Meine aus Balsaholz gesägte Nachbildung des Spielbretts ist wabenförmig. Ich habe die Felder getreu der Aufzeichnungen des unbekannten Autors abwechselnd braun und grün eingefärbt.
Nachdenklich nehme ich die von mir geschnitzten Spielfiguren in die Hände. Von einem »raumgreifenden Kurier« ist in dem Text die Rede, von »Katapulten« und einer »wendigen Prinzessin«. Zu den minderwertigen Figuren zählten offenbar zahlreiche »Vasallen«, die bei mir – da ich keine besonderen handwerklichen oder gar künstlerischen Fähigkeiten habe – wie einfache Obelisken aussehen. Auch die Figuren »Thron« und »Szepter« sind nicht gerade Meisterwerke geworden.
Ich vertiefe mich in meine verschachtelten Notizen. »Henker schlägt Hofnarr«, lese ich da. Aber wie? Muss vielleicht vorher eine symbolische Verurteilung durch einen Richter erfolgen? Wieder einmal nimmt mich das rätselhafte Spiel völlig in Beschlag.
Und dann, als ich mir ausgiebig die müden Augen reibe, sitzt er mir gegenüber, der unbekannte Autor, ein junger, fescher Mann mit einem Schnauzbart und grünem Samtbarett auf dem Kopf. Er setzt mit einem überraschenden Zug seinen Königssohn neben meine Prinzessin. »Thron und Szepter«, sagt er mit einem breiten Lächeln, bevor sich die kurze Vision verflüchtigt.
Das ist es!
Innerlich jubiliere ich, bin ich doch gerade einen großen Schritt weitergekommen: »Thron und Szepter« in dem vergilbten Brief – das beschreibt nicht zwei weitere Figuren, sondern es sind die Worte, mit denen das Spiel endet!
Ich nehme die kleinen ungeschlachten Figuren, die ich für Szepter und Thron geschnitzt hatte, vom Brett und lasse sie achtlos unter den Tisch fallen – und damit beginnt das Spiel plötzlich zu leben, werden mir die Züge und Strategien klar, stehen mir die Regeln plötzlich deutlich vor Augen. Es ist alles so offensichtlich. »Thron und Szepter!«, rufe ich und tanze durch den Korridor.
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15.6.2012
Ich betrete den Korridor in den Fußstapfen von Isidoros, dem Philosophen.
In den Archiven des Vatikans, zu denen ich nach jahrelangem bürokratischen Hickhack Zutritt bekommen hatte, um dort für meine Forschungen über Bilokation recherchieren zu können, stieß ich auf einen unbekannten Text des neuplatonischen Metaphysikers Isidor. Seine Ideen brachte er in Form von Hymnen, die er »Korridore«, diadromoi, nannte, zu Papier.
Ich habe den Text, ein mittelalterliches Palimpsest, aus dem Archiv herausgeschmuggelt, ursprünglich mit der Absicht, eine kommentierte Übersetzung anzufertigen. Sie hätte mich, dachte ich, berühmt gemacht und vielleicht auch ein wenig aus meinen notorischen Schulden herausgeholt. Doch habe ich mich in Isidors verschlungenen Korridoren heillos verirrt und angefangen, statt einer ernstzunehmenden Übersetzung kurze Nachdichtungen der Hymnen zu verfassen, Umschreibungen und unverhohlene Epigonismen, die dann schnell ein sehr seltsames Eigenleben entwickelten.
Ich muss damit aufhören!
Heute in aller Frühe erwachte ich und hatte den Nachklang eines Limericks im Ohr. Ja, auch Limericks zählen zu meinen paraphrasierten Neugestaltungen von Isidors wegweisenden Diadromoi. Das wissenschaftliche Establishment würde mich dafür steinigen. Ach was, mich mit einem Ig-Nobelpreis verhöhnen und auslachen würden sie mich.
Also mach ich jetzt Schluss damit! Ich werde diese vermaledeite Abschrift ins vatikanische Archiv zurückschmuggeln, all meine Aufzeichnungen vernichten und mich wieder an meine ursprünglich beabsichtigte Untersuchung der Bilokation begeben, bei der mich der Geist von Isidor hoffentlich nicht länger heimsuchen wird.
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16.6.2012
Ich trete in den Korridor
und treffe dort auf Isidor,
allhier die Koryphäe,
als die ich mich gern sähe –
statt als »lokaler Matador«.
