Wer zählt die Völker, nennt die Namen. Moritz Liebtreu. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Moritz Liebtreu
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742744487
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geringen Lohn oder nur Kost und Loggia anderswo verdingen, litten nicht selten unter der allzu zeitig erzwungenen Selbständigkeit, hatten Geborgenheit selbst nicht erlebt, konnten sie nicht weitergeben.

      Vom Munde sparten sie sich den ersten Fortschritt ab, holten mit den neuen Maschinen und landwirtschaftlichen Hilfen das Letzte aus ihren Böden heraus, arbeiteten bis zum Umfallen.

      Erst mal den richtigen Gang finden, zu groß ist inzwischen die Auswahl. Etwas rauf, runter, sind die Reifen zu schlapp, kommt der Wind von vorne, warum geht das heute schwerer oder sind die Muskeln schlaff, vom vielen Sitzen? Noch etwas runter mit der Übersetzung, langsam warm werden, so geht es. Ein gutes Radwegenetz zieht sich durch die Stadt, rot gefärbt sind die Überwege an den Kreuzungen, gegen rote Ziegel ausgetauscht sind die früheren grauen Platten auf den Gehwegen.

      Mit der zunehmenden Wärme der Muskeln veränderte sich die Stimmung, sah man manches nicht mehr so eng, lösten sich Grübeleien auf. Warum hatte gerade er diese oder jene Arbeit machen müssen, warum mischte sich da jemand ein, konnte alles wieder nicht schnell genug gehen, drohte ein Auftrag ein Termin zu platzen und nicht mehr gefallen lassen, sich wehren, es denen zeigen, so nicht, waren die ersten Gedanken - war es doch nur das alltägliche Einerlei, musste einem nur erst wieder einfallen - nichts Besonderes, keine Katastrophe, nur der normale Existenzkampf. So sortierte er aus, bewertete neu. Wo musste tatsächlich Widerstand geleistet werden und in welcher Form, keine Überreaktion, aber das meiste konnte man ablegen, war es nicht wert, sich weiter Gedanken darüber zu machen.

      Einen besseren Ort als das Fahrrad kannte er nicht, sich hier Klarheit, Entspannung zu verschaffen.

      Auf dem Bürgersteig meditierte wieder die alte Türkin, im Schneidersitz hockte sie da auf der Erde, sah nicht die alten verbeulten Autos, das schäbige verlassene Fabrikgebäude, in der die Familie lebte, sah nur nach innen. Merkte nicht die Abgase, den Lärm, den Staub der Straße - wie eine Statur saß sie da, fast unwirklich, sah vielleicht grüne sanfte Hügel, ein schönes aber kärgliches Land, das die Menschen nicht ernähren wollte, alte wunderschöne Walnussbäume - vor ihrem inneren Auge, sah sie dies, nur das konnte noch weinen.

      Zu den Stadtfahrten gehörte, in dieses oder jenes Schaufenster hineinsehen, kurz zu einem Stehkaffee anhalten, so entwickelte sich häufig erst während der Fahrt die genaue Route.

      Hier in der Nebenstraße war weniger renoviert, die Schaufenster noch nicht bis zum Boden vergrößert, graue, weniger aufgetakelte Fassaden, Eingänge. Als wären nicht fast zwanzig Jahre vergangen, wirkte alles in der Gastwirtschaft noch so vertraut, dunkel, heimelig, kaum Licht drang durch die Schmalen Sprossenfenster , wie früher. Eine schmucklose Einrichtung, einfache dunkelbraune, durch den Laufe der Zeit und vorn Tabaksqualm fast schwarz gewordene Holztische, klobige Stühle, Ausgetretener Steinfußboden, richtige Furchen hatten sich an den viel begangenen Stellen eingegraben. Nach einigem Zögern setzte er sich an die Theke, ungewohnt war der Sitz auf dem abgewetzten Hocker, unsicher schlenkerte er mit den Beinen hin und her, hatte sich früher häufig da hinten an dem großen Tisch in der Ecke mit anderen getroffen, aber alleine wollte er sich dort nicht hinsetzen. Fing an, seinen Entschluss zu bereuen, Schnapsidee, was sollte er hier.

      Hatte er etwa erwartet, hier noch jemanden zu treffen? Nur ein weiterer Gast saß dort, und er war froh, dass er sofort seine Bestellung aufgeben konnte. "Eine Tasse Kaffee."

      Nein, nur Kännchen gab es. "Ja, dann bitte ein Kännchen", oh je. Nein das war nicht der frühere Wirt, der hier konnte sich mit seinem Leibesumfang kaum hinterm Tresen bewegen und überwiegend hatte damals eine Frau hier bedient.

