Im Namen meines Vaters. Navis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Navis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847634201
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und ohne Angst, der Aufzug könnte stecken bleiben.

      Mein Vater hat zwei seiner Söhne so erziehen können, dass sie ihren Wohlstand bewahren und vermehren konnten. Er sorgte auch sehr früh dafür, dass sie die besten Erzieher, die besten Lehrer und nur die besten Professoren bekamen. Einer trat schließlich in seine Fußstapfen und wurde Anwalt. Der andere studierte immerhin Wirtschaftswissenschaften und wurde Manager. Für mich hingegen reichte eine einfache Gesamtschule aus. Sie befand sich nicht weit von unserem Haus und ich konnte ohne Begleitung hinlaufen - das war das entscheidende Kriterium bei meiner Schulsuche. Mein Schicksal war damit besiegelt, denn dort konnte ich auch nur derjenige sein, der in einem riesigen Haus wohnt und reich ist. Kinder können manchmal sehr grausam sein, aber die Eltern umso mehr. Nie habe ich ein aufmunterndes Wort gehört. Immer hieß es, ich solle mich zusammenreißen, weil das vergehen wird. Irgendwann werde man mich akzeptieren. Mein Vater winkte oft nur mit den Händen ab, wenn meine Mutter ihn darauf aufmerksam machte, dass ich in der Schule geschlagen werde. Von seiner Seite hieß es nur, ich solle mich wehren lernen, das gehöre eben zum Leben. Wer sich nicht wehren könne, wer nicht aktiv sei, habe in der Welt ohnehin nichts zu suchen und werde immer das Opfer sein. Niemand gönne einem das Glück, das man hat, je früher man das erfahre, umso gewappneter sei man für später.

      Ausgeschlossen von allen verkroch ich mich in meine eigene Bücherwelt und lebte dort ein vielfältiges Leben, das selbst die alten Männer, die diese Bücher geschrieben haben, nicht durchlebten. Das gab mir Trost. Geschichten wurden meine Zuflucht, sie wurden zu meinem Raum, zu dem nur ich Zutritt hatte. Dort war ich etwas Besonderes und konnte fern ab von allen und jedem für mich sein. Bedingungslos. Dort lernte ich ein wunderbares Mittel kennen, das jedem Menschen die Ruhe ermöglicht, die er braucht: Vergessen. Als Opfer vergaß ich ein Opfer zu sein, ich vergaß, in einer prekären Lage zu sein, ich vergaß, dass man mit meinem Leben Ping-Pong spielt und mir meine eigene Denkweise nicht ermöglicht, meine eigene Entwicklung. Ich vergaß jeden Schlag, jeden Tritt, jedes böse Wort, jede Ignoranz seitens meiner Eltern, Lehrer, Brüder, Mitschüler. Ich wusste nur tief im Inneren, dass irgendetwas nicht stimmte. Solange mein Raum bestand, meine Zuflucht, war dieses innere Gefühl sehr sanft und hielt sich im Stillen auf. Für mich war es nur logisch, dass ich diesen Raum niemals aufgeben werde, nicht solange ich ihn brauche. Ich konnte nur bei den Büchern bleiben, bei meinen Geschichten, ich konnte nur die Gedanken der bereits toten Männer studieren. Als dann im Fernsehen die Bilder vom Mauerfall liefen, als die Menschenmassen die vielen Ziegelsteine herunterrissen und sich nach West-Berlin aufmachten, entschloss ich mich auch weg zu gehen. Sobald ich mein Abitur in der Tasche habe, werde ich weg sein. Endlich befreit. Ich werde auch meine Mauer überwinden, mein Regime stürzen, ihn entthronen. Ich hatte zum ersten Mal die Hoffnung, dass sich etwas ändern würde.

      Mein Vater verzweifelte fast ein wenig, zumindest hoffte ich das, als er von meinem Vorhaben erfuhr. Er kam mit Schweißperlen auf der Stirn auf mich zu und erklärte mir recht hastig, dass Lesen als Hobby eine schöne Sache, aber doch kein Beruf sei. Wie will man davon leben, wie soll man eine Familie davon ernähren? Ich bin doch gescheit, ich könnte auch etwas Anständiges studieren. Er fuchtelte mit den Armen herum und verhaspelte sich beim Sprechen. Ich hingegen blieb still. Ich widmete ihm kein Wort. Jedes Wort wäre eine bloße Rechtfertigung. Das verdient er nicht. Eigentlich wollte ich ihm so viel sagen, ihn bloßstellen, dass er endlich erkennt, was er ist. Ich wollte ihm den Boden unter den Füßen wegreißen. Ihm sein nichtiges Dasein vor die Augen führen. Ihm sagen, dass ich bloß nicht so wie er sein möchte. Bloß kein Anwalt. Von diesen gibt es genug in Deutschland. Ihm sagen, dass er mich anwidert, dass ich lieber ungeboren wäre als ihn zum Vater zu haben. Ich sagte aber nichts. Ich schwieg lediglich. Ich bestrafte ihn mit bloßem Schweigen. Als er sich beruhigte, nichts mehr zu sagen hatte, weil ihm seine gespielte Aufregung selbst zu langweilig wurde, machte er sich davon und ließ mich in Ruhe. Meine Mutter meinte, es wäre vieles einfacher, wenn ich ein Mädchen gewesen wäre. Aber ein Junge, der Schriften studiert, das passe einfach nicht zu seinem Weltbild. Er sei eben vom alten Schlage (ein Vater sorge für seine Familie und von Geschichten könne man nicht wirklich leben, keine Familie gründen). Dafür sei ein anständiger Beruf notwendig, etwas, das Geld bringt, etwas, das die Welt braucht.

