„Wir sind angekommen“, ging es mir in dem Augenblick durch den Kopf, als alle stehen blieben und ein Schlüsselbund zu hören war. Unser neuer weiblicher Bezugs-Mensch schloss nun eine Tür auf und alle traten hinein. Nachdem die Tür hinter allen Mitläufern wieder geschlossen worden war, setzte sie meinen Bruder und mich behutsam auf dem Boden ab. Sämtliche Türen, die ins Freie führten, sollten uns zunächst einmal für längere Zeit verschlossen bleiben. Aus Sicht der Menschen mit gutem Grund.
Langsam öffnete sich der Deckel und wir wurden von etwas unsanften, aber vertrauten Kinderhändchen herausgehoben. „Hi, Hilfe, ich will doch ganz schnell wieder in die gewohnte Umgebung zurück!“, dachte ich sofort. Mein Bruder blieb da etwas cooler. Die Kinder brachten zusätzlich auch noch etwas Unruhe herein, was mich öfters mal erschreckte und zusammenzucken ließ. Alles war so anders, alles war neu und fremd! „Eigentlich ist das alles doch gar nicht so schlimm, man muss sich nur erst einmal daran gewöhnen“, gab mir mein Bruder zu verstehen und zeigte sich neugierig und interessiert. Nachdem sich die Kinder von uns und unserem neuen Menschenweibchen verabschiedet hatten, kehrte etwas Ruhe ein. Jetzt bekamen wir endlich Gelegenheit, unsere neue Umgebung auszukundschaften. Wir befanden uns in einem großen Raum im Untergeschoss. Es war hell hier, denn die Tür hatte eine Glasfront und es gab ein Fenster direkt daneben. Das Fenster und die Deckenhöhe glichen in Größe und Höhe einem gewöhnlichen Wohnraum. Da es am Haus keine Garage gab, diente dieser Raum als eine Art Ersatz, zum Unterstellen diverser Geräte und anderer Dinge. Von der Größe her hätte hier locker ein Auto hinein gepasst. Doch die Autos blieben natürlich draußen! Für uns gab es viele schöne Ecken zum Verstecken. Am liebsten wäre ich gleich in eine gekrochen und nie wieder herausgekommen. Aber mein Bruder munterte mich immer wieder auf und das Menschenweibchen gab sich allergrößte Mühe, es mir so angenehm wie möglich zu machen. Sie konnte sich in meine Situation gut hineinversetzen und ich merkte, dass sie mich verstand. Sie saß einfach nur da und beobachtete uns. Entweder sprach sie zu uns oder sie summte beruhigend eine Melodie vor sich hin. Von meinem Gefühl her hielten wir uns in diesem Raum sehr lange auf. Wir bekamen ausreichend Zeit, uns mit der neuen Situation vertraut zu machen. Wir sollten keiner Reizüberflutung ausgesetzt werden, deshalb war die Tür zu den anderen Räumen zunächst noch verschlossen. Und je länger wir uns hier umschauten, umso mehr entdeckten wir. Dort drüben hin hatte man also unsere Toilette gestellt – gut zu wissen! Da war der Futterplatz, direkt neben dem Eingang. Sehr nett hergerichtet! Denn unter dem Tablett mit Futterschälchen lag eine Fußmatte, damit unsere Pfötchen auf dem Warmen stehen konnten. Auf dem Tablett standen ein Schälchen für Nassfutter, ein Trockenfutterbehälter und außerdem noch ein gefüllter Wasserspender für den Durst. Das Trockenfutter, stellten wir bald fest, rutschte immer automatisch nach, wenn wir etwas davon weggefuttert hatten. So verhielt es sich auch mit dem Wasser, es floss automatisch aus seinem Türmchen nach. Somit stand uns sozusagen die Küche immer offen, wenn wir zwischendurch mal hungrig oder durstig waren. Neben dem Futterplatz stand ein kleines, gemütliches Körbchen. Das war wohl unser Schlafplatz, nahm ich an. Vorübergehend hatten wir beide genug Platz darin, so klein wie wir noch waren. Außer unseren wenigen Katzendingen sammelte sich hier noch allerhand Menschenkram an, wie zum Beispiel Mountainbikes, gestapelte Gartenstühle und ein kleiner Elektrorasenmäher, auf zwei an die Wand gestellten Schreibtischen lagen jede Menge unnützer Sachen, ein Behälter für Plastikmüll, unterschiedliche Gartengeräte, zwei zusammengeklappte Gartentische, ein Fahrradträger fürs Auto, ineinander gestellte Eimer. Auf einem großen, bis an die Decke reichenden Wandregal standen Blumentöpfe, Tapeziermaterial, Rasendünger und Grassamen, außerdem kleinere und größere Utensilien, die man in einem Haus mit Garten noch so brauchte. Wichtig war noch der Mülleimer mit Deckel, in dem unser Müll aus der Toilette entsorgt werden konnte. Direkt neben diesem Raum grenzte ein kleiner Vorratskeller, offen und zugänglich, ohne Tür. Ich hatte mich die ganze Zeit über eher ängstlich und zurückhaltend gezeigt, während mein Bruder ungehemmt und vorwitzig den Raum durchstreifte und alles beschnupperte. Um mir Geborgenheit und Schutz zu