Antonia Tackenberg
Weihnachten 2.0
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Inhaltsverzeichnis
Advent - und davor...
MIR GRAUT VOR WEIHNACHTEN ! Weshalb ich diesem jungen Radio-Interviewer auf dem Weihnachtsmarkt eine entsprechende Antwort verpasste.
„Hallo, ich bin Daniel von Radio Brandheiß. Darf ich Sie kurz was zu Weihnachten fragen?“ Aufdringlich hielt er mir sein Mikrofon unter die Nase.
„Ja, gern“, entgegnete ich einladend - denn ich wollte gefragt werden, um gehässig antworten zu können.
„Wissen Sie, warum wir eigentlich Weihnachten feiern?“
Seine Frage hatte einen lauernden Unterton. Sicherlich wollte Daniel von mir am liebsten etwas völlig Abwegiges hören. Das ließe sich dann mit anderen haarsträubenden Äußerungen über den Sinn von Heiligabend zu einem Beitrag zusammenbasteln, der bei den Hörern für Kopfschütteln und das gute Gefühl sorgt, schlauer zu sein als die Befragten. Also gab ich Daniel, was er wollte.
„Selbstverständlich“, sagte ich so freudig und so naiv wie möglich, „wir feiern Moses Geburt.“
„Sie meinen Jesus, richtig?“
„Jesus? Sie meinen Judas, richtig?“
„Ok, danke“, sagte Daniel knapp. Und ich war für einen kleinen Moment guter Stimmung.
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Fünf Monate vorher...
Wir hatten zwei Urlaubswochen im Juli auf Bali gebucht, mein Mann Collin und ich. Zuvor waren wir beide 50 geworden und planten keine Geburtstagsfeier mit Freunden, sondern uns zu feiern. 50 Jahre alt und 22 verheiratet. Wir hatten sieben fantastische Tage dort. Fernab von der touristischen Küste wollten wir das wahre Herz der Insel schlagen hören. Unsere erste Woche war geprägt von Wanderungen entlang der Reisfelder oder von kleineren Bergtouren. Wir beobachteten die Rituale in verwitterten Tempeln, kamen mit Balinesen ins Gespräch und schwelgten in frischem Mangosaft.
Am achten Tag hatten wir uns entschieden, ein Auto zu mieten, um nach einem wirklich einsamen Strand Ausschau zu halten. Tatsächlich fanden wir nach einigem Suchen ein kleines Paradies mit schimmernd weißem Sand ohne eine Menschenseele. Mein Mann warf, kaum dass wir unsere Sachen abgestellt hatten, die wenigen Kleidungsstücke, die man bei diesen Temperaturen noch am Körper hat, von sich und lief ins Meer.
Währenddessen blieb ich am Strand, baute uns eine kleine Strandmatteninsel, auf der ich mich niederließ. Angefüllt von der Schönheit des Ortes sah ich ihm versonnen nach. Er schwamm ziemlich weit raus; nach etwa zehn Minuten winkte er mir zu. Ich winkte zurück. Es dauerte einen Moment, bis ich erkannte, dass es überhaupt kein Winken war. Er fuchtelte eher herum.
Sofort sprang ich auf und schrie: „Pünktchen (mich nannte er Anton), was ist los???“ Gleichzeitig riss ich mir den Sonnenhut runter und stürzte ins Wasser, kraulte hektisch gegen die Wassermassen an, die uns trennten, und...
... es war ungefähr auf halber Strecke... da konnte ich ihn nicht mehr sehen. Ich keuchte wegen der Anstrengung und Panik und schrie mir dennoch die Lunge aus dem Leib. Immer wieder seinen Namen. Aber er war nicht mehr zu sehen. Sollte ich weiterschwimmen oder zurück zum Strand, um Hilfe zu holen?
