Die Ferientage vergingen aber und sie musste noch zur Schule gehen. Heiraten, ohne elterliche Erlaubnis, konnte sie erst in drei Jahren. Und einem holländischen ‚Nomaden der Winde’ würde ihr Vater seine schönste Tochter keinesfalls geben wollen. Ihr blieb nichts übrig als nach Hause zurück zu fahren. Auf der ganzen Reise heulte sie Rotz und Wasser, kotzte sämtliches Essen aus und fühlte sich wie ein Häufchen Elend, ganz und gar verloren. Von nun an hatte sie nur noch ein Ziel: So schnell wie möglich ihr Abitur machen, in Adrians Nähe ziehen und irgendwann mit ihm zusammen in die Welt hinaus segeln.
Eine Lehrerausbildung fand sie dafür praktisch am besten geeignet, zumal sie noch jahrelang die Zustimmung ihrer Eltern für berufliche Entscheidungen brauchte. Das Studium an der pädagogischen Hochschule war kurz, ließ ihr viel freie Zeit und konnte vielerorts stattfinden, auch im Grenzgebiet zu den Niederlanden. Außerdem musste sie es ja nicht unbedingt abschließen, wenn der Mann ihrer Träume sie vorher heiratete.
Anders Margarete, die Älteste von Alix‘ Schwestern: Sie hatte einfach gar kein Ziel, war immer Papas Liebling, blond und brav sein ‘deutsches Gretchen’. Tüchtig hatte sie sich einer höheren Mädchenbildung der Fünfzigerjahre unterzogen, was bedeutete Haushalten und Abitur. Sie lernte leicht, arbeitete fleißig, war immer elegant angezogen, mit engen Röcken von modischer Kürze, die ihre schmale Langbeinigkeit raffiniert zur Geltung brachten. So entsprach sie nahezu genau dem zeitgemäßen Idealbild einer bürgerlichen Frau. Indessen war sie selbst gefühlsmäßig überzeugt von einer grundsätzlichen eigenen Unfähigkeit - wie sie meinte konnte praktisch jeder andere alles besser als sie. Sie traute sich eigentlich gar nichts zu und passte auch damit perfekt in die damenhafte Rolle. Immer war sie zurückhaltend, äußerte sich kaum, wirkte eher ein bisschen blass und ihre hohe Intelligenz, ihr sprühender Witz blieben meist unbemerkt. Ebenso ihre private Schlampigkeit, die, verborgen unter dem ordentlichen Auftreten in der Öffentlichkeit, nur im schwesterlichen Kreise fröhliche Urstände feierte.
Weil der Vater es nicht mochte, dass Margret seiner Aufsicht gänzlich entglitt, zwang er sie an einer Hochschule in der Nähe zu studieren. Seine notwendige Zustimmung gab er nur, wenn sie im ersten Semester täglich pendelte. Margret hatte keinen besonderen Berufswunsch. Viel wichtiger erschien ihr geliebt zu werden. Sie brauchte Selbstbestätigung durch einen Mann. - Tatsächlich durften es auch mehrere sein. So begann sie eine Lehrerausbildung an der Pädagogischen Hochschule ihrer ländlichen Region.
Nach der ersten Eingewöhnung, berichtete sie ihren Schwestern: “...wie das Bedürfnis nach etwas Männlichem“ sie auf ihren ersten Hochschulball führte. „Ich hatte mich schon gleich mit Lesestoff eingedeckt,“ erzählte sie, „weil ich wusste: es ist Mädchenüberschuss und wenn ich schon sitze, will ich wenigstens mein Vergnügen haben!“ An der pädagogischen Hochschule studierten nämlich nur 15 % Männer. Bei dieser Gelegenheit hatte Margret ihr neues Superkleid, das ‘Goldene’, endlich mal eingeweiht. Wie die Tanzerei im Einzelnen abgelaufen war, fand sie langweilig, beschrieb aber ausführlich die skurrilen Begebenheiten ihrer Partnersuche: „Am Schluss habe ich es jedenfalls doch geschafft, so einen irren Knaben aus dem dritten Semester aufzugabeln - oder eher er mich? Er heißt Lothar, ist anscheinend rechtschaffen verrückt, wohl auch recht verdorben. - Na, ich weiß noch nicht. Er ist schwer zu erfassen. In den Augen hat er Ähnlichkeit mit Clariss und wenn man ihn so sieht, denkt man möglicherweise an eine von diesen dürren aber zähen Möwen, wie sie immer hinter den Schiffen herfliegen. Bisschen bizarr der Vergleich, aber er hat auch so eine krächzende Stimme, vielleicht denke ich es deshalb.“
Nach dem Tanz waren sie in eine Kneipe gegangen. So gegen zwei Uhr nachts hatten sie noch eine Waldwanderung gemacht, die bis vier Uhr morgens ging. Danach nahm Lothar sie noch mit ins ‚Antonianum’ ein von Nonnen geleitetes Heim für Studenten. Im Fernsehsaal hatten sie es sich bequem gemacht. Der junge Mann kochte Kaffee und beide waren todmüde. Gegen fünf brach Margret dann auf in Richtung Heimat: „Tja, das war also meine erste durchwachte Nacht,“ erzählte sie zuhause, „ich bin gespannt, wie das wohl weiter geht. Geküsst hat er mich noch nicht; es war mir auch nicht unbedingt ein Bedürfnis, aber gewundert habe ich mich doch!“
