Das Zimmer, das sie damals bei den Schwiegereltern zugewiesen bekam, war der Sitte entsprechend fernab von den Männergemächern. Noch heute vermag sie dem angenehm süßlichen Duft ihres Schlafraums nachzuspüren, den die mit Dörrobst gefüllten Säcke dauerhaft verströmten. Auch hat sie den Fronmeister noch vor Augen, der durchs Dorf ging und rief: „Morga wird g´fraunat!“ (gefront). Auf Nachfrage erklärte man ihr, dass jeder arbeitsfähige männliche Einwohner verpflichtet sei, für die Gemeinde kostenlose Hand- und Spanndienste zu leisten. Das hieß für den Einzelnen entweder ein Fuhrwerk zur Verfügung zu stellen, oder Hand an allgemeine Arbeiten, wie z.B. die Ausbesserung von Feldwegen, zu legen. Nach dem Bau des Aichschießer Gewerbegebiets wurde diese Verordnung nicht mehr zur Anwendung gebracht, da solche Arbeiten nun, infolge der zu entrichtenden Gewerbesteuer, gegen Lohn vergeben werden konnten.
Obwohl als Städterin an das Landleben nicht gewöhnt, half sie bei allen landwirtschaftlichen Arbeiten, besonders gerne aber beim Beerenpflücken. Auch während des Krieges war sie fleißig bei der Beerenernte dabei und opferte dafür sogar ihren kostbaren Urlaub.
Irene Ellgring, später Gläser
An den 12.12.1937, den Tag, als sie ihrem Robert zum ersten Mal begegnete, erinnert sich Irene Gläser gern. Sie lernte den jungen Unteroffizier in Fliegeruniform in einem Tanzlokal beim Flugplatz Berlin-Fürstenwalde kennen. Sie, die fesche 18-jährige technische Angestellte, war gleich von zweien zum Englischen Walzer aufgefordert worden. Dass sie dem Schwaben den Vorzug gab, bereute sie nie. War es Zufall oder Bestimmung? Manchen mag es zu gefühlsbetont anmuten: Just als das junge Paar die Tanzfläche betrat, wurde der Schlager „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein“ aufgespielt. Das Resultat dieses ersten Treffens ist bekannt: Verlobung im Jahr 1939, 1941 die Hochzeit, Geburt der Tochter Gabriele im Jahr 1944 und 1947 die des Sohnes Martin.
In späterer Zeit beim Tanz
Über verschlungene Wege – sie wohnte in der russisch besetzten Zone von Berlin – erhielt sie im August 1945 die Nachricht, dass ihr Mann aus der englischen Internierung entlassen worden war und sich bei ihren Schwiegereltern in Aichschieß befand. Sofort machte sie sich, zusammen mit ihrem Vater, auf den Weg, zu Fuß, die einjährige Tochter im Kinderwagen. Nach sieben gefahrvollen Tagen, erschöpft, aber zum Glück unbeschadet, erreichte sie völlig entkräftet den künftigen Wohnort.
Übermäßig erfreut über die weiteren Esser am Tisch waren die Schwiegereltern nicht, krank und ausgehungert wie die beiden waren. Auch schrie die Kleine viel, schrie die erlebte Not und Entbehrung aus ihren Lungen.
Trotz leichter gesundheitlicher Probleme half die junge Frau im nachfolgenden Frühjahr bei allen in der Landwirtschaft anfallenden Arbeiten aus.
Bei Engpässen halfen Gläsers selbst später noch aus
Die Aichschießer nahmen Irene Gläser überaus freundlich auf, wohl auch, weil sie die Frau ihres geschätzten Robert war, dessen spontane Einfälle schon in seinen jungen Jahren für manches Aufsehen gesorgt hatten. So war er mehrere Male mit seiner „Ju“ so tief über den Heimatort geflogen, dass „die Milch sauer wurde“ und seine Eltern beinahe buchstäblich vom Kirschbaum gefallen wären.
Des Schwäbischen nicht mächtig, war sie des Öfteren auf die Übersetzerdienste ihrer Schwiegermutter angewiesen. Da diese vor ihrer Heirat als Köchin beim Prälaten in Stuttgart in Stellung gewesen war, sprach sie einen gepflegten, verständlichen Dialekt. Unverständlich war für die Berlinerin am Anfang nicht nur die Aussprache, sondern auch der Sprachgebrauch, doch mit der Zeit lernte sie verstehen, dass halten – „heben“, anheben – „lupfen“, gehen – „laufen“... bedeutete.