Es waren entsetzliche Sekunden, bevor ich eine Entscheidung treffen konnte. Dann kämpfte ich mich zum Ufer, rannte zu unseren Sachen und suchte verzweifelt nach seinem Handy. Er hatte eins, ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch keins – weil es mir überflüssig erschien. Aus der Atheistin, die ich bin, wurde ein orientierungsloses Etwas, das beim Durchwühlen der Strandtasche flehte: „Oh Gott, bitte zeig mir, wo sein Handy ist, bitte, bitte, bitte!“
Ich leerte die Tasche kopfüber, fasste in die Taschen seiner Shorts. Kein Handy. Ich kickte die Strandmatten zur Seite, hoffend darunter das Handy zu finden. Es war nicht da. Es war nirgends. Da stand ich allein an diesem leeren Strand, der zum Traumurlaub gehören sollte. Ich schwamm wieder raus, rief ihn, tauchte – er war weg, vermutlich schon ertrunken. Ich schwamm wieder zurück.
Im Badeanzug und barfuß lief ich, stolpernd und um Hilfe schreiend, zu unserem Mietwagen, und brach in bitterste Tränen aus, als ich erkannte, dass ich den Schlüssel am Strand vergessen hatte. Wieder musste ich eine Entscheidung treffen, von der ich nicht wusste, ob sie Collins Leben würde retten können.
Statt zurückzulaufen rannte ich weiter. Irgendwann traf ich auf einen Menschen mit Handy, die Polizei wurde gerufen, eine Suchaktion gestartet und mir wurde ein Tuch umgelegt. Dann brachte mich ein Wagen zum Hotel, dann kam eine Ärztin, ein Behördenvertreter, ein leitender Angestellter vom Hotel, weitere fremde Personen, die mit mir sprachen, mich fragten, mich versuchten zu trösten. Weil Collin Engländer war, wurde das englische Konsulat informiert, aber auch das deutsche für irgendwelche Formalitäten und der Reiseveranstalter wegen der Rückreise. Am Ende saß ich allein im Flugzeug in die Heimat.
Das Allererste, was ich zuhause tat, war, mir ein Handy zu kaufen. Seither habe auch ich ein Smartphone, und wir beide sind eine sehr enge Bindung eingegangen. Ohne meinen Handtaschenkameraden mache ich heute keinen Schritt mehr.
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Im Alltag versuche ich so gut wie möglich über die Runden zu kommen. Ich arbeite viel, schlafe wenig, treffe dann und wann Freunde; manche drängen sich sehr auf, um mir beizustehen. Die Abwesenheit – ich vermeide meistens, es „Tod“ zu nennen – von Pünktchen ist schwer zu ertragen; an Weihnachten allerdings wird sie gleich mehrere Nummern zu groß sein. Ich bin zwar nach Bali eine noch inbrünstigere Atheistin geworden und könnte somit dieses sentimentale Fest getrost ignorieren – aber das schaffe ich nicht. Das Alleinsein wird sich an diesen Tagen noch alleiner anfühlen, die Trauer überwältigender sein.
Ich ahnte das schon, als die ersten Lebkuchen in den Supermärkten lagen, obwohl Halloween noch nicht vorüber war. Jetzt nähert sich der zweite Advent, und ich bin unschlüssig, wie ich mit Weihnachten umgehen soll.
Meine Familie hatte mich eingeladen. Ich verspürte jedoch weder Lust meine Tante und meinen Onkel, meinen Cousin und meine Cousine in der Schweiz zu besuchen noch meinen Bruder und seine Frau mitsamt ihrer Kinderschar in Münster. Die Familie von Pünktchen in England hat sich ebenfalls sehr um mich bemüht, aber nein, nein, nein, ich wollte nicht. Im Freundeskreis überbot man sich regelrecht darin, mich zum Mitfeiern zu bewegen:
„Wiebke, wir machen einen ganz ruhigen Abend. Und wenn dir auch das zu viel wird, dann kannst du ja schon zu Bett gehen.“
„Wiebke, bei uns ist immer einiger Trubel an Weihnachten. Wenn Du willst, komm dazu. Vielleicht hilft dir das ein wenig.“
„Wiebke, ich würde mich riesig freuen, wenn du zu uns kommst. Meine Eltern und Schwiegereltern werden auch da sein, und ich brauche ein neutrales Element in diesem Haufen.“