Thors hatte ein frisches weißes Hemd an, welches vorn an der Brust mit einfachen Schnüren geknotet war. Unter dem Hemd aus groben Leinen zeichnete sich deutlich der muskulöse Oberkörper ab. Er war ein großer Krieger gewesen, dessen Ruhm bis an die äußersten Grenzen des Reiches und darüber hinaus bekannt war. Seine Muskeln zeugten noch immer von den vergangenen Tagen, als er jung gewesen war.
Als Rimon nun seinen Vater von unten heran anblickte, schien es, als wäre dieser nochmals um einige Zentimeter gewachsen.
„Weh mir, o Erdan, womit habe ausgerechnet ich so etwas verdient!“, rief Thors mit bebender Stimme. „Warum muss sich ausgerechnet mein Sohn so weich, so kraftlos, so weibisch verhalten!? Habe ich dir etwas getan? Habe ich mich falsch verhalten?“ Wütend bellte Thors die Worte gen Himmel, den Blick fest auf eine Stelle im dunklen Gebälk gerichtet. „Nein, das habe ich nicht! Ich habe mir, verdammt noch mal, nie etwas zu Schulden kommen lassen! Nie! Immer habe ich aufrichtig gelebt und gehandelt!“
Trotzig und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schlug er mit der geballten Faust in die flache andere Hand. Der starre Blick ließ die unsichtbare Stelle an der Decke los und richtete sich nun in all seiner Unerbittlichkeit auf Rimon. „Tag für Tag gab ich mir alle Mühe, meinen einzigen Sohn, alles was ich habe, zu einem großen und tapferen Kämpfer zu erziehen. Mutig sollte er sein, im ganzen Land geachtet und bei den Feinden gefürchtet. In gewaltigen Schlachten sollte er für Berandan kämpfen. Groß sollte sein Ruhm sein – und ich, Thors von Callan, wollte als stolzer Vater friedlich und zufrieden entschlafen. Mein Erbe sollte weiterleben, meine Taten noch vergrößert werden!“
Sein Wüten, das zu Beginn noch die Wände erzittern ließ, war zu einem brüchigen, tonlosen Jammern geworden. Der Wunsch, den Thors sich all die Jahre erträumt hatte, schien sich in Luft aufzulösen – und mit ihm auch seine sonst so kräftige Stimme. Erschöpft ließ sich der stolze Vater auf seinen Stuhl fallen. Sein Blick war gesenkt.
„Jetzt reicht es aber auch wieder!“ Bestimmt setzte Jarla die große Pfanne auf den Tisch. Der Duft gebratenen Fleisches stieg Rimon in die Nase. Doch kein Wasser wollte ihm im Mund zusammenlaufen; trocken und schal war sein Geschmack.
„Wir alle wissen sehr genau, dass du früher, als du noch ein junger und starker Mann warst, Großes für Berandan geleistet hast. Wir wissen ebenfalls, dass du stets einen Sohn haben wolltest, der genauso wird wie du.“ Jarla versuchte hörbar, ihre Wut zu unterdrücken, was ihr jedoch nur leidlich gelang. „Versteh endlich, dass andere Menschen andere Vorstellungen haben, die vielleicht nicht das Abenteuer suchen wollen, die sich für ihr Dorf und ihre Familie einsetzen wollen und nicht nur für den König!“
Jarla ließ sich erschöpft auf den noch freien Stuhl fallen. Ihre braune Schürze war über und über mit Fett bespritzt. Das lange blonde Haar hing ihr ungewaschen in Strähnen auf die Schultern. Das Kleid, das sie unter ihrer Schürze trug und das lose über ihre schlaff gewordene Brust hing, hatte ein ähnliches Braun wie die Schürze und war beinahe so befleckt. Sie sah müde aus, entsetzlich müde. Rimon hatte seine Mutter häufig im Schlafzimmer weinen gehört. Heftige Schluchzer, weil sie bald ihren Sohn verlieren würde und sie nicht wusste, ob und wann er zurückkehren würde. Sie wurde jedes Mal harsch von Thors unterbrochen. Harte Worte, die Jarlas Mund verschlossen, die sie mit ihren Ängsten alleine zurückließen. Thors hatte kein Verständnis für diesen Abschiedsschmerz.
Jarlas zitternder Tonfall war verschwunden. Wut hatte sich in die Trauer gemischt. „Wie kannst du behaupten, du hättest deinen Sohn erzogen? Wie kannst du dich bei Erdan beschweren? Du warst doch immer weit weg von Zuhause und hast mich hier alleine gelassen. Nie hast du dich gefragt, ob du auch für deine Familie da sein müsstest; doch für Berandan hast du immer alles getan!“
Tränen liefen ihr über das schmutzige Gesicht. Sie schluchzte heftig und wischte ihre Tränen schnell mit der fettigen Schürze weg.