Manches blieb unausgesprochen, konnte nicht nachvollzogen werden. Als ihre Schwiegermutter sie einmal aufforderte: „Erzähl doch mal, wie es euch in Berlin ergangen ist!“ und sie antwortete: „Ach, das kann ich gar nicht erzählen, das war so furchtbar“, meinte diese: „Denkst du, wir haben nichts durchgemacht? Mir haben die Franzosen auch vier Hühner erschossen.“
1946 wurde Robert Gläser Bürgermeister, 1947 seine Frau Irene seine Sekretärin. Nun zogen sie an einem Strang, beruflich wie privat. Die Gespräche griffen über, auch bei Tisch wurde „erörtert“. So wusste die Sekretärin Bescheid und konnte auch Entscheidungen während der Abwesenheit ihres Mannes treffen – zwar rechtlich nicht bindend, aber doch manches auf unbürokratische Weise voranbringend.
Bereits als Neuling in Amt und Würden wusste ihr Mann mit dem hiesigen Menschenschlag umzugehen und entwickelte schon nach kurzer Zeit eine gewisse Beharrlichkeit. So hatte der Architekt Kallhardt, der bereits das Schanbacher Rathaus geplant hatte, seine Bitte, doch auch den Auftrag für das Aichschießer Rathaus zu übernehmen, abschlägig beschieden. Nach der Währungsreform suchte Robert Gläser den Architekten mit einer Flasche besten Kirschgeistes im Arm nochmals auf, und konnte nach der gemeinschaftlichen Dezimierung des Inhalts derselben doch noch einen Erfolg verbuchen.
Viele große Aufgaben standen in der Nachkriegszeit an, die dank des gesunden Eichenbestands im Gemeindewald finanziert werden konnten. Die Hauptstraße, die bei den Einheimischen aufgrund ihres Zustandes „Schweizerkässtraße“ genannt wurde, musste saniert werden. Der Bau eines „Leichenhäusles“ wurde zwingend notwendig, da die Überbelegung in den Häusern – die ehemals ca. 430 Aichschießer Bürger hatten über 200 Zuwanderer aus den Ostgebieten aufnehmen müssen – es nicht zuließ, die Toten wie gewohnt in den Häusern aufzubahren. Der Bau des Rathauses, der Schule und der Flüchtlingssiedlung mussten auf den Weg gebracht werden.
Doch trotz des abverlangten hohen Arbeitseinsatzes im Amt fiel die Entlohnung mager aus. Als „ungelernter“ Bürgermeister erhielt Robert Gläser in den ersten Jahren lediglich 137,50 RM, später dann stolze 200 DM. Auch seine Frau Irene musste sich mit wenig begnügen. Zu ihrem Monatslohn von 60 DM kam nach dem Rathausneubau eine Vergütung fürs Putzen desselben in Höhe von 27 DM hinzu. „Genau genommen waren wir bitterarm damals“, erinnert sie sich, „aber die Arbeit haben wir trotzdem mit Freude gemacht“.
Da alle drei Aichwalder Bürgermeister nicht als solche ausgebildet, sondern „Bauernschultes“ waren, wurde ihnen in finanziellen Angelegenheiten ein Verwaltungsaktuar beigestellt. Irene Gläser führt dazu in ihren privaten Erinnerungen aus: „Dieser (der Verwaltungsaktuar) kam in unregelmäßigen Abständen mit seinen Gehilfen vom Landratsamt und hielt die Rechnungsakten auf dem Laufenden, stellte mit dem Bürgermeister den Haushaltsplan auf, beriet ihn, und die Gehilfen saßen derweilen da und machten die Eintragungen der Rechnungsbelege in das geheiligte Sachbuch...“ Später, als der pensionierte Bürgermeister Hahn aus Esslingen den Posten des Aktuars ausfüllte, brachte dieser dem Ehepaar Gläser die Grundzüge der kameralistischen Buchführung bei, so dass sie mehr und mehr Aufgaben eigenständig erledigen konnten.
Ihr Mann Robert war, wie Irene Gläser es ausdrückt, ein Mann, der mit dem Volke sprach und den hiesigen Sprachgebrauch zeitlebens hochhielt. Gar manches Mal bedauerte er, dass er sich die deftigen Aussprüche, die früher hier üblich waren und in den alten Sühnebüchern nachzulesen sind, nicht leisten konnte. Auch hier hält Irene Gläser fest: „Da wimmelt es nur so von Liebkosungen wie: Du bist der allerliedrigschte Lomp vom ganzen Oberamt; da wird vom Schullehrer gesprochen: Du versoffener Lomp; Scherenschleifer, Lausbua, Bettsaicher, Hurabua, Schindmäre...