Johannes Schell hat für seine Darstellung die mündliche Rede gewählt; er spricht seine Leser wie ein Publikum an. Diese stilistische Eigentümlichkeit ist durch zweierlei begründet: einmal dadurch, dass Johannes Schell seine Philosophie tatsächlich einem anthroposophischen Publikum in einer Reihe von Vorträgen vortrug; zum anderen sah er in dieser Darstellungsweise die geeignete Form für eine Philosophie, die nicht logischem und systematischem Nachdenken, sondern Beobachtungen entspringt, die zur angemessenen Darstellung einen ungezwungenen Freiraum brauchen und sich nicht in ein System zwängen lassen. Wie bei den tatsächlich gehaltenen Vorträgen wendet er sich auch in der schriftlichen Niederlegung seiner Philosophie an ein anthroposophisches Publikum. Er bezieht sich auf Steiner als einer Persönlichkeit, deren Leistung nicht erst nachgewiesen werden muss, sondern erkannt und anerkannt ist. Diese Haltung hat selbstverständlich mit den vorgebrachten Inhalten der Philosophie des Denkens und ihrer Begründung nichts zu tun; sie begründen sich durch sich selbst.
Johannes Schells Untersuchungen sind gewachsen, haben sich entwickelt und entfaltet. Auch diesem Sachverhalt wollte er in der Form der Niederschrift Rechnung tragen: So erklären sich Wiederholungen und Zusammenfassungen, die schon Bekanntes unter neuen und weiterführenden Gesichtspunkten nochmals aufgreifen. Diese Wiederholungen waren von Johannes Schell gewollt; sie sind ihm nicht versehentlich unterlaufen. Sie sollten auch dem wichtigsten Anliegen von Johannes Schell dienen, den Hörer und Leser in die Realwelt des Denkens immer wieder hineinzuversetzen. Hierin liegen m. E. ein besonderer Wert und eine besondere Leistung des Werkes. Allerdings verlangt dies vom Leser, die besprochenen Erfahrungen, d.h. die gedanklichen Akte und inneren Gegenüberstellungen nachzuvollziehen. Wer hier nicht mitgehen will oder kann, wird nicht verstehen, wovon die Rede ist. Johannes Schell beschreibt subtile geistige Erfahrungen und Tätigkeiten an und mit dem Denken; an keiner Stelle theoretisiert er oder bewegt er sich auf der Ebene von Schlussfolgerungen oder Spekulationen. Er vollzieht und beobachtet kognitive Akte, weshalb er seine Philosophie ursprünglich Aktologie nennen wollte. Wir setzen an ihre Stelle in Anlehnung an den neuen Titel „Die Philosophie des Denkens“ den Terminus „Philosophie der Denkakte“.
Es schmälert den Wert des Buches nicht, auch auf die Passagen hinzuweisen, die unvollendet geblieben sind und einer weiteren Überarbeitung bedurft hätten. Die Stärke der Arbeit von Johannes Schell liegt fraglos in der Analyse des Gesamtphänomens des menschlichen Denkens. Daher trägt sie zu Recht den Titel „Die Philosophie des Denkens“. Zwei Aspekte aber sind nicht in genügender Ausführlichkeit zur Darstellung gekommen: Der eine betrifft eine eingehende Analyse des Phänomens der Wahrnehmung. Dieses Defizits war sich Johannes Schell bewusst; und er wusste auch, dass eine Behebung über seine ihm noch zur Verfügung stehenden Kräfte hinausging. Hier hätte neben allgemeinen psychologischen Werken auch die Sinneslehre Rudolf Steiners Berücksichtigung finden müssen. In diesem Bereich konnte Johannes Schell nur auf Arbeiten anderer Wissenschaftler verweisen. Zweitens fehlt eine tiefere Untersuchung und Begründung des Freiheitsproblems. Wegen der Erkrankung von Johannes Schell ist die Behandlung dieser Thematik nicht über erste Anfänge hinausgekommen. Dazu wird im Nachwort über die geplante Fortführung des Werkes noch etwas gesagt. Allerdings kann mit gutem Grund angenommen werden, dass derjenige, der die Ausführungen zur Natur des Denkens mitvollzogen und geprüft hat, über eine Grundlage verfügt, die es ihm ermöglicht, diese Frage selbst zu beantworten.
