Heute wird den Vermietern gestattet, die Miethöhe an den jeweiligen Mietspiegel des Bezirks anzupassen oder höhere Mieten durch durchgeführte „Modernisierungsmaßnahmen“ (insbesondere zur vermeintlichen Erhöhung der „Energieeffizienz“) [7] zu fordern, was oft zu ungerechtfertigten legalen Mieterhöhungen führt. Im Unterschied zu früher stellt nicht mehr Wohnungsmangel (viele Wohnungen vor allem in den Plattenbaubezirken im Osten standen lange Zeit leer), sondern vor allem überhöhte Mieten, [8] die einen Großteil der fixen Lebenshaltungskosten ausmachen, das Hauptproblem dar. Vielerorts kommt es zu sog. „Gentrifizierung“ (Luxusmodernisierungen und Verdrängung ursprünglicher Einwohner aufgrund überhöhter Mieten), die man in der letzten Zeit durch verschiedene Regelungen, wie z.B. die Mietpreisbremse [9] wieder einzudämmen versucht. [10] Die Regelungen sind umstritten und werden den erwünschten Effekt auch kaum haben, ebensowenig wie schon zuvor der Mietspiegel.
Ebenso erzielte der jahrzehntelang betriebene verschwenderische „soziale Wohnungsbau“ nur eine Reihe weiterer Deformationen auf dem Wohnungsmarkt. Die staatliche Nachfrage richtete sich nicht nach Marktkriterien, sondern man beauftragte bestimmte Baufirmen, die Gewinnbeteiligung proportional zu den aufgewendeten Kosten erhielten. Durch diesen völlig unwirtschaftlichen Ansatz, an dem nur die beauftragten Firmen gut verdienten, verbunden mit unsinnig eng festgesetzten Wohnkriterien und überflüssigen Standardvorschriften, fiel die Kostenrechnung entsprechend hoch aus, wodurch der Bau von sozialen Wohnungen sogar noch teurer als der frei finanzierten wurde. Mit dieser Praxis wurde also nicht Sparsamkeit und Wettbewerb, sondern Verschwendung und „Abzocke“ der Bauherren auf Kosten der Steuerzahler belohnt. [11] Später wurden die ursprünglichen „Sozialbauwohnungen“ in vielen Städten an private Investoren verkauft, was oft zu drastischen Mietsteigerungen führte. Das mißlungene Projekt war damit beendet. [12] Direkte Mietzuschüsse für Menschen mit geringem Einkommen (das sog. Wohngeld) wären dagegen billiger und ohne Nebenfolgen gewesen. [13]
Die Politik der Eingriffe in Wirtschaftsabläufe betrafen selbstverständlich nicht nur den Wohnungsmarkt. Ansätze zu einer Wirtschaftslenkung in den siebziger Jahren waren bereits deutlich zu erkennen, wurden jedoch aufgrund des linken Zeitgeistes nur von Wenigen als mögliche Gefahren für die ganze Ordnung erkannt. So stellte Franz Böhm in einem polemischen Aufsatz von 1973 fest, daß wirtschaftliche Interventionen, welche die einzig wirksame Konkurrenz ausschalten, über ihre Ineffizienz hinaus auch sehr unerwünschte politische Effekte besitzen. [14] „Kurz, der politische Effekt von Interventionen ist, daß auf die Wirtschaftenden ein starker Anreiz ausgeübt wird, sich zum Behuf der Erlangung oder Beibehaltung von Interventionen politisch zu organisieren. Anstatt ihr partikulares Privatinteresse – wie es im Sinn der marktwirtschaftlicher Ordnung liegt – durch Marktreaktionen (Verbesserung der eigenen Leistungskraft) wahrzunehmen, bedienen sich die Wirtschaftenden immer häufiger und nachhaltiger ihres Wahlrechts, der Presse, ihres Demonstrationsrechts, des Streiks.“ [15]
Das war bestimmt nicht dasjenige, was die deutschen Neoliberalen in der Nachkriegszeit unter dem Schutz der Wettbewerbsordnung gemeint haben. Schließlich sprach selbst der größte Protagonist der „sozialen Marktwirtschaft“ aus dem Kreis des eher liberal-konservativen Ordo-Liberalismus, Alfred Müller-Armack, vom Abrücken in sozialistische und dirigistische Vorstellungen. [16] Seine Warnung vor dem, was er „Demokratisierung“ nannte, d.h. einer Verwandlung der „sozialen Marktwirtschaft“ in „puren Pragmatismus“ oder eine „Politik des Stimmenfangs“, [17] wies auf Gefahren hin, die das rationalistisch-technokratische Mißverständnis bereits von Anfang an in sich barg: „Diese stetig gegen den marktwirtschaftlichen Prozeß gerichteten wirtschaftspolitischen Maßnahmen und zusätzlichen Belastungen der Wirtschaft haben als besonderes Charakteristikum die scheinbare Unmerklichkeit dieses Prozesses. (...) Jeder dieser einzelnen Schritte (...) mag ein Stück Vernünftigkeit enthalten, die Summe der kleinen Schritte bedeutet jedoch eine zunehmende Belastung der Wirtschaft, eine immer größere Verstrickung der Staatsfinanzen in ein Netz dirigistischer Politik, das am Ende praktisch auf einen Systemwechsel hinausläuft, zumindest in eine Ordnungsform, die auch politisch nicht mehr regulierbar und steuerbar ist.“ [18]