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28.6.2012
Ich betrete den Korridor auf dem Weg in mein Büro, auch hier darauf bedacht, möglichst wenig Spuren zu hinterlassen: Ich schließe die Eingangstür, wenn sie vorher geschlossen war, oder verschaffe ihr wieder den Winkel, den sie vor meinem Eintreten hatte. Ich achte auf saubere Schuhsohlen, die keinen Dreck hinterlassen auf den Fußmatten, welche ich um keinen Deut verrücke, und ich schleich alleweil mucksmauserlstill drüber.
Sollte ich einem der Dampfplauderer aus dem Amtshaus begegnen, so nuschel ich nur das Allernotwendigste, mit gesenktem Kopf, um dann möglichst schnell hinter meiner Tür zu verschwinden.
Dankenswerterweise habe ich gleich nach der Matura eine Stelle als Akzessist im Wiener Bundesdenkmalamt bekommen und konnte mich da der Bewahrung von Dingen und Zuständen widmen, inzwischen in Definitivstellung bei dieser wunderbaren und ehrwürdigen Institution, der ich meine bescheidenen Dienste gern zur Verfügung stelle.
Auch in meinem Büro vermeide ich jedes Gepräge, das auf mich zurückgeht: Nichts Persönliches steht auf meinem Schreibtisch, ich habe keine Bilder aufgehängt und keine Krautstauden aufgestellt. Schon lange, bevor der Ausdruck »ökologischer Fußabdruck« modisch wurde, habe ich alles getan, um überhaupt keinen Fußtapper in der Welt zu hinterlassen. Mit meinem notwendigen Konsum für Gewand und Nahrungsmittel beschränke ich mich auf Dinge, die in großen Mengen hergestellt werden, so dass mein Anteil daran möglichst wenig ins Gewicht fällt.
Hier im Amt sind in den vielen Jahren wohl viele Beförderungsmöglichkeiten und Biennalsprünge an mir vorübergegangen, weil ich mich immer möglichst unauffällig verhalten habe. Es macht mich stolz, dass, verschwände ich eines Tages spurlos, wohl niemand auf die Idee käme, eine Abgängigkeitsanzeige aufzugeben.
Manchmal – und das sind überaus selige Momenterl – verschwinde ich vor mir selbst. Ich fühle keine Anwesenheit mehr und entdecke erst hintennach, wie viel Zeit während meiner Absenz vergangen ist.
Seltsamerweise scheint sonst niemand so wie ich zu denken. Alle Leut pudeln sich heuer furchtbar auf und wollen alle damlang Einfluss nehmen. Viele wollen sogar ausdrücklich etwas bewegen. Das ist mir fremd.
Dann dieser Schmetterling. Was macht dieser Schmetterling in meinem Büro? Wie kommt er hier herein, wo ich doch das Fenster nie öffne? Er ist weiß und flattert vor die Scheibe, dreht dann eine patscherte Runde durch die kleine, schmucklose Kammer. Hinaus kann er nicht, denn die Tür war geschlossen, als ich sie vorfand, und so halte ich es seitdem.
»Wie ein Schmetterling«, flüstert sie und legt den Finger auf die Lippen, »sei leise wie ein Schmetterling.« Sie ist schon lange tot, meine Mutter, genau wie mein Vater, der »Herr Doktor« in Weiß, der nie gestört werden durfte, sei es durch die Fragen seines heranwachsenden Sohnes, sei es durch Radau und einfach nur Unruhe. Und kam er aus der Apotheke nach oben, so war es oft Mutter, die Migräne hatte, und keins der Pulverl des Vaters half, und ich musste wieder unsichtbar sein und keinen Mucks von mir geben. Das ist vorbei. Sie sind dahin. Oh, und sie haben Spuren hinterlassen: mich. Ich würde nie ein Kind in die Welt setzen. Allein schon die Wirkung, die ich auf diesen anderen Menschen, diese Frau, ausüben würde, und sie auf mich. Spuren. Wunden und Narben womöglich. Nicht auszudenken.
Dieser Schmetterling irritiert mich. Er findet keinen Ausgang. Dies ist kein Ort für ihn. Er wird verdursten und verhungern, liegt auf dem Fensterbrett, vergilbt und verstaubt. So sieht es die Natur vor. Ich mische mich da nicht ein, sondern halte mich fein zurück. Andere mögen sich mit der Natur und dem Lauf der Dinge anlegen wollen. Nicht so ich, der ich tunlichst vermeide, irgendwelche Spuren zu hinterlassen, an denen abzulesen