Zip zitterte am ganzen Leib vor Schreck und Anstrengung. „Danke“, zwitscherte sie, „du hast mir das Leben gerettet.“ Er legte ihr einen Flügel über die Schulter. Sie bebte am ganzen Leib. „Nun beruhige
dich, alles halb so schlimm, ich habe so was schon oft erlebt und sowieso, so ein tapferes Spatzenmädchen wie dich habe ich noch nie getroffen!“ Zip errötete etwas: „Komm, laß uns um die Wette fliegen, runter zum Wald, ich muß nach Hause, es ist schon spät, meine Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen!“
Gemeinsam stürzten sie sich von dem dünnen Zweig, der, entlastet von dem Spatzengewicht, nach oben schnellte und dabei beinahe einen träumenden, völlig losgelöst dahinflatternden Admiral traf, der erschrocken aufwachte. Zip und Zap jagten im Tiefflug auf die Terrasse zu und scheuchten die beiden dösenden Hunde auf. Der mit dem weißen Fleck sprang hoch, unerwartet hoch, und schnappte nach Zips Flügeln, aber chancenlos.
Zip zwitscherte aus voller Brust und freute sich über den wütenden kleinen Hund. Sie bogen ab in Richtung Naturschutzgebiet, drehten und wendeten sich in der Luft und freuten sich ihres Lebens, schnappten hie und da nach kleinen Insekten, die sie aber meist verfehlten.
Sie flogen über die sanften Hügel der Geest, zwei kleine Pünktchen im Sonnenglast, auf und nieder, hin und her, freuten sich, wie gesagt ihres Lebens. Unter sich die Felder voller reifen Getreides, in denen sich schon ganze Heerscharen ihrer Artgenossen tummelten. „Pöbel aus der Stadt“, zwitscherte Zap verächtlich, „die kommen um zu hamstern.“ So verging der Nachmittag wie im Fluge, die Sonne schickte sich an, in ihr kühles Bett im Nordatlantik zu verschwinden und neue Kraft für den nächsten Sommertag zu schöpfen. „Da ist mein Hof“, rief Zap und setzte zum Sturzflug an, Zip hielt ihn am rechten Flügel fest. „Warte, warte, nicht so schnell!“ Zap kam etwas ins Trudeln, fing sich aber sofort wieder. „Sehen wir uns morgen?“ fragte Zip. „Ja, gerne“, antwortete er, „… sehr gerne, um 12 am Teich?“ „Um 12 am Teich!“ rief Zap, drehte einen doppelten Immelmann und flog Richtung Hof davon.
Der Sommer ging dahin, die Felder wurden abgeerntet und Zip und Zap sahen sich täglich. Flogen ganz oft zu dem Teich mit dem Haus und den Hunden. Sie kühlten ihre Flügel im klaren Wasser der Randzone des Teiches, wohlbedacht, den gefährlichen Kois nicht zu nahe zu kommen. Lange Flüge über das flache Land, die Tage waren viel zu kurz, es gab so viel zu entdecken. Langes Gezwitscher hoch auf einem Tannenzweig sitzend, das weite Land überschauend. „Ach Zip, ich möchte die Welt kennenlernen, Italien, die Alpen, das Meer und die Azoren, eben alles!!“ Die beiden waren kaum noch zu Hause. Mutter Genofefa sah es eher gelassen: „Sie müssen sich die Flügelspitzen zurechtstutzen und die Schnäbel zurechtwetzen, die jungen Leute, das ist nun mal so!!“ Manchmal brummte (brummzwitscherte) Zaps Vater Gustav: „Zap, was ist los, du bist ja überhaupt nicht mehr zu Hause, immer auf dem Zwitsch, ich meine Zwutsch, ich dachte du wolltest auch Hausspatz werden, so wie ich?“ Zap wand sich ein wenig: „Ja, Papa, hast ja Recht, aber das Wetter ist so schön und du hast doch gesagt, ich soll mich um mich selbst kümmern und zusehen, daß ich etwas auf den Tisch bringe.“ Das tat er in der Tat, Zap kam nie ohne einen gefüllten Rucksack zurück in das Nest über dem Stall der Gnadenbrotliese: Dicke pralle Maiskörner, Brotkrümel, Tortenstückchen, die er meist von dem Tisch auf der Terrasse an dem Haus am Teich holte, dort schienen die Leute und ebenso die Hunde ständig zu essen. Immer gab es reichlich und der vorsitzende Spatz, Mensch, schien sich auch noch zu freuen, wenn er, Zap, sich das eine oder andere direkt vom Teller holte. Zip und Zap trafen sich jeden Tag, erkundeten gemeinsam die Umgebung, flogen sogar bis runter nach Sulingen oder im Westen bis weit über Bassum hinaus. Sie lernten andere Jungspatzen kennen. Sie tollten herum, heckten manchen Streich aus, flogen um die Wette, machten die tollsten Flugfiguren und ab und zu landete mal einer im Misthaufen. Dann lachten alle ...! Doch am Abend eines langen Sommertages flog jeder Jungspatz immer zu seinem heimatlichen Nest zurück. So wie Zap in die Geborgenheit des wunderschönen Nestes in Bauer Alwins Stall. Dieser hatte die Spatzen schon lange bemerkt, wohnten Gustav und Genofefa doch schon einige Jahre im Gebälk über dem Pferdestall. Er pflegte zu seiner Enkelin Sara zu sagen: „Wo Spinnen und Spatzen sind, ist die Luft sauber! Merk di dat!“ Meistens schnackte Alwin plattdütsch, auch mit seinen Schweinen und den Pferden.
