„Wenn ich beobachte, wie eine Billardkugel, die gestoßen wird, ihre Bewegung auf eine andere überträgt, so bleibe ich auf den Verlauf dieses beobachteten Vorganges ganz ohne Einfluss. Die Bewegungsrichtung und Schnelligkeit der zweiten Kugel ist durch die Richtung und Schnelligkeit der ersten bestimmt. Solange ich mich bloß als Beobachter verhalte, weiß ich über die Bewegung der zweiten Kugel erst dann etwas zu sagen, wenn dieselbe eingetreten ist. Anders ist die Sache, wenn ich über den Inhalt meiner Beobachtung nachzudenken beginne. Mein Nachdenken hat den Zweck, von dem Vorgange Begriffe zu bilden. Ich bringe den Begriff einer elastischen Kugel in Verbindung mit gewissen anderen Begriffen der Mechanik und ziehe die besonderen Umstände in Erwägung, die in dem vorkommenden Falle obwalten. Ich suche also zu dem Vorgange, der sich ohne mein Zutun abspielt, einen zweiten hinzuzufügen, der sich in der begrifflichen Sphäre vollzieht. Der letztere ist von mir abhängig. Das zeigt sich dadurch, dass ich mich mit der Beobachtung begnügen und auf alles Begriffesuchen verzichten kann, wenn ich kein Bedürfnis danach habe. Wenn dieses Bedürfnis aber vorhanden ist, dann beruhige ich mich erst, wenn ich die Begriffe: Kugel, Stoß, Geschwindigkeit usw. in eine gewisse Verbindung gebracht habe, zu welcher der beobachtete Vorgang in einem bestimmten Verhältnisse steht. So gewiss nun ist, dass sich der Vorgang unabhängig von mir vollzieht, so gewiss ist es, dass sich der begriffliche Prozess ohne mein Zutun nicht abspielen kann.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. 15. Auflage Dornach 1987, S. 36)
Er fährt dann vorläufig einschränkend fort:
„Ob dieses Tun in Wahrheit unser Tun ist oder ob wir es einer unabänderlichen Notwendigkeit gemäß vollziehen, lassen wir vorläufig dahingestellt.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. 15. Auflage Dornach 1987, S. 37)
Daraus ergeben sich die Konsequenzen von selbst:
„Beim Zustandekommen der Welterscheinungen mag das Denken eine Nebenrolle spielen, beim Zustandekommen einer Ansicht darüber kommt ihm aber sicher eine Hauptrolle zu.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. 15. Auflage Dornach 1987, S. 39)
Diese Überlegungen schließen das wichtige Problem der Ableitungsmöglichkeit des Denkens ein, mit dem wir uns noch beschäftigen werden.
Damit haben wir alles in der Hand, um den Ausgangspunkt aller Wissenschaft und Philosophie formulieren zu können. Wir folgen wieder Rudolf Steiner:
„Beobachtung und Denken sind die beiden Ausgangspunkte für alles geistige Streben des Menschen, insofern er sich eines solchen bewusst ist. Die Verrichtungen des gemeinen Menschenverstandes und die verwickeltsten wissenschaftlichen Forschungen ruhen auf diesen beiden Grundsäulen unseres Geistes. Die Philosophen sind von verschiedenen Urgegensätzen ausgegangen: Idee und Wirklichkeit, Subjekt und Objekt, Erscheinung und Ding an sich, Ich und Nicht-Ich, Idee und Wille, Begriff und Materie, Kraft und Stoff, Bewusstes und Unbewusstes. Es lässt sich aber zeigen, dass allen diesen Gegensätzen der von Beobachtung und Denken, als für den Menschen wichtigste, vorangehen muss.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. 15. Auflage Dornach 1987, S. 38)
So weit Rudolf Steiner. Man kann ergänzend hinzufügen, dass jedes der soeben genannten Gegensatzpaare selbst erst ein Ergebnis der Beobachtung und des Denkens ist. Wegen der zentralen Bedeutung dieser Grundtatsache erlauben Sie mir eine nützliche und einprägsame terminologische Kurzfassung, die ich von jetzt an verwenden werde: ich nenne diese ursprüngliche Ausgangssituation „Denkbeobachtung“, um beide Elemente in einem einzigen Wort festhalten zu können. Damit besitzen wir eine praktikable Bezeichnung für das methodologische Urphänomen aller Wissenschaft und Philosophie, der Naturwissenschaften wie der Geisteswissenschaften. Und dieses Urphänomen ist von den Naturwissenschaftlern weit besser in Rechnung gestellt worden als von den Geisteswissenschaftlern. Daher die großen theoretischen und praktischen Erfolge, mit denen die materiologischen Erkenntnismethoden aufwarten können. Gewiss ist die Untersuchung so universeller und immer noch unbestimmter Phänomene in den sog. „humanities“ (Geist, Seele, Geschichte, Gesellschaft usw.) weitaus komplexer und schwieriger als alle materiellen Prozesse zusammen, die wir bis dato kennen, aber trotzdem bleibt festzuhalten, dass die Geisteswissenschaften eine methodologische Weiterentwicklung zum „experimentell“ orientierten Denken (zum „aktologischen Versuch“) auf Gebieten, die dafür offen stehen, nicht in Angriff genommen haben. Was im Wege stand, war, wie bereits gesagt, die axiomatologische, dialektische und nicht selten die bloß verbalistische Interpretationskunst, die immer wieder ins Schwimmen geriet, und dann die wachsende Tendenz zur „Logifizierung“ aller Wissenschaftsbereiche, ein Vorgang, der sich dann zu weltfremden Glasperlenspielen verengt, wenn der Mensch als Objekt der Erkenntnis eliminiert wird. Das Urphänomen der „Denkbeobachtung“, von dem wir ausgehen, zeigt einen grundverschiedenen Ansatz: ein lebendiges, aber analysierbares Aktgewebe, das wir nach allen Seiten handhaben können, also geistige Tätigkeiten, die sich grenzenlos erweitern und variieren lassen. An diesem Anfang steht kein Prinzip, kein Axiom, keine Kategorie und schon gar keine Hypostase, wir gehen von einer durchschaubaren Tätigkeit des menschlichen Geistes aus, die wir logisch und praktisch in den Griff bekommen wollen. Dabei wird sich zeigen, ob diese „Seelischen Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode“ nur in die empirische Psychologie gehören oder darüber hinaus auch epistemologische Qualitäten aufweisen.