      Damals haben mir diese Worte noch wehgetan, vor allem, wenn es aus ihrem Mund kam. Aber ich blieb dabei, ich zog aus, in eine WG in einer anderen Stadt, fing an Literatur und Philosophie zu studieren und lernte das Leben außerhalb meines Hauses kennen. Persönlich. Das Leben schmeckt anders als ein Buch. Mag es auch gutgeschrieben sein, es ist nie wie das wahre Leben. Wobei Heisenberg etwas anderes sagt – Unschärferelation: der Beobachter verändert das Beobachtete. In meiner Sprache gesprochen: der Lesende verändert das Erlebnis. Mein Vater würde sagen: der Bürger verändert den Staat. Ja, das ist mein Vater. Ich sehe ihn, wie er an seinem Schreibtisch sitzt und neue Konzepte entwickelt. Er erfindet nichts. Er sucht bloß, wie er sich den Gegebenheiten anpassen kann. Jedes Mal aufs Neue. Sein Leben ist von so vielen Faktoren umgeben, er aber kennt nur den einen: Arbeit. Ich kenne ihn nicht als Privatperson. Er ist viel zu öffentlich, so durchschaubar. Man braucht nur die Faktoren zu ändern und die Folgen sind gleich abzusehen. Er ist wie ein Mechanismus, bei dem nur ein Rädchen bewegt werden muss, damit ein ganzer Prozess in Gang gesetzt wird. Und er läuft immer noch, verdient Geld.

      Ich kann mich nicht erinnern, dass er irgendwann aus purer Freude losgelacht hat. Wenn er mal irgendwo herumlächelte, dann nur, weil er sich dem gesellschaftlichen Druck beugen musste, um anderen schöne Augen zu machen, um nicht aufzufallen. Er war kein Revoluzzer, weil er sein Elternhaus nicht mehr aushalten konnte, weil er für Ideale kämpfte, wie Freiheit, weil er sich als Individuum fühlte. Nein, mein Vater hat all das mitgemacht, weil er nicht anders sein wollte. Wurde ihm ein Stein in die Hand gedrückt, so hat er diesen geworfen. Sind die anderen nackt herumgelaufen, so zog er sich mit aus. Hätten sie Adolf statt Che Guevara gerufen, hätte das für ihn keinen Unterschied gemacht. Er war genau wie sein Vater. Wäre mein Vater in einem Krieg gewesen, hätte es ihn genauso wie seinen Vater an der Front erwischt. Nicht als einen, der dazu gezwungen wurde, sondern als denjenigen, der ganz vorne seine Brust hebt, um eine Kugel abzufangen. Wie kann man mit so einem Menschen Mitleid haben? Oder mit ihm fühlen, ihn lieben? Wie konnte meine Mutter ihn nur heiraten, sich zu ihm ins Bett legen, ihm Kinder gebären? Selbst heute, nach einer so langen Abwesenheit, kann ich das für mich nicht beantworten.

      Besucht hat er mich auch nur, weil sie es so wollte. Geld schickte er mir auch nur, weil sie darauf bestand. Auch sein altes Pflichtgefühl nötigte ihn wohl dazu. Wenn es nach seinem Grundgefühl gegangen wäre, hätte er mich längst zum Teufel gejagt, mich längst vergessen und beiseite geschoben. Schon rein äußerlich. Innerlich hatte er nie etwas für mich übrig. Ich war einfach nicht geplant, war unvorhergesehen, eine Unordnung in seinem liebgewonnenen Reich, ein schwaches Glied in der Kette. Schon immer suchte er nach Dingen, die uns beide unterschieden, nach dem, was uns abgrenzte, wie etwa die Tatsache, dass ich ihre Augen habe, oder ihren schmächtigen Körper, dass ich einige Worte anders aussprach als er, dass ich anders aß, mich für andere Dinge interessierte, mich nicht fürs Segeln begeistern konnte oder für Autos. Immer begegnete er mir mit Misstrauen, wartete nur auf einen Fehler in meiner Aussage, Geschichte, um sich darüber in einer kalten Art lustig zu machen. Ich solle mir bloß nicht einbilden, etwas zu wissen, bloß weil ich etwas irgendwo gelesen habe, wichtige Menschen haben ohnehin keine Zeit fürs Schreiben gehabt, über sie wurde nur geschrieben.

      Wie ich da nur weg wollte und wie froh ich nur war, da weg zu sein, aber nicht weil ich ihn hasste. Ich wollte endlich ungebremst leben. Ohne Kommentare. Habe ich ihn gefragt, warum dies, warum jenes, hielt er mir gleich einen Vortrag. Dabei wollte ich nur Konversation betreiben, ich wollte, dass er sich mir widmet, mich ansieht, nicht dem, was ich für ihn darstelle: Ein fragender, nerviger Junge. Nein, verdammt, dein Sohn. Ein Mensch aus Fleisch und Blut, ein Verstand, eine Seele. Ein Leben. Nicht Masse, die Materie braucht, um die Lebensfunktionen zu erhalten. Nicht eine Aufgabe, die erst bewältigt werden muss, bevor sie zu den Akten gelegt werden kann. Ein Mensch mit seinem eigenen Willen, seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen. Ganz anderen Vorstellungen.

      In der Jugend habe ich ihm das alles noch an den Kopf geworfen, aber irgendwann musste ich aufgeben, es brachte nichts. Ein Kind kann seine Eltern nicht erreichen. Es ist ihnen ausgeliefert. Egal in welchem Alter. Das ist die erste Lebenserfahrung. Der erste Rückzug.