Um die Angst in einer regressiven Stimmung zu überspielen, ziehen Menschen sich oft zurück oder verlieren sich in Ersatzhandlungen, verstecken sich hinter Maschinen, Computer oder gehen in große Konsumpaläste. Als Ort eines Rückzuges dient in unserer modernen Gesellschaft auch das Auto: Als fahrbare Blechhülle gewährt sie dem Menschen eine gefühlte Sicherheit, die ihn seine Ängste vermeintlich vergessen hilft und ihn der Notwendigkeit der verbalen Kommunikation mit seiner Mitwelt über seine Ängste enthebt. Piktogramme und Ampeln sichern ihm den Weg und leiten ihn an sein Ziel. Überlaute Musik übertüncht und übertönt das, mit dem er sich eigentlich beschäftigen müßte. Zur Überwindung regressiver Tendenzen ist jedoch Kommunikation hilfreich und wirkungsvoll: Eine gemeinsame Heimfahrt mit einem vertrauten Kollegen, vielleicht verbunden mit einer Einkehr für ein Glas Bier, kann Mutlosigkeit mindern und neue Perspektiven öffnen. Rückzug auf sich selbst muß aber nicht notwendigerweise Passivität heißen sondern kann, wenn es zur Selbstbetrachtung führt, überwunden werden zu einer kreativen Bewußtheit und zu einem aktiven Handeln.
Der Weg in die Aggression
Dem Rückzug, der Regression, steht die Flucht in Aggression als extrovertierte Reaktion gegenüber. Aggression muß – und so kann man das auch auf die Regression beziehen – keinesfalls destruktiv sein, sondern kann zu sehr produktivem Handeln führen. „Angst und Aggression sind wesentliche Triebkräfte zur Vergesellschaftung des Menschen", schreibt Raymond Battegay8, und fügt hinzu: „Ohne die ihm eigene Aggressivität und Verängstigung würde ihn kaum etwas dazu bringen, nach gleichermaßen Betroffenen, Gleichgesinnten, Kameraden, Freunden zu suchen. Angst und Aggression geben Individuen und Gruppen den Impetus, Kulturwerte zu schaffen, aus sich heraus zu gestalten, der Zeitlichkeit zu trotzen, Dämme gegen Naturkräfte zu errichten, sich zu behaupten." Dieser Schritt zur Verwirklichung seines Selbst kann also nur gelingen, wenn der Mensch in Kontakt mit seiner Mitwelt tritt.
Eine grundlegende Weise der Kontaktnahme ist aber die Kommunikation, in der der Mensch zum Menschen wird. Sie zeichnet ihn in hohem Maße und in besonderer Weise vor der Tierwelt aus, denn mit der Sprache kann der Mensch sich und seine Gefühlswelt darstellen. Der Mensch verwirklicht sich nicht in der Vereinsamung, weder in der zivilisatorischen, ja auch nicht in der kulturellen Einöde. Wer nicht fähig ist, sich seiner Angst zu befragen, wird unfähig sein der zwischenmenschlichen Kommunikation. Angst als dumpfes Grundmuster seiner Wünsche und Handlungen endet in gedankenschwerer Schwachheit und Not, die das Leben sinnentleert und hohl begreift. Hierher gehört der Melancholiker, der, als hippokratischer Temperamentstyp, zu Traurigkeit bzw. Schwermut neigende Mensch. Andere kommen oft im Gewand von Nüchternheit und Beredsamkeit daher, wenden sich aber, oft in bedrohlicher Weise, blindwütig und gewaltsam gegen Personen, Tiere und auch Sachen.
In der Ambivalenz von Abwehr und Aggression kann die Angst dem Menschen einerseits helfen, die Nähe und Geborgenheit des Mitmenschen zu suchen, andererseits ihn veranlassen, sich von ihm zu entfernen und in sich zurückzuziehen. Er kann – ob berechtigt oder nicht – den anderen feindlich einschätzen oder ihm freundlich gesinnt gegenübertreten. Er kann, er muß sich zwischen einem von beidem entscheiden. Er tut das im Augenblick emotional und intuitiv gesteuert, daher für andere schwer versteh- und oft unvorhersehbar.
Die Balance zwischen dieser unserer Angst und unserem Wissen um unser Selbst und unseren Möglichkeiten wird entscheiden, ob wir unseren Aggressionen freien Lauf lassen oder unseren Ängsten souverän begegnen können. Wenn wir persönlich nur über unzulängliche Mittel verfügen, um die Tragweite und die Art der Verwicklungen der Situation zu erkennen, werden wir sicherlich auch eher dazu neigen, unseren Aggressionen freien Lauf zu lassen. Unzulänglichkeit kann im Charakter oder in der Bildung eines Menschen begründet sein. Ein Mensch kann immer nur so handeln, wie es seinem Wissen, seinen Kenntnissen und Erkenntnissen entspricht. Auch ein „studierter" oder sonstwie ruhiger und besonnener Mensch kann in eine derartige Lage geraten, daß seine Emotionen mit ihm durchgehen, weil er gerade nicht über jenes Wissen, über jene Kenntnisse und Erkenntnisse verfügt, die hier erforderlich wären. Zu viele augenblickliche Faktoren spielen bei der Konfrontation mit einer Angst eine Rolle und können jedem ein Schnippchen schlagen! Mit einer zunächst unterschwelligen, dann zunehmend mehr an die Oberfläche dringenden Aggressivität sind aber Konflikte vorprogrammiert.
