Reimer, der zwei Häuser weiter wohnt und letztes Jahr in den vorzeitigen Ruhestand getreten ist, weiß unserer Bettruhe ein dröhnendes und jähes Ende zu bereiten, in dem er seine Harley-Davidson, mit der er sich sein Rentnerdasein jugendlich gestalten wollte und an der er täglich von früh bis spät herum zu schrauben scheint, sonntags in aller Herrgottsfrühe, wenn die berufstätige Restbevölkerung ihrem Erholungsschlaf frönt, röhren und knattern lässt.
Hartmann wiederum liebt es, durch seinen Garten zu flanieren und dabei italienische Opern zu hören. Dass es Kopfhörer gibt, hat sich entweder noch nicht zu ihm durchgesprochen oder aber er buhlt um nachbarschaftliche Anerkennung, welch wunderbare Blumensträuße bunter Melodien er zu binden in der Lage ist. Mäht einer der anderen Nachbarn den Rasen, dreht er die Musik so laut, dass Rasenmäher und Pavarotti ein Duett bilden, welches die umliegenden Häuser wenn schon nicht in statische, wohl aber deren Bewohner in nervliche Schieflage bringt.
Nachbarsgöre, Lehmann, Reimer und Hartmann ahnen nicht, wie rücksichtslos ich ihre Marotten finde, weil ich sie nie darauf angesprochen habe. Ich glaube, dass auch Schuster sich gestört fühlte. Gemeinsam hätten wir eine Allianz gegen diese Störenfriede bilden können. Aber Schuster war genauso harmoniebedürftig wie ich und nun dort, wo der Pfeffer oder was auch immer wächst.
„Wir können sie ja mal einladen“, schlug Frau Wilson vor.
„Wen?“, fragte ich meinen Gedanken nachhängend.
„Die neuen Nachbarn – Krügers“.
Es gab einen kurzen Meinungsaustausch zwischen meiner Frau und mir über die nachbarschaftliche Zurückhaltung zwischen Schusters und uns, die ich begrüßt, meine Gemahlin jedoch stets bedauert hatte. Meine Frau ist die kontaktfreudige Hälfte unserer Ehe. Ich hingegen weiß Ruhe sehr zu schätzen.
Wenige Wochen später, als ich von der Arbeit heim kam, stand ein Möbelwagen, der es nahezu unmöglich machte, sich daran vorbeizuschlängeln, ohne sich an der schmutzigen Karosserie einzusauen, in der Einfahrt.
„Die neuen Nachbarn ziehen ein“, teilte mir meine Gattin in der Haustür stehend mit, als hielte sie mich nicht in der Lage, eigene Schlüsse zu ziehen und naheliegende, wenn nicht gar offensichtliche Zusammenhänge zu erkennen.
Mit einem Erstaunen vortäuschenden „Ach?“ schlängelte ich mich nun auch an ihr vorbei, um nur Minuten später von ihr in Kenntnis gesetzt zu werden, dass wir Krügers am kommenden Wochenende zum Grillen träfen.
„Wer grillt denn?“, erkundigte ich mich.
„Du.“
Ich fragte mich, was Schuster wohl gerade machte.
Anderthalb Stunden nachdem Krügers mit einem Blumenstrauß und zwei Flaschen Wein vor unserer Haustür standen, begann die „Sportschau“, was weder Frau noch Herrn Krüger zu stören schien. Es stellte sich im Laufe des Abends heraus, dass Krüger an Fußball so wenig interessiert war wie ich an seinen Analysen zur politischen Lage der Nation, die er bis vor gut zwei Jahrzehnten noch als Klassenfeind betrachtete.
Das gegenseitige Desinteresse an den aufgebrachten Themen des jeweils anderen hätte mich zu der Frage, ob Krügers entweder Klavier spielten, einen Hund hätten und Motorrad führen, veranlasst, hätte Frau Wilson nicht regelmäßig mein rechtes Schienbein mit zierlichen, aber dennoch deutlichen Tritten traktiert, um unnötige Spannungen durch provokantes Schwatzen ihres Gatten im Keim zu ersticken – und wäre Krüger nicht meiner Plattensammlung ansichtig geworden. So unterhielten wir uns fast den ganzen Abend lang über unsere musikalischen Vorlieben und wenngleich diese voneinander abwichen, so konnten wir dennoch die Leidenschaft des anderen nachvollziehen.
