Eine gute Stunde marschiert Pekka, bis sich der Wald lichtet. Das Gelände vor ihm fällt sanft ab, mattes Grün umsäumt eine weit ausladende Bucht. Es sieht so aus, als käme der See von draußen herein in die Geborgenheit zweier ausgebreiteter Arme – und Pekka genießt den Ausblick sehr. So weit hat er seinen See am Fährhaus noch nie gesehen – der kommt ihm eher wie ein riesiger Strom vor. Hier aber wird der See zum Norden hin immer größer, breitet sich wie ein Meer aus, da und dort abgegrenzt durch einen schmalen dunklen Strich, der auf waldgesäumte Inseln hinweist, die vor langer Zeit entstanden sind.
Seine Gedanken führen ihn vergleichend zurück in die Zeit bei Suomussalmi während des Krieges: dort war der Himmel düsterer, die Wasser waren grauer, die Sonne nicht so strahlend, kein blendendes Gold. Eine wässrig kalte Scheibe, rollte sie über das unheimliche Land im Norden, damals, als er mit der Sonne wachte, im ausgehenden Winter.
An diesem Abschnitt der Front wurde der Kampf stumm geführt; lautlos bohrten sich Puukkos in Menschenleiber, die man zuvor angesprochen hatte, bei denen aber das Fremde in ihrer Sprache unüberhörbar gewesen war … Unvergessliche Wirklichkeit!
Dieser See hier kommt ihm wie ein Traumland vor. Unbeschreibliches bringt die Seele zum Schwingen, rührt an und versöhnt in beglückender Harmonie. Eine Weile geht er am Ufer entlang, bis sich der Pfad vom Ufer löst und auf eine kleine Anhöhe führt. Hier muss er acht- geben, dass er nicht irregeht. Oben angekommen erblickt er erneut den See. Etwas später erkennt er auch den breiten Sandstrand und das kleine Holzhaus, das nahe am Wasser inmitten einer Baumgruppe dünner Föhren versteckt daliegt. Auch die alte Sauna erblickt er, ein stummer Zeuge vergangener Tage.
Bevor er in das Sommerhaus hineingeht, setzt er sich auf einen kleinen Felsen, direkt an der Bucht. Das Wasser ist spiegelglatt und die Stille spricht ihn an, dieweil sich die Sonne in flachem Bogen nach Nordwesten senkt, als ob sie hinter einem Waldstück verschwinden will. Aber sie schleicht drüber hin, versteckt sich nur zur Hälfte: Gleißendes Gold verwandelt sich über alle Farbtöne in leuchtendes Purpur, je weiter der brennende Ball gen Norden wandert. Eine Sinfonie der Farben breitet sich über die Fläche des Suur-Saimaa aus …
Pekka sitzt stumm da und starrt das Wunder an – erstaunt fragend blickt er auf seine Hände, die gefaltet in seinem Schoß liegen.
Ein kleiner Vogel, der lautlos ganz nah an ihn herangehüpft war, holt ihn mit seinen Piu–Piu-Lauten aus seiner Gedanken-Verlorenheit zurück. Eine kurze Weile entlockt er ihm ein verschmitztes Echo, bis der kleine Strandläufer auf und davon fliegt.
Auch Pekka erhebt sich, und als er den Blick zum Süden über den Wald wendet, sieht er zum ersten Male bewusst, dass der wolkenlose Himmel sich dunkler färbt: Dem Süden droht die schwarze Nacht.
Das Spiel der Sonne, dieses nicht untergehenden Feuerballs, durfte er noch nie so berauschend, träumerisch-beglückend und still erleben wie hier.
Die Zeit hört auf zu sein, wird zum Nichts! Der Raum verschlingt sie mit denen, die hierherfinden.
Sauna
An dem Stein, an dem Tage vorher, staunend und trunken vom sichtbar Berauschenden, die Augen des Mannes Pekka Zeit und Raum in sich verschmolzen – an dem Stein lehnt, halb sitzend, halb liegend, die schlanke Frau. Ihr dunkelblondes, glattes Haar, das mit den Spitzen die Schultern berührt, gleitet immer wieder über die Stirne ins Gesicht und wird dann ebenso häufig mit einer sanften Handbewegung hinter die Ohren zurückgestrichen. Die linke Hand fährt an dem Stein entlang, liebkost seine Rundung und tastet sich in die kleinen Vertiefungen seiner Oberfläche.
Wie nenne ich dich, kivi? Stein der Sehnsucht - Stein der Erinnerung? Du bist Zeuge vieler hunderttausender Jahre, Zeuge der wechselhaften Natur, Zeuge ihrer Grausamkeiten in Nacht und Eis. Wie nenne ich dich?
