Janos Nibor
Nachtzug
5 Kurzgeschichten aus dem letzten Zug
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Inhaltsverzeichnis
Prolog
Es ist der letzte Zug in dieser Spätsommernacht. Auch wenn man es von innen nur erahnen kann, riecht die warme Luft dort draußen, durch die sich monoton surrend die Bahn bohrt, nach Herbst. Sicherlich, immer noch vermischt mit milden Düften von Blüten, von saftigem Grün, welches am Tage hungrig die Sonnenstrahlen aufgesogen hat, und nun die Energie dankbar wieder an die Nacht abgibt. Es riecht nach Leben hinter der Scheibe, und dennoch hängt unverkennbar Melancholie mit darin, das letzte, kräftige Ausatmen des sich neigenden Sommers, der bald das Zepter an die kühleren Jahreszeiten abgeben wird. Drinnen aber, im gut ausgeleuchteten und klimatisierten Abteil, ist davon nichts zu spüren. Die Fenster dienen hier nicht zur Belüftung, es gibt keine Griffe, mit denen man sie öffnen und die Welt dort draußen herein bitten könnte. Hier existiert eine eigene Welt, eine kleine, stille, ein Mikrokosmos, beherrscht von weißem Licht, neutralen Farben und einer Handvoll Menschen.
Wo sich am Tage unentwegt Reisende tummeln, jeder Platz in Windeseile wieder besetzt ist, jedes noch so kleine Fleckchen Leere durch Koffer und Taschen, Mäntel und Tüten, Rucksäcke und Schulranzen belegt wird, ist nun Stille. Nun, wo die Pendler längst ihrem nächsten Arbeitstag entgegen schlafen, wo Nachtschwärmer noch in ihren Tanzlokalitäten oder Bars verharren, herrscht gespenstische Ruhe im fast unbesetzten Abteil. Nur wenige sind um diese Zeit noch unterwegs, und auch wenn sie es vielleicht nicht wissen, ist dies der letzte Zug in dieser Nacht, die letzte Möglichkeit an ihr Ziel zu kommen, ohne auf den Morgen warten zu müssen.
Draußen zieht haltlos die Welt vorbei. Das Sonnenlicht hat sich schon längst verabschiedet, um anderen Erdteilen Leben einzuhauchen. Hier herrscht die Nacht, nur durch eine Glasscheibe von der Handvoll Seelen im Inneren getrennt, zum Greifen nah, aber flüchtig und, so lange der Zug unbeirrt die Fahrt fortsetzt, unerreichbar.
Mittlerweile hat er den schützenden Bahnhof hinter sich gebracht. Ein Blick aus dem Fenster offenbart eine schier grenzenlose Wüste aus Licht, als wolle sich die Zivilisation tapfer der allmächtigen Finsternis entgegen werfen, sie mit großem Aufwand in einen immer währenden Tag verwandeln. Jede Straße ist hell erleuchtet, für die wenigen Autos und ihre Besitzer, die sich hier tummeln, muss es wirken, als würde die große Stadt nur ihnen allein gehören. Ein kleiner Traum von Freiheit, Einsamkeit, unendlich viel Platz, und das mitten in der sonnst so vollgestopften Metropole. Plötzlich sind alle Wege offen, kein Stau, keine Schlangen vor Ampeln mehr! Leider sind Züge da weitaus beschränkter, was die Bewegungsfreiheit angeht, und dem Menschen daher im Grunde nicht unähnlich. So lange sie auf den vorgefertigten Gleisen fahren, den Pfad beschreiten, der ihnen geebnet wurde, so lange sind sie, verhältnismäßig, zuverlässig, schnell und zielstrebig. Dennoch gibt es Situationen im Leben, selten in dem eines Zuges, oft aber in dem eines Menschen, an denen plötzlich die Gleise verschwunden sind, der Halt wegbricht und die Fahrt vorerst im Schotterbett endet.
Die letzten Fahrgäste dieser Nacht sind still, niemand spricht, nur selten ein Räuspern. Jeder in seiner eigenen, kleinen Welt, so weit es geht voneinander getrennt. Einige von ihnen sind sogar so sehr bemüht, sich dort hin zu flüchten, dass sie selbst kaum noch sichtbar sind, wie Schatten wirken.
