Auf die schmerzliche Erfahrung, die wohl jede Frau in ihrem Leben einmal macht, dass sich ein Mann von ihr trennt, reagiert sie in einer völlig übersteigerten Weise: Sie ist unfähig, ihren Anteil daran zu erkennen, und die alleinige Schuld liegt beim Mann. – Ich würde es keinen Tag mit ihr aushalten! – Sie ist dermaßen in ihrem Ich verletzt, dass sie sich schwört, nie mehr Opfer sein zu wollen, sondern nur noch der Täter. Sie hat erlebt, dass nicht alles machbar ist im Leben, insbesondere die Liebe nicht, und genau das kann sie nicht akzeptieren. Wenn sie schon nicht die Macht hat, die Trennung zu verhindern, dann will sie wenigstens insofern noch die Kontrolle darüber haben, dass sie den Zeitpunkt bestimmt. Die Dinge im Griff und unter Kontrolle haben zu wollen ist aber eine erklärte Eigenschaft des Ichs.
Die absolute Überzeugtheit von ihren Qualitäten, die eigentlich jeden Mann veranlassen müssten, sich unaufhörlich vor ihr niederzuwerfen und um die Gnade ihres Anblicks zu flehen, macht es ihr unannehmbar, zu denken, dass ein Mann sich für eine Trennung von ihr entscheiden könnte. Wenn sie das zu sehen zulassen würde, würde das wohl den sicheren Zusammenbruch bedeuten. So rettet sie sich mit dem Gedanken, dass nur eine Hexe – also eine 18-jährige, die den Mann verzaubert und so in Bann schlägt, dass er willenlos wird – dazu in der Lage ist.
Wie wenig es ihr in der Beziehung zu diesem Mann um Liebe gegangen ist, zeigt die Geschichte mit dem Dim Sum: Liebe bedeutet ein sich Einlassen auf einen anderen Menschen, ein sich öffnen. Liebe beinhaltet ein Transzendieren des Egos, ein – wenigstens bruchstückhaftes - Absehen vom eigenen Ich und eine Hinwendung zu einem anderen Individuum. Sie bedeutet die Wahrnehmung eines anderen als ein eigenständiges Wesen, das ich nicht beherrschen will und kann, sondern das ich in seiner Eigenständigkeit wahrnehme und zu akzeptieren versuche. Die Sache mit dem Dim Sum zeigt, dass ihr gar nichts an ihm als Mensch gelegen ist, dass sie gar nicht versucht hat, zu ihm als Mensch eine Beziehung aufzubauen, sondern dass sie erwartet, dass ihre Wünsche gesehen und erfüllt werden. Sie ist der Mittelpunkt und um sie muss sich im Denken des Mannes alles drehen.
Das ist ihr Anspruch und ihre Erwartung – der Anspruch und die Erwartung des Ichs, jeden Ichs! Die Realität – in diesem Fall der Mann – aber zerstört diese illusionäre Erwartung, muss sie zerstören, wenn das Ich nicht größenwahnsinnig werden soll, und die richtige Reaktion wäre, seine ichhaften Ansprüche in ihrer Ichhaftigkeit zu erkennen. Dies geschieht aber bei der Frau nicht, sondern sie beharrt auf ihrer Egozentrizität und weist alle Schuld dem Mann zu, den ihr ganzer Ärger trifft. Mit ihr, die doch so wichtig ist und so königlich, die doch im Mittelpunkt seines Denkens und Handelns gestanden haben müsste, mit ihr ist er nie Dim Sum essen gegangen – aus welchen Gründen auch immer, wahrscheinlich, weil ihre selbstverliebte und egobezogene Art seine Liebe zum Erkalten gebracht hat. Ich vermute, dass er wirklich nicht gern chinesisch essen gegangen ist, dass aber das Entflammtsein für dieses junge Mädchen seine Vorbehalte hinweggefegt hat und er sich hat umstimmen lassen.
Ärger
Im Ärger zeigt sich besonders deutlich die Ich-Struktur. Er entsteht ausnahmslos deshalb, weil jemand klare und entschiedene Vorstellungen davon hat, wie er etwas haben möchte oder wie etwas sein soll. Entspricht das Verhalten des anderen oder der Gegebenheiten nicht diesen Erwartungen, dann reagiert das Ich gereizt – die gemilderte Form des Ärgers - bis hin zu Wut, Zorn und Hass. Ärger zeigt die Unfähigkeit des Ichs, die Gegebenheiten so zu nehmen wie sie sind, und wenn es nur das Wetter ist, das nicht den Erwartungen entspricht. Das sich ärgernde Ich kann nicht akzeptieren, dass ein anderer seine eigenen Vorstellungen und Erwartungen hat und sie als gleichberechtigt seinen eigenen gegenüberstellt. Es gelingt ihm nicht, den anderen Menschen in seinem Eigensein zu akzeptieren. Könnte es das, dann entstünde statt Ärger ein fruchtbarer Austausch der Gedanken, Wünsche, Vorstellungen und Erwartungen, wie es bei zwei selbständig denkenden und verantwortlich handelnden Individuen der Fall wäre.