vermitteln, nahm mich das Menschenweibchen auf die Hand – da passte ich nämlich noch hinein. Aus einem Impuls heraus wählte ich einen ihrer Finger aus und begann daran zu nuckeln. Ich saugte an dieser kleinen, weichen Fingerkuppe und fühlte mich an meine Höhle und die behagliche Wärme meiner Mama erinnert. Ich nuckelte, schnurrte, knetete und wollte gar nicht mehr aufhören, weil mich dieses wohlige Gefühl aus der Vergangenheit wie in einen Rausch fallen ließ. In diesem Wohlbehagen und dem Rhythmus meines Saugreflexes schlief ich sogar in ihrer Hand ein. Für meinen neuen menschlichen Beschützer gab es nur eine Erklärung: durch den zweiten Verlust, nämlich der Trennung unserer gewohnten Umgebung und jener liebgewonnenen Menschen, wurde ich (vielmehr mein Unterbewusstsein) an den ersten Verlust, den meiner Mutter, erinnert. Das löste in mir das Nuckeln als Ausgleich und Konfliktbewältigung aus. Und jetzt kommen wir zu dem Tick meiner Großmutter – sie nuckelte ebenfalls! Zwar nicht an einem Finger, sie nuckelte eher an dem Kleidungsstück des Menschen, von dem sie sich streicheln ließ. Wer weiß was ihr einst widerfahren war, oder anderen Generationen vor uns, dass jenes Verhalten in dieser Art zum Ausdruck kam? Denn Nuckeln deutet auf ein emotionales Bedürfnis hin, nicht selten geht es dabei um einen unerfüllten Wunsch und/oder die Sehnsucht nach Vollkommenheit. Welcher und wessen Schmerz wiederholte sich hier??? Diese Frage stellte ich mir. Doch verlor sie sich auch im selben Moment schon wieder, als mich diese plötzliche Erkenntnis erreichte. Ich fand das Ausmaß dieser Erklärung äußerst aufschlussreich! So verging die Zeit mit Umschauen, ein wenig vertraut machen und innerer Einkehr, bis kurz darauf der männliche Menschenteil mit dem Jungen nach Hause kam. Sie waren mit den Mountainbikes unterwegs gewesen. Mein Bruder und ich erkannten sehr schnell, dass es sich hier um eine sportliche Familie handelte. Auf jeden Fall waren beide völlig aus dem Häuschen, als sie uns sahen und freuten sich darüber, dass wir endlich in unserem neuen zu Hause eingetroffen waren. Diese Freude war für mich ein Geschenk und ich fasste mit einem Mal zuversichtlich all meinen Mut zusammen, denn alles war gut so wie es war! Neuartige Erfahrungen waren da, um sie zu machen und eine Bereicherung auf allen Ebenen. Auch dieses Zuhause würde mir Sicherheit, Zuwendung und Liebe entgegenbringen. Da pflichtete mir mein Bruder unterstützend bei.
LENNY UND ICH
Nachdem wir von allen Mitgliedern der Familie begrüßt worden waren und uns genug umgeschaut hatten, durften wir nun auch andere Räume kennenlernen. Das Wohnzimmer zum Beispiel, mit einer offenen Küche und integriertem Esszimmer im Erdgeschoß. Und hier stand er! Ein Kratzbaum, genauso einer, wie wir ihn von unserem vorigen zu Hause her kannten. Er hatte auf zwei Etagen verteilt Bretter zum Ausruhen, die mit Kunstfell bezogen waren. Als Basis stand darunter der wohlbekannte innen ausgekleidete Kasten mit Eingangsloch, der uns so sehr an unsere Geburtshöhle erinnerte. Verbunden war das Ganze mit Zwischensäulen, die mit Juteseil umwickelt waren, damit wir uns daran die Krallen wetzen konnten. So begannen sich in mir nach und nach heimische Gefühle zu entfalten. Die Krönung dieses außergewöhnlichen Tages war allerdings, dass mein Bruder und ich einen Namen bekamen. Und dies war wohl ein längerer Prozess gewesen! Der zukünftige Name sollte ja schließlich auch zu jedem von uns passen. Sie stellten folgende Überlegung bei mir an: Da ich von meiner Statur her doch sehr zart und zerbrechlich wirkte und auch vom Typ her eher zurückhaltend, vorsichtig und bedacht war, gab es eine Möglichkeit, dies in anderer Richtung zu unterstützen: Der entsprechende Name sollte Gelegenheit zum Ausgleich schaffen! Er durfte mit einer Sinneswandlung einhergehen, die meine andere unbewusste Seite hervorlockte und dabei meine vorwitzige und forsche Eigenschaft unterstrich, die von meinen Ängsten mittlerweile untergraben worden war. Unter anderem aber auch, um mich gegenüber meinem lieben Bruder besser durchsetzen zu können. Namen haben bekanntlich eine bestimmte Bedeutung, Aussage und Wirkung!
Aborigines – die Ureinwohner Australiens – wählen zum Beispiel nach jeweils abgeschlossenen persönlichen Wachstumsprozessen einen anderen Namen. Damit geben sie ihrem neuen Selbst Ausdruck und bestätigen ihre Bereitschaft, diese neue Wahrheit anzunehmen. Der neue Namen verdeutlicht und bestätigt dem Stamm wie auch der betreffenden Person,