Die Zweitreisenden. Urs Rauscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Urs Rauscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738019506
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ich die Zukunft betrachte, würde ich lieber gerne wieder die Vergangenheit verstehen gehen.“

      „Du sprichst wirres Zeug. Wir sind immer noch in der Kapsel, nur das sich die Vibration geändert hat. Historiker haben die berühmte Maschine von Demokrit nachgebaut.“

      „Historiker“, sagte Benjamin, indem er all seine Gedankenkraft aufbrachte. „Haben Recht. Leider.“

      Martin schüttelte Staub aus seinen Locken. „Nein. Demokrit hatte Recht. Historiker haben bei Atlantis und Thule versagt.“

      „Scheiß drauf“, meinte Benjamin und wischte sich Staub von den Lippen. „Ich hab Durst. Wir müssen was zu Trinken finden.“

      „Oder wir warten, bis die Demokritisierung abgestellt wird.“

      „Die Demokritisierung der staubigen Staaten ist unaufhaltbar. Das hat schon Herodot gesagt.“

      „Du bist verwirrt. Hast zu lange nichts geraucht. Lass uns gehen.“

      „Ich bin ganz klar.“ Mit dem Handrücken wischte sich Benjamin Schweiß von der Stirn. „Warte auf mich!“

      Sie banden sich die Pullis um die Hüfte und marschierten los. Die Sonne brannte auf ihre bleichen Gesichter und Nacken. Sie hatten Kopfschmerzen: Benjamin an der Stirn, Martin am Hinterkopf.

      Mit einigem Grauen musste Benjamin feststellen, dass er sein Handy nicht mehr bei sich hatte. Es musste ihm aus den zitternden Händen gefallen sein.

      „Okay“, begann Martin. „Wo sind wir gelandet? Spanien? Marokko? Indien?“

      Benjamin war jetzt schon zu müde und erschöpft, um noch zu laufen. Er blieb stehen und ruhte sich aus. Martin nutzte die Gelegenheit, um mit seinem Urin ein dunkles Muster in den Staub zu malen.

      „Ist mir scheißegal“, brummte Benjamin mit zwei Minuten Verzögerung. Ich will was trinken und dann ins Bett.“

      „Oh, ja“, flötete Martin ironisch. „Wie konnte ich nur das Bett vergessen?“

      Benjamin sah ihn mit schräg gelegtem Kopf an. „Bist du nicht müde?“

      Martins Gesicht nahm einen Unmutsausdruck an. „Doch! Bin ich! Aber wenn wir uns jetzt hinlegen, sind wir in ein paar Stunden tot.“

      „Ich dachte, dann stellen sie die Maschine ab und wir plumpsen wieder in die Raumkapsel.“

      Martin guckte bedenklich. „Da bin ich mir nicht mehr so sicher.“

      Als hätte er eine hitzige Diskussion gewonnen, nickte Benjamin mit dem Kopf. Mehr matt als stolz.

      Wortlos schleppten sie sich durch die Ödnis. Benjamin wünschte sich, er wäre mit dem Flugzeug nach Nicaragua geflogen worden, um dort als hungerentlohnter Gepäckträger zu arbeiten. Martin wünschte sich, er wäre mit dem Schiff nach Argentinien verbracht worden, um dort ein Dasein als Silberschürfer zu fristen. Er meinte plötzlich, Aguero innigst zu lieben.

      Nach etwa einer Stunde Wanderung, die beide so beanspruchte, dass sie immer wieder in die Knie gingen, trafen sie auf so etwas wie einen Weg, der sich durch die Felder wand. Diesem folgten sie. Wo ein Weg war, war auch ein Wille. Will heißen: Wo ein Weg war, war auch ein Willenswesen. Wenn man Menschen so bezeichnen konnte.

      Von sich selbst erschrocken, stellte Martin fest, dass er keinen Bock mehr auf Benjamin hatte. Auch Benjamin musste sich zu seiner Schande eingestehen, dass ihm Martin auf den Zeiger ging. Nur mussten sie beide auch einsehen, dass dies der ungünstigste Zeitpunkt war, diesen Befindlichkeiten durch Taten ein Ende zu bereiten. Sobald sie aber auf Hilfe getroffen waren, konnten sie sich trennen, ein Konsulat aufsuchen, nach Deutschland zurückfahren und mit der Auflösung der WG beginnen, bevor man sie, mit Flugzeug, Auto, Bus, Bahn, Schiff oder Raumkapsel irgendwo hin zum Arbeiten schickte.