      Unmöglich, hier nicht an alte Zeiten zu denken, die viel geplagten Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre. Neuer Slogan aus Amerika dazu: "Let the sixties dy", was so viel hieß wie, lass die sechziger Jahre sterben, wir wollen davon nichts mehr hören, von diesen Heldentaten. Noch ziemlich jung war er, aber vielleicht hatte sich die Ereignisse dieser Jahre gerade deshalb so tief eingeprägt. Dies war ein besonderer Treffpunkt für Schüler und Studenten, die sich mit viel Engagement die Köpfe heiß redeten und so manch einen halben Liter dazu tranken. Beliebt waren die kalten Frikadellen, davon war nichts mehr zu sehen, höllisch scharfer Senf, ganz nach Bedürfnis ein Stück Weißbrot dazu und manch einer verpasste so den rechtzeitigen Heimweg. Einige begannen schon am frühen Tage mit der Weltverbesserung, andere kamen direkt nach der Schule, dem Besuch des Filmrings : Anti-Atom Film, der Versammlung für die Schaffung eines Jugendzentrums oder einfach so, Aufbruch selten vor Mitternacht und dann meistens noch die Frage, wo ist denn noch was los, auf irgendeiner Bude ging es weiter, wurde noch ein Schluck italienischer Landwein getrunken, diese großen Flaschen, warum nicht der Billigste, süßlich, höllisch unreines Zeug - arme Leber - wenn der Magen jetzt, nach den Bieren, Frikadellen mit dem scharfen Senf, Weißbrot, Rotwein, nicht ernsthaft rebellierte, den Körper wieder davon befreite und unvermeidlich die selbstgedrehten Zigaretten, nur einige .konnten das mit der bloßen Hand. Bei den anderen halfen die kleinen zigarettengroßen Geräte, in die man möglichst gleichmäßig den Tabak stopfte und das Papier hineinsteckte, anlecken nur noch drehen und ein bisschen Tabak wurde dabei immer auf den Matratzen verkrümelt, die schon aus Prinzip auf der Erde lagen: "Verdammt, wie soll ich da heute Nacht schlafen, passt doch mal auf und jetzt noch den Wein umgekippt?" Wenn es irgendwie finanziell hinhaute, wurde möglichst früh eine eigenes Zimmer genommen, der eigene Herr sein, keiner sollte einem mehr dreinreden, das war wichtig.

      Die Lehrer hatte man schon im Griff, die trauten sich nicht mehr so streng zu sein, richtig büffeln war out, sportliche Betätigung sogar verdächtig - sah nach Streber, zu angepasst aus.

      Wozu das denn gut sein sollte, mit Fragen nach der Anwendung für die Praxis, begannen die meisten Debatten und die Antworten ausnahmslos hilflos, die wussten keine größeren Zusammenhänge herzustellen, die Formel war eben die Formel. Aus Amerika kam der eine, sollte in Forschungsvorhaben für den Vietnamkrieg verstrickt gewesen sein, geriet schwer in Bedrängnis und immer mehr setzten sich auf seine Fährte. Hatte angeblich nur Grundlagenforschung betrieben, fühlte sich völlig unschuldig. Die Aufsässigkeit sei eine Folge der nach wie vor zu autoritären Gesellschaft, Erziehung, sagte gerade der, hätte eine zu geringe oder zu starke Identifikation mit den sozialen Normen zur Folge. Keine Ausflüchte halfen ihm, die Fragen wurden drängender und die Versammlungen größer, in denen er sich rechtfertigen sollte. Dubiose Vorlesungstechniken wurden aufgedeckt, hatte angeblich Seiten aus einem Buch her- ausgerissen, auf neutrales Papier aufgeklebt und daraus vor- gelesen. Allerdings lasen viele aus überall käuflichen Büchern vor, und wenn sie eine Pause machten oder einmal stockten, las ein Student dann zum Spott laut weiter und niemand wusste, wozu diese Vorlesungen gut sein sollten. Er sah ihn auf dem Weg zu der letzten Auseinandersetzung, nach der er freiwillig das Handtuch warf, im Fahrstuhl, wie er mühsam Luft in seine Lungen presste, am Ende seiner Kraft war.

      Selten konnte von denen mal jemand erklären, warum er was machte, über das eigene Sachgebiet hinausschauen war geradezu ein Tabu, Visionen gab es nicht. Unsicherheit im Lehrgebiet, die sich vor allem darin zeigte, dass kaum einer was mit eigenen Worten ausdrückte oder gar einen Scherz machte, war vorherrschend. Fast jeder hatte einen großen Guru in Übersee, der schon alles vorgedacht hatte, dessen Thesen man vertrat und zu bestätigen versuchte. Einer der Hochschullehrer über- reichte ihm mal ein Buch mit den Worten: Da steht schon alles drin, das brauchen wir nur noch zu untersuchen", und uralt war das auch noch. So blieb er morgens lange im Bett, hielt die für besonders reaktionär, hinterhältig, die schon ganz früh Vorlesungen anboten. Ging hohe Risiken ein, in dem er oft erst wenige Tage vor den Prüfungen mit den Vorbereitungen, manchmal Tausende von Seiten Literatur zu lesen, anfing, oder bei Kommilitonen im letzten Augenblick Zusammenfassungen schnorrte. Im Notfall musste dann das Prinzip wirksam werden, tust du mir nichts, tue ich dir nichts, was aber nur in mündlichen Prüfungen funktionierte und worauf sich nur wenige Rädelsführer verlassen konnten.

      Aber das Diskutieren und ständige Hinterfragen war wichtig, nicht alles schlucken, als gegeben hinnehmen, der Obrigkeit nicht blind vertrauen. Unterdrückende, sinnlose Autorität ließ sich so abbauen, hatte in der alten Form lange Zeit keine Chance mehr, hoffentlich nie wieder.

      Jetzt war es ganz still hier, wahrscheinlich waren andere Lokale in, die Weltverbesserung machte Pause oder fand an anderen Orten statt. Sein Nachbarhocker, den er zunächst