Karelia. Enna Pertim. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Enna Pertim
Издательство: Bookwire
Серия: keine
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738017632
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nimmt am nächsten Tag den Linienbus. Bei Kilometer 28 steigt er aus. Dann wandert er den vom Vater be­schriebenen Weg, der schnurgerade durch den Wald führt. Eintönig, ja etwas langwei­lig ist dieser stau­bige Weg, an dessen Rand in großen Abständen säuber­lich Holzstämme auf­geschichtet sind. Man sieht die Ar­beit hier, entdeckt aber niemanden, der sie tut.

      Eine gute Stunde marschiert Pekka, bis sich der Wald lichtet. Das Gelände vor ihm fällt sanft ab, mattes Grün umsäumt eine weit ausladende Bucht. Es sieht so aus, als käme der See von draußen herein in die Geborgenheit zweier ausgebreiteter Arme – und Pekka genießt den Ausblick sehr. So weit hat er seinen See am Fährhaus noch nie gesehen – der kommt ihm eher wie ein riesiger Strom vor. Hier aber wird der See zum Norden hin immer größer, breitet sich wie ein Meer aus, da und dort abge­grenzt durch einen schmalen dunklen Strich, der auf waldgesäumte Inseln hinweist, die vor langer Zeit ent­standen sind.

      Seine Gedanken führen ihn vergleichend zurück in die Zeit bei Suomussalmi während des Krieges: dort war der Himmel düsterer, die Wasser waren grauer, die Sonne nicht so strahlend, kein blendendes Gold. Eine wässrig kalte Scheibe, rollte sie über das unheimliche Land im Norden, damals, als er mit der Sonne wachte, im aus­gehenden Winter.

      An diesem Abschnitt der Front wurde der Kampf stumm geführt; lautlos bohrten sich Puukkos in Men­schen­leiber, die man zuvor angespro­chen hatte, bei denen aber das Fremde in ihrer Sprache un­über­hörbar gewesen war … Unver­gessliche Wirk­lich­keit!

      Dieser See hier kommt ihm wie ein Traumland vor. Unbeschreibliches bringt die Seele zum Schwingen, rührt an und versöhnt in beglückender Harmonie. Eine Weile geht er am Ufer entlang, bis sich der Pfad vom Ufer löst und auf eine kleine Anhöhe führt. Hier muss er acht- geben, dass er nicht irre­geht. Oben ange­kom­men erblickt er erneut den See. Etwas später erkennt er auch den breiten Sand­strand und das kleine Holzhaus, das nahe am Wasser inmitten einer Baumgruppe dün­ner Föhren versteckt daliegt. Auch die alte Sauna er­blickt er, ein stummer Zeuge vergangener Tage.

      Bevor er in das Sommerhaus hineingeht, setzt er sich auf einen kleinen Felsen, direkt an der Bucht. Das Wasser ist spiegelglatt und die Stille spricht ihn an, dieweil sich die Sonne in flachem Bogen nach Nordwesten senkt, als ob sie hinter einem Waldstück verschwinden will. Aber sie schleicht drüber hin, versteckt sich nur zur Hälfte: Gleißendes Gold verwan­delt sich über alle Farb­töne in leuchtendes Purpur, je weiter der bren­nende Ball gen Norden wan­­dert. Eine Sinfonie der Farben breitet sich über die Fläche des Suur-Saimaa aus …

      Pekka sitzt stumm da und starrt das Wunder an – erstaunt fragend blickt er auf seine Hände, die gefaltet in seinem Schoß liegen.

      Ein kleiner Vogel, der lautlos ganz nah an ihn heran­gehüpft war, holt ihn mit seinen Piu–Piu-Lauten­ aus seiner Gedanken-Verlorenheit zurück. Eine kurze Weile entlockt er ihm ein verschmitztes Echo, bis der kleine Strandläufer auf und davon fliegt.

      Auch Pekka erhebt sich, und als er den Blick zum Süden über den Wald wendet, sieht er zum ersten Male be­wusst, dass der wolkenlose Himmel sich dunkler färbt: Dem Süden droht die schwarze Nacht.

      Das Spiel der Sonne, dieses nicht untergehenden Feuer­balls, durfte er noch nie so berauschend, träu­­merisch-beglückend und still erleben wie hier.

      Die Zeit hört auf zu sein, wird zum Nichts! Der Raum verschlingt sie mit denen, die hierherfinden.

      Sauna

      An dem Stein, an dem Tage vorher, staunend und trun­ken vom sichtbar Berauschenden, die Augen des Mannes Pekka Zeit und Raum in sich ver­schmol­zen – an dem Stein lehnt, halb sitzend, halb liegend, die schlanke Frau. Ihr dunkelblondes, glattes Haar, das mit den Spit­zen die Schultern berührt, gleitet immer wie­der über die Stirne ins Gesicht und wird dann ebenso häufig mit einer sanften Handbewegung hinter die Ohren zu­rück­ge­stri­chen. Die linke Hand fährt an dem Stein entlang, liebkost seine Rundung und tastet sich in die kleinen Ver­tie­fun­gen seiner Ober­fläche.