Spannung kehrte in Thors’ eingesunkenen Körper zurück. Jarlas Worte entfachten die Wut in ihm auf ein Neues. Die Leere in seinem Blick wich erneut zornigem Funkeln. „Geh! Geh mir aus den Augen! Ich kann es nicht mehr hören!“, knurrte er. „Du weißt doch nur zu gut, wie wichtig es für uns alle ist, dass unsere Söhne in den Krieg ziehen. Jeder muss seinen Beitrag leisten, damit wir den Berskern standhalten können. Ich habe meinem Sohn eine gute und eine teure Ausbildung bezahlt. Ich habe ihm ein Schwert und ein Pferd besorgt. Für Rimon habe ich alles gegeben, damit er ein gutes Leben haben kann! Drei lange Jahre hat Rimon alles gelernt, was ein Kämpfer können muss. Er kann nun reiten, mit dem Schwert fechten, er kann lesen und schreiben und er weiß, sich am Hofe richtig zu verhalten. Und das ist nun der Dank dafür?! Meinst du etwa, ich kann stolz darauf sein, ein kümmerliches Häufchen groß gezogen zu haben?“
Thors Stimme war von einem bösen Grollen zu einem wilden Schreien angeschwollen. Mit einer wuchtigen Handbewegung schleuderte er die Pfanne vom Tisch. In hohem Bogen flog der Braten durch den Raum, klatschte an die Wand, die Soße spritzte und verteilte sich auf dem Boden. Mit hoch rotem Kopf brüllte er seiner Frau hinterher, die längst weinend das Zimmer verlassen hatte. Thors glich einem bebenden Vulkan, feurige Worte spuckend, die harten Brocken gleich auf seine Frau einschlugen.
Rimon saß wie angewurzelt da. So hatte er seinen Vater noch nie erlebt. Auch nicht damals, als er seine kleine Schwester Tama bis zum Kopf im Schlamm eingegraben hatte und den Schweinen begreiflich machen wollte, dass es sich bei Tamas Kopf nur um einen besonders großen Apfel handelte.
Er wagte nicht zu atmen. Von draußen konnte er das gedämpfte Schluchzen seiner Mutter hören. „Kümmerliches Häufchen“, welch eine schändliche Bezeichnung. Sein Vater hatte ihn kümmerliches Häufchen genannt. Er konnte es nicht fassen.
Seine Augen blickten starr, aber ziellos in den Raum. War das wahr? War das tatsächlich eben geschehen? Die Stimme seines Vaters rüttelte Rimon aus seinen Gedanken.
„Hast du verstanden, Rimon? Es gibt kein Zurück mehr. Du musst diesen Weg gehen. Die Bersker werden stärker und stärker. Sie haben Talgarth unter ihrer Kontrolle und zuletzt wurden sogar Gobblins in Fihangel gesehen. Du musst kämpfen! Verstehst du?“
Thors war wieder etwas ruhiger geworden, doch seine Stimme war noch immer so eindringlich wie zuvor. Rimon nickte langsam und kaum merkbar, ohne seinen Vater dabei anzusehen. Er hob verdrossen den Krug und stieß mit seinem Vater auf seinen Geburtstag an – der Blick war fest auf die verbliebene Hand in seinem Schoß gerichtet.
* * * * *
Rimon war wütend und traurig zugleich. Wütend über seinen Vater und sein Verhalten. Weniger, wie er sich ihm gegenüber verhielt; schließlich wusste Rimon genau, dass er früher oder später von Zuhause wegziehen musste. Auch seinen Freunden würde es bald so ergehen und, wer wusste dies schon genau, vielleicht würden sie schon in wenigen Wochen gemeinsam über blühende Wiesen und durch dunkle Wälder, durch wilde Flüsse und lärmende Städte ziehen. Aber Thors verhielt sich wie ein Tyrann gegenüber Jarla. Sie war eine solch gutmütige Frau, die ihren Sohn über alles liebte. Jahrelang hatte sie alleine Rimon und seine jüngere Schwester Tama groß gezogen und zugleich das Haus in Ordnung gehalten und die Felder bewirtschaftet. Thors dagegen kämpfte in Talgarth und am Mundan, dem großen Fluss im Süden jenseits der Berge, gegen Gobblins und Bersker und einmal gar gegen einen Lindwurm. Tapfer verteidigten sie ihre Stellungen und trieben alle Feinde, die es wagten, den Fluss zu überqueren, augenblicklich in und über den Strom zurück. Groß war Thors’ Ansehen, doch Jarla gegenüber zeigte er sich nicht wie ein heldenhafter Ritter. Sie musste all seine Übellaunigkeiten ertragen, während die anderen Ritter und Knappen nur seinen Heldenmut und seinen unzerstörbaren Glauben an Berandan und den