Ärger ist immer und ausnahmslos illegitim, d. h. es gibt überhaupt keine Situation, in der Ärger gerechtfertigt ist. Er ist absoluter Ausdruck des Ichs, es bedeutet immer, dass ich nicht zulassen will, dass etwas geschieht, das ich nicht für richtig halte. Und das ist anmaßend, ignoriert das Eigensein des anderen Individuums, maßt sich an, darüber zu bestimmen, was ein anderer zu tun oder zu denken hat. Jeder kennt Ärger und häufig sind die Dinge mehr oder weniger harmlos, über die man sich ärgert. Das kann über die berühmte Zahnpastastube sein, die der andere nicht richtig ausgedrückt hat oder der Klodeckel, der nicht heruntergeklappt wurde. Es kann aber auch die Hautfarbe eines anderen sein, die mich ärgert, oder seine Schlampigkeit oder sein Desinteresse, und schon wird sichtbar, dass es um Wesentliches geht. Die zugrundeliegende Haltung aber ist die gleiche: die Unduldsamkeit eines Ichs.
Da Ärger jeder kennt, halte ich es für angebracht, hier anzusetzen, um das Ich und die Haltung, die sich dahinter verbirgt, zu durchschauen. Wer Interesse daran hat, an seinem Ich zu arbeiten, kann hier am besten ansetzen.
Allein der Satz: „Ich bin gespannt, wann du endlich deine Hose aufräumst“, ganz gleich, ob er vom Mann oder von der Frau gesprochen wird, enthüllt das Ich in all seinen Facetten. Es ist nur ein ganz verhaltener Ärger und doch zeigt er, dass hier ein Ich ist, das den Anspruch erhebt, dass seinen Forderungen Genüge getan wird. Die Beweggründe der anderen Seite, warum die Hose noch nicht aufgeräumt ist, interessieren es überhaupt nicht; es erwartet die Erfüllung seiner Wünsche und Vorstellungen. Wenn diesem Anspruch ein gebrochenes Ich gegenübersteht, das fürchtet, die Liebe des anderen zu verlieren, wenn es nicht dessen Willen erfüllt, dann hat ein ungebrochenes Ich leichtes Spiel. Steht ihm ein starkes Ich gegenüber, dann kommt es zum Konflikt, zum Streit, letztlich mit körperlichen Folgen, und dann entscheidet die körperliche Stärke, wer sich durchsetzt - die primitivste Form, Auseinandersetzungen zu regeln. Unter Staaten entspricht das einem Krieg.
Ärger entsteht, weil man immer klare Vorstellungen hat, wie man etwas haben möchte, wie etwas sein sollte. In der Regel aber richtet sich die Wirklichkeit nicht nach meinen Vorstellungen: Das Wetter ist nicht so, wie ich es gerne haben möchte, das bestellte Essen entspricht nicht meinen Vorstellungen und auch ich selbst erbringe oft nicht die von mir erwarteten Leistungen. Das Leben ist voll von Anlässen, über die ich mich ärgern kann. Besonders der andere Mensch ist es häufig, weil auch er seine Vorstellungen hat, wie etwas sein sollte, und die können oft genau das Gegenteil von meinen Vorstellungen sein. Und schon führt das zu Ärger, Enttäuschung und Konflikt.
Das Ich stößt sich eigentlich unentwegt an etwas, worin letztlich eine tiefsitzende Unzufriedenheit und Unerfülltheit zum Ausdruck kommt. Nichts ist recht, nichts passt und man merkt selber die Unzufriedenheit, für die man eigentlich keinen Grund angeben kann. In der Schizophrenie-Forschung ist von Vulnerabilität die Rede, Verletzlichkeit. Kleinigkeiten des täglichen Lebens, die nicht so sind, wie man es sich vorstellt – dass der Vorhang nicht richtig fällt, dass das Bild schief hängt, dass das Essen zu wenig gewürzt ist, dass die Fransen des Teppichs nicht gleichmäßig ausgerichtet sind - verletzen und beieinträchtigen das Wohlbefinden. Wenn es dem Menschen nicht gelingt, sich davon in einem vernünftigen Maß zu distanzieren und seine Frustrationsschwelle zu erhöhen, dann gilt er als krank. Hierher würde ich auch Fälle rechnen, wo ein Engländer Schadensersatz zugesprochen bekommt, weil an dem Urlaubsort nur Deutsche waren, mit denen er sich nicht unterhalten konnte oder – noch unglaublicher – dass jemand Schadensersatz dafür bekommt, dass er am Urlaubsort mit Behinderten am Nebentisch auskommen musste. Das ist krankhaft übersteigerte Vulnerabilität, die von Gerichten sanktioniert wird! Es ist ein Abbild unserer gesellschaftlichen Einstellung zum Ich.
Wenn der Ärger zu einer unbeherrschbaren Wut wird, dann ist es ein Symptom der Borderline-Persönlichkeit. Ärger und Wut kennt jeder; wann es krankhaft ist, entscheidet der gesellschaftliche Konsens; im Grunde sind es nur Gradunterschiede.
Das Ich ärgert sich, wo das Individuum nur staunt, sich wundert oder eine Ansicht bzw. ein Verhalten als interessant findet. Es ist nicht so, dass man als Individuum den Ärger unter Kontrolle gebracht hat – das ist die Weise des Ichs, mit solchen Dingen umzugehen, und