      Wie nenne ich dich, kivi? Stein der Sehnsucht - Stein der Erinnerung? Du bist Zeuge vieler hun­derttausender Jah­re, Zeu­­ge der wechselhaften Na­tur, Zeuge ihrer Grau­samkeiten in Nacht und Eis. Wie nenne ich dich?

      In diesen Stein sah Lia als Kind Schlösser hinein. Er wurde für sie zum Palast ihrer Wünsche, gewann Leben und hatte ein Herz, das schlug; hinter die­sem Stein ver­steckte sie sich, wenn sie den Vater erschre­cken wollte.

      Wie nenne ich dich, kivi?, fragt sie sich erneut. Jahre sind seit unserem letzten Spiel vergangen. Das ist für dich doch nur das Ticken einer einzigen, kaum spürbaren Ewigkeitssekunde: der Sommer ein Bruchteil von ihr, der Winter einer. Du bist ein Werkstein in der großen Uhr, die keine Zeiger braucht. Viele Jahre, für die es keine Zahl mehr gibt, haben dich zurecht­geschliffen … Be­stimmt warst auch du einmal rauh und kantiger! Wie heißt das Werkzeug, das dich formte? Ist es die soge­nannte … Zeit? Hat sich das Werkzeug schließlich selbst überflüssig gemacht, damit du Lager sein kannst für das räderlose Werk, das zeigerlose Zifferblatt, Verbindungs­teilchen in einer endlosen Sekundenreihe, deren Bruch­teile und Elemente Sommer und Winter heißen?

      Wie nenne ich dich, kivi? An dich gelehnt über­kommt mich Ruhe, und deine gespeicherte Wärme weckt woh­lige Gedanken … Damals spielte ich mit dir und um dich herum, heute bist du mein stum­mer Vertrauter. Aber – du zwingst mich, immer nur in die eine Him­mels­richtung zu blicken, immer nur dorthin, wo es einmal keinen Tag und auch keine Nacht mehr geben kann.

      Wie gut, kivi, dass die verrückte Welt hier nahezu ihren Sinn verliert, so klein wird, wenn die bunten Teppiche anfangen zu leuchten und goldene Ge­spin­ste sie zude­cken, sie verschwinden lassen wie der Zauberer die Taube im hohen Hut.

      Wie nenne ich dich, kivi?

      Als sie vorgestern beim lossi eintraf, um den Schlüs­­sel in Empfang zu nehmen, überkam sie eine tiefe Nie­derge­schlagenheit. Am liebsten wäre sie wieder umge­kehrt. Dabei hatten die beiden Män­ner alles aufgeboten, ihre Verschlossenheit in Herz­lichkeit umzuwandeln, die tat­sächliche Freude über das Wiedersehen mit ihr spürbar zu machen.

      Doch dabei spielte die Natur nicht mit: Graue Wolken hin­gen tief am Himmel, Regen stand in der Luft, das Wasser des Sees, tiefschwarz, bewegte sich un­ruhig, und weiße Schaumkronen schoben sich gierig an den Ufer­rand. Es war beinahe herbstlich – mitten im Sommer!

      Wie sehr sich die Männer auch bemühten, das Ge­spräch blieb stockend. Lia bemerkte die Unsicherheit des On­kels, er könne sie womöglich mit Fragen be­drängen, die sie kränk­­­ten, die sie vielleicht verletzten.

      Der Vetter schwieg sich aus, wenn er hereinkam - und er wirkte immer erleichtert, wenn draußen ein Wagen nach dem lossi verlangte. Aber ihr fiel auf, dass er sie des öfteren verstohlen ansah, und sie glaub­te zu spüren, dass er sie wie ein Wesen aus einer frem­den Welt be­trach­tete.

      Das Gespräch verlief unkomplizierter, als man über die not­wendigen Dinge sprach, die sich um das Haus drau­ßen am See drehten. Man würde sich ja jetzt häu­figer sehen, weil sie gewiss dann und wann zur Stadt müsse … meinte der Onkel.

      Schließlich war sie hinausgefahren. Ihr bereitete die Bucht nicht den farbenfrohen Em­pfang wie zuvor Pekka. Es hatte zu regnen begonnen und ein tosen­der Sturm kam auf. Donner erfüllte das Land, der Himmel rumorte, das Wasser war aufgepeitscht.

      „Wenn du draußen bist und das Wetter unge­mütlich ist, dann mach die Badstube heiß, es ist alles da – du weißt doch, es gibt die alte Rauch­sauna noch“, so hatte der Onkel es ihr geraten.

      Doch sie folgte dem Rat nicht. Lieber wartete sie eine Weile, um zunächst wie aus einem geschütz­ten Beo­bachterturm das so lange verlassene Grund­stück mit den Augen abzutasten. Dann ging sie eiligen Schrittes auf das kleine Holz­haus zu, das ihr auch jetzt noch so freundlich erschien, wie sie es in Erinnerung hatte. Mit seiner schma­­­len Terrasse lugte es ein wenig aus der Baum­­gruppe