Schärfster Kritik unterzog vor allem Friedrich August von Hayek den Sozialstaat und das mit seiner Entwicklung zusammenhängende Postulat „sozialer Gerechtigkeit“, dem die spontane Ordnung der freien Marktwirtschaft und Gesellschaft geopfert wird. „Vieles, was heutzutage im Namen der ‚sozialen Gerechtigkeit’ getan wird, ist deshalb nicht nur ungerecht, sondern auch höchst unsozial im wahren Sinne des Wortes: es läuft schlicht auf den Schutz solide befestigter Interessen hinaus.“ [19] Mit dieser Feststellung, an der natürlich linke Programmatik Anstoß nahm, war Hayek und ähnlich gesinnte liberale Denker nicht allein. Der Wohlfahrtsstaat mit seiner Leitvorstellung, der „sozialen Marktwirtschaft“, einer wachsenden Bürokratisierung und einem ständig dichteren Netzwerk interventionistischer Regeln hat sich, trotz seiner freiheitlich-humanen Ideologie, zu einem vom Gesichtspunkt der Selbstregulierung extrem unnatürlichen System entwickelt, wie von vielen Kritikern seit Anfang der 80er Jahre immer wieder festgestellt wurde. [20] Seitdem war von einer „Krise des Sozialstaats“ die Rede.
Kurt Biedenkopf sprach 1985 im Zusammenhang mit seiner Kritik des Sozialstaats von einer „Verstaatlichung der Verteilungskonflikte“ [21] und verglich diesen allmählichen Prozeß mit dem Erscheinungsbild einer Krankheit: „Die Widersprüche, die daraus erwachsen, setzen sich durch das ganze System der miteinander verbundenen (vernetzten) Teilbereiche fort und treten – ähnlich wie es bei einer seelischen Krankheit der Fall sein kann – an Stellen des Körpers der Gesamtwirtschaft als Krankheitssymptome auf, an denen sie keiner erwartet hat.“ Die Symptome führen nach Ansicht des CDU-Politikers nicht zu einem Abbau des Widerspruchs, sondern zu neuen Maßnahmen, die allein auf das Symptom zielen. „Das Symptom wird als Ursache gesehen. Seine ‚Behandlung’ erzeugt neue Widersprüche – und so weiter.“ [22]
Einige Jahre später faßte Wernhard Möschel in einem Aufsatz alle Systemfehler des ausufernden Sozialstaats zusammen: Das Wort „sozial“ werde inflationär gebraucht, die Sozialpolitik sei aus der ursprünglichen Hilfe für Bedürftige zum bewußt eingesetzten Lenkungsmittel und der Sozialstaat zum „sozialen Obrigkeitsstaat“, ja einem „sozialen Überforderungsstaat“ geworden. Die praktizierte Sozialpolitik sei unmäßig und kontraproduktiv, und zwar in Bereichen wie dem Versicherungswesen, dem Agragsektor, dem sozialen Wohnungsbau, aber auch im Gesundheitswesen, beim Ladenschlußgesetz wie bei der Vermögungsbildungsförderung. Sie berücksichtigt nach Möschels Ansicht keine ökonomische Verhältnismäßigkeit und wälzt Nebenwirkungen und Kosten auf Dritte ab. Der Größenmaßstab des Anteils sozialer Leistungen am Bruttosozialprodukt, der Belastung der Einkommen und der Kostenexplosion vor allem in der Rentenfinanzierung und im Gesundheitswesen schien ihm schon damals an seine Grenze gekommen zu sein. Überdies hielt er das soziale Anliegen auch vom moralischen Gesichtspunkt für zweifelhaft, da es mit dem Schutz bestimmter Gruppen (der Arbeitnehmer) zugleich die Chancen anderer (der Arbeitslosen) versperre. [23]
Um all diese verschwenderische und kontraproduktive Politik zu rechtfertigen, wurde die gesamte hergebrachte sozialethische Terminologie auf den Kopf gestellt, Begriffe wie Freiheit, Solidarität, Menschenwürde u.a. umgedeutet, der Sozialstaat zu einem fast religiösen Begriff verklärt, stellte Gerd Habermann in einem Aufsatz von 1996 fest, in dem er für die Entmythologisierung des Sozialen sowie die Rückgabe sozialer