Am Abend saß Familie Spatz dann immer gemeinsam am Abendbrottisch, den Mutter Genofefea genauso liebevoll deckte, wie Mutter Lydia unten im geräumigen Nest an der Wand mit dem Loch zum Kuhstall. Die Jungspatzen kuschelten sich ins Stroh und hörten den Geschichten der Eltern und der Großeltern zu. Auch kamen öfter Nachbarn zu Besuch und es wurde erzählt und gezwitschert und gelacht und manche Flasche Spatzenbräu geleert. Und die Jungen hörten immer mit großen Ohren und offenen Schnäbel, den spannenden Geschichten der alten, erfahrenen Dorfspatzen zu. Auch war ab und zu mal Herrenabend angesagt, Mutter Genofefa saß dann strickend in ihrem gemütlichen Strohsessel, ab und zu ein Weizenkorn knabbernd und die Männer spielten das bekannte Spatzenspiel: WER KRIEGT DEN KRÜMEL? Dabei lachten sie und schlugen sich vor Vergnügen auf die dünnen Schenkel, wenn einer der Mitspieler einen Fehler machte. Prosteten sich einander zu, während die Damen dann doch zu vorgerückter Stunde den einen oder anderen mißbilligenden Blick herüberwarfen. Im Nest von Luigi und Lydia ging es vielleicht nicht ganz so rustikal zu, sintemalen ja Luigi einen gewissen künstlerischen Anstrich hatte, der sich ja verständlicherweise aus seiner klassischen, italienischen Gesangsausbildung herleitete und natürlich auch aus seiner Herkunft. Schließlich stammte er aus einer alten, toskanischen Spatzenfamilie aus der einzigartig schönen Stadt Siena. Luigi veranstaltete also öfter mal einen Gesangsabend für seine Freunde, die dann teilweise sogar extra aus Bremen herangeflogen kamen. Da war dann sogar ein Spatz dabei, der im Gebälk eines Hauses wohnte, welches eine Musikschule beherbergte. Also schon ganz illustre Gäste. Lydia servierte das obligatorische Spatzenbräu und Luigi schmetterte eine Arie nach der anderen, so lange, bis er heiser war oder die Gäste langsam das Gähnen bekamen - manche hielten sich allerdings dabei dezent eine Flügelspitze vor den Schnabel. Ob sie nun müde vom reichlich fließenden Spatzenbräu waren oder ob seines leider dann letztendlich doch etwas einseitigen Repertoires? Zip bewunderte ihren Papa immer unendlich und konnte es gar nicht verstehen, daß Mutter Lydia manchmal so unwirsch reagierte und geräuschvoll anfing, die leeren Flaschen wegzuräumen und auch schon mal die Gäste ungeniert aufforderte, nun doch endlich heimzufliegen, sie, Lydia und Luigi, müßten früh raus …! Die Kinder in die Schule ...! Schule, überhaupt. Dreimal die Woche mußten ja alle Mädchen-Jungspatzen in die Spatzenschule nach Neubruchhausen, auf den großen Dachboden der alten Oberförsterei. Die Jungs mußten den weiten Weg in die alte, baufällige und denkmalgeschützte Scheune in Hallstedt machen, wo die Jungenschule provisorisch untergebracht war. Was wurde nicht alles unterrichtet dort: Mückenfang, Flugunterricht für Kleinstspatzen, Kunstflug für die älteren Jahrgänge, Aerodynamik, Sperberkunde, Heimatkunde, Zwitschern. Sogar Tirilieren, allerdings nur für die Fortgeschrittenen. Ausflüge wurden gemacht: In den nahen Wald, auf die reifen Kornfelder, in die Kirschbäume der näheren Umgebung und auch so manche Vogelbeerhecke wurde heimgesucht. Besonders im frühen Spätsommer, wenn die Vogelbeeren schon ein wenig gärig wurden, und die Lehrerspatzen ganz gerne mal einen Tropfen vom Vogelbeerenwein tranken. Was den Jungspatzen natürlich stricktest verboten war. Die Spatzenmädchen hatten noch einige Fächer mehr zu lernen: Nesthalt(ung) und Kochen, Stricken von Spatzenmützen und dicken Strümpfen für die Männer der Familie für den eisigen Geestwinter aus Spinnweben und allerlei gefundenen Fäden und Wollresten. Der Kochunterricht war immer wieder ein Erlebnis. Die dicke Spätzin Madame Brams von Freidorf, die Lehrkraft in den Fächern Spatzenhaushalt, Nesthalt (Haushalt), Brutkunde und fortschrittliche Spatzenküche, war schon ein etwas in die Jahre gekommenes Fräulein, nicht gerade eine alte Jungfer; der Lehrer und Dorfspatz Heinrich aus Bramstedt machte ihr durchaus Avancen. Sie konnte sich jedoch nie entscheiden und zögerte eine Antwort immer wieder hinaus …! Jedenfalls der Kochunterricht: Jedes der Jungspatzenmädchen wurde aufgefordert, für den nächsten Tag irgendetwas mitzubringen,