Samt und hellblaue Kniehosen, ich ein Kleidchen aus hellem, geblümtem Stoff, dazu hochfrisierte Haare mit Rosen darin. Man hatte uns angekündigt, daß wir auch geschminkt werden müßten. Dagegen protestierte ich lebhaft und zu meiner Freude erwies es sich an dem Festabend als völlig überflüssig, weil wir alle vor Erregung glühten und keines künstlichen Rots mehr bedurften. Man klatschte uns reichlich Beifall; ich wurde zusammen mit einer Cousine, der man neben mir den Preis der besten Tänzerin zusprach, zu dem greisen Geburtstagskind geführt, um einen besonderen Dank zu empfangen. Dann hob mich mein Onkel David mit beiden Händen empor und stellte mich auf eine Fensterbank, damit alle Menschen in dem großen Saal das winzige Persönchen recht sehen könnten. An diesem Abend guckte ich den Erwachsenen alle Tänze ab und wurde schließlich zu ihnen mit aufgefordert. In den nächsten Wochen brachte mir mein Bruder Arno, der ein guter Tänzer war, zu Hause bei, was mir etwa noch fehlte. Er war damals 22 Jahre