      Nach einer Stunde, oder einer halben Stunde, oder auch einer Viertelstunde, setzten sie sich an den Wegrand. Die Kopfschmerzen ließen nach.

      „Oh. Jetzt eine Zigarette“, flehte Benjamin.

      Martin nickte müde. „Oder ein Nikotinpflaster.“

      „Sag mal, das mit Demokrit war doch nicht dein Ernst.“

      „Mein voller Ernst.“

      „Wenn ich mich recht erinnere, meinte der nur, dass alles aus Atomen besteht…“

      „…die je nach Zustand ihre Erscheinung verändern.“

      „Aber durch Schwingung?“

      „Das hat er nicht gesagt. Aber die moderne Wissenschaft hat ja bekanntermaßen bewiesen, dass Atome Schwingung sind.“

      „Und seine Maschine?“

      „Hab ich erfunden.“

      „Also doch!“

      „Ich war wohl vom Sturz noch etwas… na, ja.“

      Benjamin wurde ernst, seine Augen verdüsterten sich. „Aber wo sind wir dann hier, Matti?“

      „Keine Ahnung. Ich weiß nur eins: Wir müssen hier weg. Wir müssen so schnell wie möglich nach Hause finden. Es gibt keine Garantie, dass das hier plötzlich aufhört.“

      „Das ist ein verdammtes Holo-Deck…“

      „…ohne Aussicht auf Rückkehr.“

      „Mann!“ Benjamin richtete sich ruckartig auf.

      „Was ist?“

      „Mein Handy. Es ist noch dort. Ist mir aus der Hand gefallen.“

      „Setz dich hin.“ Martin klopfe neben sich Staub auf. „Das ist jetzt das kleinste Problem. Sie wissen, wer wir sind. Na und? Wenn sie uns zurückholen, mit was sollen sie uns noch bestrafen? Was gibt es Schlimmeres als das hier?“

      „Hmm. Vielleicht hast du Recht.“

      „Ich befürchte eher, sie machen gar nichts.“

      „Warum?“

      „Warum ist diese Holo-Deck-Maschine dort? Hast du dich das schon gefragt?“

      „Nein. Aber warum ich den krassesten Trip meines Lebens habe.“

      „Sie ist dort sicher aus einem bestimmten Grund. Dass wir hier gelandet sind, war kein Unfall.“

      „Nein?“

      „Sicher nicht.“

      Benjamin setzte sich und fragte nach einer Weile: „Weißt du, was ich mich immer noch frage?“

      Martin schenkte ihm keinen Blick. Er spielte mit zwei Steinen in seiner Hand. „Was?“

      „Wo die verdammten Server mit den Daten sind.“

      „Hmm.“ Martin überlegte. „Vielleicht brauchen sie die gar nicht.“

      „Wie meinst du das?“

      „Könnte was mit der Maschine zu tun haben.“

      Plötzlich hörte Martin Benjamin schluchzen und blickte ihn an. Dieser war tatsächlich kurz davor, in Tränen auszubrechen.

      Er legte die Hand auf die Schulter seines Freundes. „Was ist?“

      „Das ist wie ein Alptraum“, jammerte Benjamin. „Ich hätte deinem Vorschlag nie zustimmen dürfen.“

      „Wie, bitte?“, reagierte Martin entrüstet. „Du warst genauso Feuer und Flamme wie ich. Das, was dann passiert ist, konnten wir beide nicht ahnen.“

      „Stimmt“, sagte Benjamin leise. „Ich bin nur so hundemüde.“

      „Was“, ließ Martin seinen Freund aufhorchen. „Ist eigentlich noch in deinen Hosentaschen?“ Er begann, in der eigenen Hose herum zu kramen.

      „Keine Ahnung.“ Lustlos steckte Benjamin die Hände in die Taschen. Er fand ein Päckchen Taschentücher, den Hausschlüssel, einen Fünf-Euro Schein.