Der letzte Zug hat Fahrt aufgenommen, bohrt sich in die immer dichter werdende Dunkelheit - und wir begleiten ihn.
1. Versprechen
Die nächtliche Stadt strahlt eine eigenartige Kälte aus und schwindet, schrumpft, von Minute zu Minute. Die grauen Fassaden, hier und da erhellt durch gleißend weiße Scheinwerfer, fast verwaiste Straßen, dort wo am Tage sich die Autos stapeln. Alles scheint unwirklich, wenn man das geschäftige Treiben kennt, das hier noch vor ein paar Stunden, bis zum Einbruch der Dunkelheit herrschte. Bürogebäude werben mit leuchteten Logos für die ansässigen Firmen, in wenigen davon brennt sogar noch Licht. Oder wieder? Was treibt Menschen dazu, bis in die Nacht hinein zu arbeiten? An all dem zieht der Zug unberührt vorüber, als wäre es ihm egal, was es wahrscheinlich auch ist.
Ganz in vorderster Reihe, möglichst nah beim Ausgang, als wenn er sich jeder Zeit die Möglichkeit zur Flucht offen halten wollte, sitzt ein grau an mellierter, hoch gewachsener Mann im feinen Anzug. Er ist müde, daran kann kein Zweifel bestehen, denn obwohl er immer wieder dagegen ankämpft, rutschen ihm zu oft und gefährlich lang die Lieder über die Augen, verharren in Ruhestellung, bis dessen Träger sie erschrocken wieder aufreißt. Er will nicht schlafen, er darf es nicht, die nächste Station wird seine sein, noch eine Hand voll Minuten muss er durchhalten, wach bleiben. Gelingt ihm das nicht, rast der Zug mit ihm weiter. Woher soll der auch wissen, das im Inneren jemand sitzt, der sein Zuhause gerade an sich vorbei rauschen sieht? Oder auch nicht, da er längst ins Land der Träume entschwunden ist. Sein Tag war lang, viel zu lang. Um genau zu sein, umfasste er schon fast zwei Tage, denn die Mitternacht haben wir längst hinter uns gebracht.
Gestern also war ein langer Tag. Nicht nur gestern, wohl gemerkt, denn seit er den Posten inne hat, für den er nun schon ein halbes Arbeitsleben kämpft, werden die Tage auffällig lang, die Nächte dafür um so kürzer. Gestern früh hat er sich von Marie verabschiedet, mit einem Versprechen auf den Lippen. Sie lag noch im Bett, wie fast immer wenn er das Haus verlässt. Er hat sie zärtlich über die Wange gestreichelt, ist in einem flüchtigen Anfall von Müdigkeit noch ein Mal kurz zusammen gesackt, so das seine Stirn auf ihrer zum Ruhen kam. Eine Szene, bei der man vermuten könnte, es fände ein Gedankenaustausch statt, geheim und nur durch Berührung. Wortlos. Genau so gab er ihr auch sein Versprechen, ohne ein Wort, aber mit einem Blick, den sie nur zu gut kannte.
Schon seit Wochen wollten sie wieder einmal zusammen ausgehen, der Inder nebenan, das kleine, gemütliche Café mit den bunten Stühlen vor der Tür, nur ein paar Straßen weiter, für beide ein erinnerungsträchtiger Ort. Oder einfach nur die Bank im Park, direkt hinter ihrer Wohnung. So wie sie es früher immer getan hatten. Egal, der Ort würde keine Rolle spielen, nur die Zweisamkeit, die sie nun schon bald zwanzig Jahre verband, bedurfte dringend einer Erneuerung, nur sie wäre wichtig. Was eignete sich dafür passender als ein lauer Spätsommerabend?
Marie wusste mittlerweile nur zu gut, was sie von seinen Versprechen zu halten hatte. Sie wusste dass er es wollte, dass er es versuchen würde, dass er scheitern würde. Irgendwann in der Nacht, nicht mehr lang bis der neue Tag anzubrechen drohte, käme er wie ein reumütiger Sünder in ihr Bett zurück gekrochen, welches den einzigen Berührungspunkt der beiden darstellte. Sie würde sich, wie immer, an ihn schmiegen, ihn wärmen, umklammern. Loslassen war keine Option, aufgeben auch nicht. Er würde eingeschlafen sein, bevor auch nur ein einziges Wort gewechselt werden konnte.
Und