»Halte ein!« schallte es über die Marktgasse. Ein Mann griff ein, nein, nicht irgendein Mann, kein Sklave, kein Knecht, kein Gefreiter, sondern ein freier Bürger der Stadt, das sah sie sofort, und ein wohlhabender dazu. Die guten Gewänder, teurer Stoff aus den nördlichen Provinzen, Goldketten und Ringe. Mit sicherem und hartem Griff hatte er das Handgelenk des Aufsehers ergriffen, so dass die Peitsche mitten im Schlag erstarb.
»Mein Freund«, sagte er nun mit dieser tiefen, ruhigen Stimme, die tatsächlich um Freundschaft, oder wenigstens gutwilliges Hören warb, »er ist ein Mensch! Es ist ein Kind! So halt’ doch ein! Es ist genug!«
»Wer bist Du, dass du mich maßregelst? Dieser Lump, Abschaum, Sohn eine Natter, hat es gewagt, den Stand am Basar zu verlassen. Alles könnte weg sein, gestohlen, er hat den Hausstand in Gefahr gebracht, die Hand, die auch ihn ernährt, ein dreckiger, kleiner Sklave. Und was geht es dich an? Mach, dass du weiterkommst! Ja, ihr reichen Herren, Viehzüchter, Viehhändler, oder sollte ich sagen Viehdiebe‹ vergesst, wer den Wohlstand erarbeitet.« Kaum hatte er dies gesagt, versuchte er mit der Faust der anderen Hand wieder auf den Knaben loszugehen, wohl in der Hoffnung, seine Worte hätten Eindruck gemacht.
»Du schlägst diesen Menschen nicht! So wahr ein Gott im Himmel und auf Erden waltet, ich lass das nicht zu!«
»Willst du sagen, ich sei gottlos? Ich warne Dich! Du schadest Dir! Es gibt Gesetze! Und, und«, während er nach Worten rang, hellte sein Gesicht plötzlich auf, nur um sich zur zynischen Grimasse zu verziehen: »ja, nun kenne ich dich, du bist Terach Ben Nahor! Glaub’ bloß nicht, dein Name kann dich schützen. Ich werde dich verklagen, heute Abend noch, im Tor, alles werde ich berichten, wenn die Abendkühle kommt. Du wirst sehen! Schiltst mich gottlos? Ich werde es dir zeigen. So jemand wie du sollte rausgeschmissen werden aus Ur. Geh doch nach Gomer, wenn du dieses Pack so magst, oder besser noch, bleib auf dem Weg liegen. Dann kann dein Gott im Himmel und auf Erden‹ sich deiner und deines Sohnes annehmen. Geh den Euphrat hinauf, oder nach Kanaan, wenn du regieren willst. Der König bracht so tüchtige Leute wie dich in der Provinz; als Puffer, versteht sich, egal wer gerade vormarschiert: Ägypter, Sumerer, Assyrer, Hethiter.«
Erst nun wurde Kentaja gewahr, dass hinter jenem Bürger mit Namen Terach Ben Nahor ein etwa fünfjähriger Junge stand. Der Junge hatte alles mitangesehen, und nun, da sich der Sklaventreiber in das Wortgefecht einließ, hielt er dem geschlagenen Jungen eine kleine braune Tonflasche hin. Hastig sog der Sklave daran.
»Ich bin Abram Ben Terach. Wie heißt Du?« fragte er den am Boden liegenden Knaben.
»Meschek, aber Ischkatar, mein Besitzer, nennt mich Prentaj. Danke.«
»Warum hast du den Stand deines Herrn verlassen?«
»Ich bin einem Dieb hinterhergeeilt, der einen Topf gestohlen hat. Aber danach hat Ischkatar mich gar nicht gefragt. Auch hatte ich meinen Freund vom Nachbarstand gebeten, ein Auge auf unsere Ware zu werfen. Ischkatar ist so jähzornig. Er ist gefährlich.«
Mittlerweile hatte sich die Menschtraube um die Vier weiter vergrößert wie eine gemeine Geschwulst. Kentaja wurde zurückgedrängt. In solchen Momenten standen die Bürger vorne, und nie im Leben hätte sie es gewagt, nicht zurück zu weichen und Platz zu machen. Sklaverei macht weise und lehrt Demut.
Sie hatte auch genug gesehen. Sie hatte den Namen Terach Ben Nahor schon vorher gehört, abends an den Sklavenfeuern, wenn man ihnen die kurze Nacht als Ruhe gönnte. Alle sprachen von seinem Haus. Er musste einer der einzigen sein, der seine Sklaven ohne Ketten und Halsringe laufen ließ, ja ihnen sogar ein wenig Eigentum gewährte wie den Hörigen, den Knechten und Mägden. Die Glücklichen aus seinem Hause kamen oft abends und brachten extra Portionen Fleisch, Brot, Bier und andere Dinge. Im Hause Terachs gewährte man selbst Sklaven Rechte, Familien wurden nicht auseinandergerissen, und daher war sein Gesinde ihm treu ergeben. Ja, er hatte einen gewaltigen Hausstand, über 200 Sklaven, Knechte und Mägde, alle treu ergeben, und sogar in Waffentechnik geschult. Kein Wunder, dass dieser Ischkatar Angst hat, allein der Name Terachs würde ihm Recht geben.