Was sie ebenfalls gewundert hatte: Bei ihren scherzhaften Hinweisen auf die Verteilung der Geschlechter an der Hochschule, meinte Lothar allen Ernstes, das brauche sie doch nun nicht mehr zu interessieren, sie habe ja ihn. Außerdem wollte er sie unbedingt mit zum Baden haben, wozu sie versonnen bemerkte: „Er hat gesagt, er fände mich sehr nett...und schön...tja...“
An sich hatte sie auf dem Ball auch noch zwei andere Männer in Aussicht gehabt: Einen aus dem sechsten Semester, mit Brille, freundlich und ein bisschen eingerostet bereits. Und einen anderen, 28 Jahre alt, der erst schon sechs Semester Theologie studiert hatte, vor seinem Lehrerstudium. „Wahrscheinlich habe ich mal wieder auf das falsche Pferd gesetzt! Aber das bin ich ja bei mir fast schon gewohnt,“ schloss sie ihren Bericht, „weil ich überhaupt nicht weiß, was für einen Mann ich eigentlich erwarte: Die Schönen mögen mich nicht, die Netten sind meist hässlich, Passable sind meist kirchlich. Was bleibt?“
Margret fand die ganze Partnerwahl eine recht triste Angelegenheit und fragte sich: „Mag das wohl an mir liegen?“ Sie konnte sich einfach kein Ziel einfallen lassen, beugte sich dann halt irgendwelchen Notwendigkeiten und dachte dabei immer: Es hätte ja anders sein können; hätte es anders sein können....?
5. Frauen und Männer sind gleich reizvoll
Biologisch betrachtet sind Ballsäle Balzarenen. Im Tierreich dienen sie dem Zweck das Angebot lokal verfügbarer Sexualpartner zu präsentieren. Geschlechter, die außerhalb der Brutzeit räumlich getrennt leben, kommen an solchen Orten zusammen, feinste zeitliche Abstimmungen der Kopulationsbereitschaft von Individuen wird ermöglicht und etwaige Fluchttendenzen oder Angriffsreaktionen zur Wahrung der individueller Distanzbedürfnisse können durch sexuelle Reizwirkungen schwinden. Nicht zuletzt sichert differenziertes Balzverhalten, mit ausgiebiger Prüfung aller vorhandenen Sexualpartner, dass Paarungen zwischen artgleichen und sexuell verschiedenen Individuen stattfinden, also von den biologischen Bedingungen her fruchtbar sein können.
Tanzveranstaltungen bilden in vielen Gesellschaften die soziale Institution für Selbstdarstellungen zum Zwecke sexueller Partnerwahl. Auf Debütantinnen-Bällen präsentieren sich die Töchter des Großbürgertums, der russische Landadel brachte seine heiratsfähigen Mädels zur winterlichen Ballsaison nach Petersburg oder Moskau, der österreichische nach Wien, der preußische nach Berlin; die bäuerliche Jugend findet sich beim Tanz in den Mai und anderen Sommerfesten in benachbarten Dörfern. Für die städtische Mittelschicht haben Schulbälle oder Feste beruflicher Organisationen und Standesverbände sehr oft diese Funktion.
Frauen präsentieren sich dabei blütenhaft gewandet, mit halbentblößtem Busen und geschminktem Gesicht, umrahmt von üppig aufgebauschter Haarpracht. Eingezwängt in figurbetonte Kleider und hochhackige Schuhe, sind sie in ihrer Fortbewegung so behindert, dass ihnen kaum anderes übrig bleibt, als eine männliche Stütze zu erwarten. „Wer schön sein will muss leiden,“ sagten unsere Großmütter, wenn sie ihre Korsetts noch ein bisschen enger schnürten, sodass Ohnmachten quasi vorprogrammiert wurden. Verweigern einzelne Frauen sich diesen Zwängen weiblicher Selbstdarstellung oder haben sie versäumt die modischen Fertigkeiten dafür zu erlernen, so gelten sie nicht als schön.
Aber müssen Frauen denn schöner sein als Männer? In der Natur sind ja meist die männlichen Tiere bunt oder verziert mit prächtigen Federfächern, Mähnen und Geweihen. Die bürgerliche Kleiderordnung bestimmt es umgekehrt: Männer betreten die Balzarena des Tanzparketts in flachen Schuhen und langen Hosen, mit steifem Anzug und gepolstertem Jackett - lauter Sachen, die den Körperbau männlicher erscheinen lassen, als er beim Einzelnen womöglich ist. Wählenden Frauen wird die wirkliche Figur eines Bewerbers um ihre Gunst eher verborgen als gezeigt. Erst in jüngster Zeit ist, mit der Popkultur, auch eine direktere Präsentation männlicher Reize gesellschaftsfähig geworden: knallenge Hosen lassen die genitale Ausstattung erkennen; weit ausgeschnittene Hemden stellen Schultern, Muskeln und Brustbehaarung