In Abbildung 6 wird Aggression unter anderem als Folge unbefriedigter Bedürfnisse gesehen. Solche wie Essen, Trinken und Hausen sind sehr essentiell, oder jenes wie das sexuelle Verlangen ist wegen des biologischen Arterhaltungstriebes anderweitig existentiell. Der richtig bewertete und anerkannte Befriedigungstrieb je eines Bedürfnisses führt zu einem sublimierten Aggressionstrieb, der, solange Befriedigung möglich ist, aufgrund seiner urwüchsigen Kraft zielgerichtet und zielgerecht eingesetzt werden kann und infolge erfolgreicher Befriedigung positiv erlebt wird. Mangelnde Möglichkeiten der Befriedigung oder, was aufs Gleiche herauskommt, subjektive Überbewertung führen zu einem ungesättigten Trieb, der sich entfesseln kann und in Angst oder Wut umschlägt. Wenn beklagt wird, daß Aggressivität so sehr das öffentliche Klima beherrscht, dann hat das sicher teilweise in den ungenügend befriedigt geglaubten oder tatsächlich ungenügend befriedigten, eventuell subjektiven libidinösen Bedürfnissen seine Wurzeln.
Unter Furcht wird eine Angst vor bekannten oder bestimmten Situationen, vor Gefahrensituationen verstanden, während Angst unbestimmt ist. Beide sind Quelle für Wut. Bei den in den nächsten Sätzen erwähnten Ereignissen ist mehr Wut vor Unbestimmten im Spiel als vor Konkretem. Im Grunde genommen sollte niemand sich davor fürchten müssen, daß seine essentiellen Bedürfnisse nicht gedeckt werden könnten, denn grundsätzlich ist in unserer reichen Gesellschaft genug da. Wie gleichgültig unsere Gesellschaft gegenüber diesem aber ist, zeigt die hohe Rate der in der neuen Armut lebenden Menschen.
Tagtäglich lesen und hören wir in den Medien, daß Menschen ihrer Aggression mehr oder weniger ungehemmt freien Lauf lassen. Heute sind es Rassisten und Fremdenhasser, die Unterkünfte anzünden (Angst, die sich auf Fremde fokussiert), am anderen Tag die Bauern wegen vermeintlich ungerechter Agrarhandelspreise oder die Fischer, weil Streit um Fischgründe oder Fangquoten ausgebrochen ist (Furcht vor vermindertem Einkommen), dann ziehen wieder Schlägertrupps durch unsere Städte, weil jungen Menschen irgend etwas nicht passt oder verquer gekommen ist (zumeist also eine eher diffuse Angst), oder Demonstrationen schlagen in Krawalle um. Hooliganismus ist ein böses Zeichen unserer Zeit. Können die beteiligten Menschen wirklich ihre Ängste und ihre Wut nicht reflektieren und ihnen rational begegnen, fragt man sich. Sehen diese Menschen keine Möglichkeiten, ihre Konflikte anders zu lösen? Wenn es wenigstens Konflikte wären! Oft wird aus purem Lustgewinn auf andere eingeschlagen bis das Blut fließt.
Berechtigterweise kann man aber auch fragen, was die Gesellschaft unterlassen hat, daß solche aggressiven Kräfte zum Ausbruch kommen. Tatsächlich sind in unseren Repräsentativdemokratien die Entscheidungsprozesse auf allen Ebenen langsam und undurchsichtig geworden und benachteiligen oftmals einzelne Interessengruppen, deren gutes Recht es ist, ihre Wünsche durch Demonstrationen und andere Aktionen zu artikulieren. Aber eines ist dabei nicht statthaft: die Anwendung von Gewalt. Jedoch wird wegen einer zu niedrigen Frustrationstoleranzschwelle und einer erhöhten Bereitschaft zur Instrumentalisierung der Gewalt zu oft die Grenze des Annehmbaren überschritten.
Eine andere Frage ist freilich, warum die Frustrationstoleranzschwelle gegenüber den täglichen Problemen häufig so niedrig ist. Man kann sich fragen, ob wirklich die Ansprüche an uns im modernen, technisierten Leben so enorm gestiegen sind, dass nur verdeckte oder offene Gewalt uns weiter helfen, wo doch von den Meisten von uns der eigentliche ökonomische Druck für die Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse des Lebens weggenommen ist.
Der Lärm und die allgegenwärtige, aufdringliche Werbung, die beträchtliche Unruhe in unsere Alltagswelt gebracht haben, sind ein unleugbarer und sehr ernst zu nehmender Stressor geworden. Die Werbung hat nur ein Ziel: Sie will Aufmerksamkeit für sich und in uns Wünsche und Begehrlichkeiten nach Dingen erzeugen, die wir im Grunde genommen nicht brauchen. Die Sexualisierung des öffentlichen und privaten Raumes – wozu Werbung in nicht unerheblichem Maß beiträgt – führt gerade in diesem so intimen