9. Das Denken als Objekt der Beobachtung
Wir wissen, dass wir denken, und wissen, dass wir gedacht haben. Was wir das Urphänomen der Denkbeobachtung nennen, kann selbst nichts anderes als eine denkend herbeigeführte und begriffene Beobachtung sein. Es erweist sich als sinnlos, von „Fakten“ zu sprechen, deren Vaterschaft nicht im Denken liegt. Damit ist der Angriff auf den „Mythos des Gegebenen“ zunächst gerechtfertigt. Gehen wir so weit, das Denken selbst zum Objekt der Beobachtung zu machen, dann geraten wir in die berühmte „Zirkularität“ des Denkens über das Denken, vor der wir kapitulieren müssen. Wir leben immer in Begriffen und Begriffsrelationen: auch „denken“ und „beobachten“ sind Begriffe, die wir miteinander in Verbindung bringen müssen, wenn wir Erkenntnisse erlangen wollen. Damit werden alle „Fakten“ zu Theoremen, und diese Theoreme treten uns wieder als „Fakten“ gegenüber - zumeist aber so, dass wir das ideelle Element verschlafen. Wenn wir es trotzdem zur Kenntnis nehmen, wächst die Verwirrung ins Ungemessene, und wir werden Verständnis dafür aufbringen, dass sämtliche erkenntnistheoretischen Bemühungen in Verruf geraten sind. Unlösbare Probleme soll man liegen lassen.
Es könnte aber sein, dass diese Probleme auch noch eine andere, besser zugängliche Seite zeigen, die bisher so gut wie nicht beachtet worden ist - und zwar aus dem scheinbar so einleuchtenden Grunde, weil man nicht in so etwas wie den „Psychologismus“ der Jahrhundertwende zurückfallen wollte. Dagegen ist nichts zu sagen. Die damalige Form des „Psychologismus“ ist zweifellos überholt und unfruchtbar. Aber es gibt andere Wege, die unmittelbar in das Erkenntnisproblem hinüberleiten und einen Zusammenhang aufschließen, der uns weiterhelfen kann. Da ist zunächst das Problem der Beobachtbarkeit des Denkens, von dem jeder weitere Schritt abzuhängen scheint: man kann nichts erkennen, das uns nicht in irgendeiner Weise als Wahrnehmbares gegenübertritt. Um diese Überlegung kommt niemand herum. Aber es stellt sich hier die Frage, ob wir deshalb auch schon berechtigt sind, das weitere Nachforschen aufzugeben. Gehen wir diesem Problem etwas nach.
Sie alle wissen, dass das Denken kein Gegenstand ist, den man wie eine Blume betrachten und begutachten kann. Schon der erste Schritt in diese Richtung führt ins Nichts. Rudolf Steiner äußerst sich dazu mit großem Nachdruck, um klarzumachen, dass wir uns in einer unmöglichen Situation befinden, wenn wir das Denken beobachten wollen. Er äußert sich dazu folgendermaßen:
„Ich kann mein gegenwärtiges Denken nie beobachten; sondern nur die Erfahrungen, die ich über meinen Denkprozess gemacht habe, kann ich nachher zum Objekt des Denkens machen. Ich müsste mich in zwei Persönlichkeiten spalten: in eine, die denkt, und in die andere, welche sich bei diesem Denken selbst zusieht, wenn ich mein gegenwärtiges Denken beobachten wollte. Das kann ich nicht. Ich kann das nur in zwei getrennten Akten ausführen. Das Denken, das beobachtet werden soll, ist nie das dabei in Tätigkeit befindliche, sondern ein anderes. Ob ich zu diesem Zwecke meine Beobachtungen an meinem eigenen früheren