Könnte sie doch in diesem Hause leben! Aber ihr Herr würde sie nie gehen lassen. Sie kochte einfach zu gut. Doch, vielleicht, vielleicht war da eine Hoffnung, die weit über sie hinausreichte, vielleicht gab es ja diesen »Gott des Himmels und der Erden« wie Terach ihn nannte, und würde auch sie hören, die unbedeutende Kentaja aus dem Hause Rehoteps, aus Ägypten geraubt, dachte sie. Wenn nur alles gut geht!
»Stimmt das«, fragte Abram seinen Vater etwas später, als sie auf dem Heimweg durch die belebten Gassen waren, »wird er dich verklagen? Wirst du bestraft werden?«
»Nun, er hat es in der Öffentlichkeit gesagt, das heißt, ich muss zumindest heute Abend im Tor erscheinen. Falls er dort die Klage erhebt, werde ich mich verteidigen, und dann werden wir sehen. Mach dir keine Sorgen. Zwischen angeklagt werden und verurteilt werden besteht ein großer Unterschied. Ich glaube nicht, dass ich irgendetwas zu befürchten habe.«
Den Rest des Weges gingen sie wortlos nebeneinander her. Mehr als einmal wollte Abram etwas sagen, doch er verbiss es sich. Erst kurz vor dem Haus sagte Terach plötzlich: »Ich bin stolz auf dich!«
»Warum?« fragte Abram.
»Nun, du hast viel Mut gezeigt. Du hast dem Jungen deine Flasche gegeben. Du bist ganz ruhig geblieben, und hast das gemacht, was dein Herz dir gesagt hat, unabhängig von den vielen Leuten. Das war mutig. Darum bin ich stolz auf dich.« Er legte seinen Arm um Abrams Schulter und zog ihn liebevoll an sich heran.
»Ich bin auch stolz auf dich!« sagte Abram nun, und lächelte. Er selber war sich nicht so mutig vorgekommen. Sein Herz hatte ihm bis in den Hals hineingeschlagen. Wäre der Vater nicht genau neben ihm gewesen, er wäre sicher davongelaufen.
Das Haus lag am westlichen Stadtrand, ein wenig auf einer Anhöhe, sicher vor den Überschwemmungen, die im Frühjahr mitunter die Altstadt heimsuchten. Es war eigentlich mehr eine gewaltige Wohnanlage als ein Haus, mit 6 Ellen hohen Mauern, einem großzügig angelegtem doppelstöckigem Haupthaus mit Zisterne und eigenem kleinen, mit glasierten Kacheln bedeckten Innenhof mit einer aus Balken gezimmerten Galerie, hinter der die Schlafgemächer der Familie und Gästezimmer lagen. Gleich am Eingang war ein kleiner Raum mit ständig gefüllten Waschbecken, um sich den Staub der Straße von Füßen, Händen und Haupt zu waschen. Eine gewaltige Steintreppe führte hinauf auf die Galerie, darunter waren die Latrinen untergebracht. Im großen, mit schönem Pflaster ausgelegtem Hof gab es zwei weitere Brunnen, einen für die Küche und das Haus, den anderen für die Viehtränke. Zusätzliche Unterkünfte für Mägde und Knechte zogen sich entlang der Mauer zum Innenhof hin. Leitern standen im Hof an die Hauswände gelehnt, die es ermöglichten, wenn nötig, die flachen Dächer zu erklimmen, um von dort die Mauer als Wehranlage zu nutzen. Alles war aus gebrannten und glasierten Ziegeln erbaut, nicht nur die sonnengetrockneten Ziegel, wie bei den ärmeren Häusern. Das Haupttor, das sich öffnete, bevor Terach und Abram klopfen mussten, war aus starken Holzplanken gezimmert, in drei Lagen für zusätzliche Stabilität, und konnte ohne Frage jeder Räuberbande und eventuell sogar einer kleineren Armee standhalten. Und so rutschte es aus Abrams Mund, als sie eintraten: »Hier sind wir sicher!«
Doch Terach schüttelte den Kopf: »Mauern und Riegel, Waffen und Gewalt geben dir nie wirkliche Sicherheit, allenfalls eine Illusion von Sicherheit. Nichts ist für die Ewigkeit gebaut. Reichtum kommt und vergeht, Reiche entstehen und fallen, Häuser werden gebaut und brechen ein. Wenn du Sicherheit suchst, dann vertraue nicht auf das von Menschen Geschaffene noch auf Menschen, sondern auf den, der alles in Händen hält.«
»Ist das dieser Gott des Himmels und der Erde?« fragte Abram, »und welcher ist das? Gibt es nicht viele Götter. Meinst du Maduk und seine 49 Dämonen? Meinst du vielleicht Sin den Mondgott, Schamasch, den Sonnengott, Ischtar Anunitu den Venus Gott oder die Schöpfungsmutter? Wir haben darüber im Unterricht gehört. Sie ist wie ein böser Drache, der Dämonen ausspeit, um uns im Chaos zu versenken. Wie soll ich da Sicherheit finden?«
»Du bist so klug für dein Alter, Abram. Nein, von