In diesen Stein sah Lia als Kind Schlösser hinein. Er wurde für sie zum Palast ihrer Wünsche, gewann Leben und hatte ein Herz, das schlug; hinter diesem Stein versteckte sie sich, wenn sie den Vater erschrecken wollte.
Wie nenne ich dich, kivi?, fragt sie sich erneut. Jahre sind seit unserem letzten Spiel vergangen. Das ist für dich doch nur das Ticken einer einzigen, kaum spürbaren Ewigkeitssekunde: der Sommer ein Bruchteil von ihr, der Winter einer. Du bist ein Werkstein in der großen Uhr, die keine Zeiger braucht. Viele Jahre, für die es keine Zahl mehr gibt, haben dich zurechtgeschliffen … Bestimmt warst auch du einmal rauh und kantiger! Wie heißt das Werkzeug, das dich formte? Ist es die sogenannte … Zeit? Hat sich das Werkzeug schließlich selbst überflüssig gemacht, damit du Lager sein kannst für das räderlose Werk, das zeigerlose Zifferblatt, Verbindungsteilchen in einer endlosen Sekundenreihe, deren Bruchteile und Elemente Sommer und Winter heißen?
Wie nenne ich dich, kivi? An dich gelehnt überkommt mich Ruhe, und deine gespeicherte Wärme weckt wohlige Gedanken … Damals spielte ich mit dir und um dich herum, heute bist du mein stummer Vertrauter. Aber – du zwingst mich, immer nur in die eine Himmelsrichtung zu blicken, immer nur dorthin, wo es einmal keinen Tag und auch keine Nacht mehr geben kann.
Wie gut, kivi, dass die verrückte Welt hier nahezu ihren Sinn verliert, so klein wird, wenn die bunten Teppiche anfangen zu leuchten und goldene Gespinste sie zudecken, sie verschwinden lassen wie der Zauberer die Taube im hohen Hut.
Wie nenne ich dich, kivi?
Als sie vorgestern beim lossi eintraf, um den Schlüssel in Empfang zu nehmen, überkam sie eine tiefe Niedergeschlagenheit. Am liebsten wäre sie wieder umgekehrt. Dabei hatten die beiden Männer alles aufgeboten, ihre Verschlossenheit in Herzlichkeit umzuwandeln, die tatsächliche Freude über das Wiedersehen mit ihr spürbar zu machen.
Doch dabei spielte die Natur nicht mit: Graue Wolken hingen tief am Himmel, Regen stand in der Luft, das Wasser des Sees, tiefschwarz, bewegte sich unruhig, und weiße Schaumkronen schoben sich gierig an den Uferrand. Es war beinahe herbstlich – mitten im Sommer!
Wie sehr sich die Männer auch bemühten, das Gespräch blieb stockend. Lia bemerkte die Unsicherheit des Onkels, er könne sie womöglich mit Fragen bedrängen, die sie kränkten, die sie vielleicht verletzten.
Der Vetter schwieg sich aus, wenn er hereinkam - und er wirkte immer erleichtert, wenn draußen ein Wagen nach dem lossi verlangte. Aber ihr fiel auf, dass er sie des öfteren verstohlen ansah, und sie glaubte zu spüren, dass er sie wie ein Wesen aus einer fremden Welt betrachtete.
Das Gespräch verlief unkomplizierter, als man über die notwendigen Dinge sprach, die sich um das Haus draußen am See drehten. Man würde sich ja jetzt häufiger sehen, weil sie gewiss dann und wann zur Stadt müsse … meinte der Onkel.
Schließlich war sie hinausgefahren. Ihr bereitete die Bucht nicht den farbenfrohen Empfang wie zuvor Pekka. Es hatte zu regnen begonnen und ein tosender Sturm kam auf. Donner erfüllte das Land, der Himmel rumorte, das Wasser war aufgepeitscht.
„Wenn du draußen bist und das Wetter ungemütlich ist, dann mach die Badstube heiß, es ist alles da – du weißt doch, es gibt die alte Rauchsauna noch“, so hatte der Onkel es ihr geraten.
Doch sie folgte dem Rat nicht. Lieber wartete sie eine Weile, um zunächst wie aus einem geschützten Beobachterturm das so lange verlassene Grundstück mit den Augen abzutasten. Dann ging sie eiligen Schrittes auf das kleine Holzhaus zu, das ihr auch jetzt noch so freundlich erschien, wie sie es in Erinnerung hatte. Mit seiner schmalen Terrasse lugte es ein wenig aus der Baumgruppe