Dr. Werner Heil
Ludwigsburg, im Januar 2014
A. DAS PROBLEM DES ANFANGS
1. Allgemeine Hinweise
Neue Einsichten, vor allem neue Erfahrungen, bahnen sich nur schwer einen Weg, besonders dann, wenn sich, wie im Falle Rudolf Steiners, mit dem Namen des Autors die gängige, aber unbrauchbare Vorstellung von einer «mystischen» Esoterik verbindet, die sich ohnehin, wie man meint, der intersubjektiven, also wissenschaftlichen Nachprüfung entzieht. Obwohl dies keinesfalls zutrifft, braucht uns diese Auffassung nicht zu beschäftigen, da die Philosophie Rudolf Steiners reine Philosophie ist - und nichts darüber hinaus. Sie steht im Zeichen eines geläuterten und antimetaphysischen Empirismus. Schon die natur- und ingenieurwissenschaftliche Ausbildung des Autors und seine professionelle Kenntnis der Philosophie und ihrer Geschichte legen die Vermutung nahe, dass es ihm um greifbare, wenn auch subtile Erfahrungen und nicht um abstrakte Prinzipien geht. Seine philosophischen Schriften (und seine Vorträge) beruhen auf intimen Erlebnissen des Denkens, die mit gebotener Sorgfalt untersucht, miteinander verbunden und interpretiert werden. Hier gerät mancher moderne Leser in Schwierigkeiten, wenn er gewohnt ist, rein logische Konstruktionen als die ultima ratio aller Philosophie zu betrachten. Erlauben Sie mir, einige zeitgenössische Tendenzen der Philosophie mit einem orientalischen Basar zu vergleichen, der sich dadurch auszeichnet, dass Käufer und Verkäufer scheinbar endlos um den Preis einer Ware feilschen - mit Argumenten, die Wesen und Funktion des Kaufobjekts gar nicht oder nur am Rande berühren. Ein zuweilen vergleichbares Bild bieten so manche zeitgenössische Schriften, wenn sie das logische Pro und Contra zu irgendeiner Sache zu entscheiden versuchen: sie entfalten eine geistreiche Begriffsdialektik, die oft bewundernswert ist, aber sobald sie ihr „Urteil“ gefällt haben, kümmert sie das Phänomen selbst so gut wie nicht mehr. Eins der vielen Musterbeispiele ist das umstrittene Phänomen der sog. „Evidenz“. Hat man einmal festgestellt oder glaubt man „bewiesen“ zu haben, dass es so etwas wie Evidenz gibt, dann belässt man es bei diesem Ergebnis, ohne sich viel darum zu kümmern, welche innere Struktur dieses Phänomen besitzt, welche Rolle es im Denken des Menschen, in Evolution und Geschichte spielt - und wie es gehandhabt werden kann. Man hat etwas entdeckt, aber man will es nicht anwenden. Unversehens und mit leichter Hand werden viele solcher Erkenntnisse in die sog. „Realwissenschaften“ abgeschoben, weil sie, wie man glaubt, nicht in die Philosophie gehören.
Wir möchten einen sachgemäßeren Weg beschreiten, wie er dem Zeitalter der Naturwissenschaft angemessen ist, und wollen Rudolf Steiners Motto zu seiner „Philosophie der Freiheit“ im Auge behalten, das da lautet: „Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode“. Dabei werden wir die Kluft zwischen Logik und Psychologie vorsichtig zu überbrücken versuchen, ohne in den überholten „Psychologismus“ zurückzufallen, aber auch ohne in die Nähe einer puristischen „Wissenschaftslogik“ zu geraten. Wir wenden uns gegen jede künstliche Verabsolutierung beider Bereiche, die sowohl der Realität wie einer wohlverstandenen Philosophie widerspricht.
Und noch etwas sei gleich miterwähnt. Wir bauen, wie gesagt, auf Erfahrungen auf, müssen aber zunächst feststellen, dass sie im Alltag des Lebens nur selten erfahren werden, weil sie zumeist im tiefen Unbewussten verlaufen. Ich werde sie in dieser Schrift langsam aufzudecken versuchen. Das geht aber nur, wenn Sie bereit sind, innere Aktivität aufzubringen, um solche Erfahrungen auch machen zu können. Es liegt deshalb ganz in Ihrer Freiheit, wie lange Sie mitgehen wollen. Sie werden durch keinen Zwang, auch nicht durch den Zwang einer sog. „stringenten“ Logik, wie man heute gerne sagt, zu unfreiwilligen Entscheidungen gedrängt. Die Zeit der philosophischen Systeme ist endgültig vorüber. Ich erschließe Ihnen, so gut ich das kann, neue Wege in der Erfahrung des Denkens, die Rudolf Steiner als erster gegangen ist. Er selber äußert sich zu diesen Fragen einmal folgendermaßen:
„Keiner von uns möchte einer wissenschaftlichen Schrift einen Titel geben, wie einst Fichte: «Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie. Ein Versuch, die Leser zum Verstehen zu zwingen.» Heute soll niemand zum Verstehen gezwungen werden. Wen nicht ein besonderes, individuelles Bedürfnis zu einer Anschauung treibt, von dem fordern wir keine Anerkennung, noch Zustimmung.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. Dornach 1987, S. 268)
Er kennzeichnet dann noch einmal seine „Philosophie der Freiheit“ mit den Worten:
„Sie soll nicht «den einzig möglichen» Weg zur Wahrheit führen, aber sie soll von demjenigen erzählen, den einer eingeschlagen hat, dem es um die Wahrheit zu tun ist!“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. Dornach 1987, S. 269)
Hiermit rühren wir bereits an einen