So wurde es ein durchaus erquickender Abend, an dem wir uns in wein- und bierseliger Laune das „Du“ anboten. Weit nach Mitternacht wankte Hansi Krüger im Arm seiner Gemahlin heimwärts.
„War doch ein netter Abend gestern“, sagte Frau Wilson am nächsten Morgen, gerade als ich mir eine Kopfschmerztablette gegen diesen fürchterlichen Kater einwarf.
Als ich aus dem Fenster sah, begannen Krügers mit dem lärmenden Umbau ihres Hauses, der seit nunmehr zweieinhalb Jahren noch immer nicht abgeschlossen ist.
Brustmigration
Frau Wilson, die gemeinsame Tochter und ich waren eingeladen. Die Schlacht um das Abendessen – leger und unverkrampft, jeder bedient sich am Küchenbuffet – war geschlagen. Alle saßen in netter Runde zusammen und unterhielten sich angeregt.
Alle? Nicht alle.
Einsam pilgerte ein Mann noch immer mehr oder weniger unauffällig in der Küche umher und naschte – ein Häppchen hiervon, ein Häppchen davon – die Reste vom Buffet.
Als ich noch immer kauend in die Runde zurückkehrte, war ein großes Palaver um BH-Größen in vollem Gange. Mit der gleichen Leidenschaft, mit der sich die Kerle vor dem Essen über Fußball unterhalten hatten, widmeten sich die Damen in der Runde der Diskussion um BH-Größen.
Die meisten Männer wissen die weibliche Oberweite lediglich wie folgt zu klassifizieren:
Platt wie ein Brett, zwei gute Hände voll und Boah ey!
Wahre Größe zeigt sich oft auf vielfältige Weise.
Unsere Frauen warfen sich gegenseitig – nein, keine BHs, sondern Zahlen- und Buchstabenkombinationen an die Köpfe. Wir Kerle saßen staunend und wortkarg daneben und ließen den genannten Zahlen- und Buchstabencodes nicht etwa abschätzige, sondern abschätzende Blicke auf die Dekolletés der angesprochenen Weiblichkeit folgen. Der Name einer Internetseite mit dem gleichermaßen frag-, merk- und denkwürdigen Namen „Busenfreundinnen“ fiel, woraufhin sich der Gleichstellungsbeauftragte unserer Runde nach der Existenz des männlichen Pendants erkundigte.
Weitestgehend ahnungslos und unbedarft besuchte ich am nächsten Tag die Busenfreundinnen auf ihrer Website. Große Mythen und Mysterien ranken sich offensichtlich rund um die weiblichen Rundungen. Es scheint, so man nicht Dessous-Fachberater, Wäschedesigner oder Frau ist, eine Wissenschaft zu sein.
Ein Blick in die Themenauswahl der Busenfreundinnen verdeutlichte mir, dass Frauen den Kauf ihres Büstenhalters eben nicht nach dem Motto „Husch husch ins Körbchen“ über die Bühne bringen, sondern dass ein mitunter bedeutsamer Entscheidungsprozess im weiblichen Gehirn in Gang gesetzt wird, der weit über die gängigen Miederwarenklischees hinausgeht. Es soll sogar Frauen geben, die ihren Brüsten Namen geben. Harte Schale(n), weicher Kern.
Ich staunte über nie zuvor gehörte und womöglich inhaltsschwere Begriffe wie Bra-Fitting, Balconette und Minimizer und erfuhr, dass Brötchen nicht immer etwas mit Backwaren gemein haben müssen.
Die Busenfreundinnen diskutierten Fragen, von denen ich niemals ahnte, dass sie sich überhaupt stellen könnten.
Das philosophische Potential der Frage „Wo ist meine Brust zu Ende?“ offenbarte sich mir anfänglich nur sehr zögerlich, dann aber umso gewaltiger. Letztendlich kam ich dann doch nicht über die Plattitüde hinaus, dass jedem Anfang auch ein Ende inne wohnen müsse.
Wenn Sie nicht schon alles über die weibliche Brust zu wissen glauben und nicht ohnehin regelmäßig als Brustexperte zu TV-Diskussionsrunden bei deutschen Spartensendern eingeladen werden, möchte ich Ihnen ein Ereignis ans Herz legen, welches Ihr Leben möglicherweise maßgeblich beeinflussen, wenn nicht gar umkrempeln wird, so Ihnen dessen Existenz bislang verborgen blieb: das sagenumwobene Phänomen der Brustmigration.
Der und vor allem dem geneigten, aber dennoch Brustunkundigen drängen