Der Plethora-Effekt. Jon Pan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jon Pan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847661313
Скачать книгу
werde leerer und leerer. Tief aus mir heraus schwillt diese Durchsichtigkeit hervor, die mich mit der Zeit verschwinden lassen wird. Das gläserne Wesen, als das ich mich empfinde, schmilzt wie dünnes Eis, dessen Wasser im Boden der Vergessenheit versickert. Meine letzten Gedanken presse ich beim Schreiben der Eintragungen aus mir heraus. Bald hat auch das ein Ende. Dann will ich nur noch schlafen.

       (Rupert Dill)

      

      Regelmäßig betraten MIT, LIN und REC den Raum, in dem ich mich aufhielt. Das Geräusch der Saite mit dem Trichter kündete jeweils ihr Kommen an. Sie unterhielten sich, egal ob ich irgendwo stand oder unter der Zeltplane lag. Mir kam es vor, als verstünden sie nicht, wie man überhaupt unter ein solches Ding kriechen konnte. Wussten sie denn nicht, was ein Zelt war? Sicher, ich benutzte es auf eine etwas eigenartige Weise, praktisch als Decke.

      

       5. Eintragung

       Hundert Tage sind wie hundert Jahre. Doch was interessiert mich das! Bald wird die Zeit stillstehen, und dann gibt es keinen Unterschied mehr zwischen einem Tag und hundert Jahren. Meine Glieder fühlen sich schwer an, denn ich bewege mich kaum noch. Was soll’s. Im Viereck herumzugehen liegt mir nicht. Das habe ich lange genug getan. Wird der Stillstand der Zeit für mich das Ende bedeuten? Bei meiner Geburt bin ich in Schwung versetzt worden, und wenn dieser Schwung ausgelaufen ist, so lebe ich nicht mehr. Meine Entführung hat diesen Schwung stark gebremst. Ich torkle bereits, kann mich kaum noch aufrecht halten. Der Stillstand der Zeit ist der Stillstand meiner Zeit. Werde ich, wenn es mich hier nicht mehr gibt, einen neuen Schwung erhalten – einen Schwung, der mich in eine neue Dimension hinein schubst und mich somit wieder existent machen wird?

       (Rupert Dill)

      

       6. Eintragung

       Ich esse und schlafe, wasche mich hin und wieder. Mehr ist da nicht.

       (Rupert Dill)

       7. Eintragung

       Der Trichter mit der Saite ist weg. Ich hatte ihn neben der Kommode vergessen.

       Was nun? Jetzt kann ich den Raum nicht mehr selbständig verlassen. Die Purpur-Blätter, die ich in der untersten Schublade der Kommode aufbewahre, reichen jedoch noch für gut vierzig Mahlzeiten.

       Ich werde mich besser wieder hinlegen und weiterschlafen.

       (Rupert Dill)

      Irgendwann, nach einer weiteren langer Zeit, die ich in meinem Zustand absoluter Passivität verbracht hatte, glaubte ich eine Veränderung zu bemerken. In mir selbst war ja längst alles zum Stillstand gekommen, da gab es eigentlich nur noch das totale Nichts, an dessen Schwelle ich bereits stand. In dieser Gleichgültigkeit aber nahm ich wahr, dass etwas fehlte, das wesentlich zu ihr beitrug. Es hatte mit dem Dauergeräusch, dem akustischen Sinnbild für die mich umgebende Monotonie zu tun – dem ewig vibrierenden Klang dieser, wie ich annahm, Riesensaite. Dieses Geräusch ließ nach, was mir einen kleinen Teil meiner früheren Aufmerksamkeit zurückgab. Schöpfte ich neue Hoffnung? Nein, ich hatte Angst. Die schützende Gleichgültigkeit, dieses Schwellenerlebnis zum Tod, hüllte mich nicht mehr ein. Jetzt geschah etwas. In meiner ersten Aufregung suchte ich nach dem Trichter. Vielleicht hatten ihn MIT, LIN und REC doch nicht mitgenommen und er lag noch irgendwo. Erstaunlich, wie schnell ich aus meiner monatelangen Lähmung eine solche Hast entwickeln konnte. Den Trichter fand ich aber nicht.

      Ich musste abwarten, bis MIT, LIN und REC kamen, um ihnen, wenn sie den Raum verließen, zu folgen. Nach meiner bisherigen Erfahrung würde mir das keine Schwierigkeiten bereiten. Und in der Zwischenzeit? Ich schritt im Raum auf und ab, dicht an den Gegenständen vorbei, setzte mich auf die Kommode, spielte mit den Fingern an meiner abgewetzten Hose herum. Kam nun das, worauf ich so lange gewartet hatte?

      

       8. Eintragung

      Nichts geschieht. MIT, LIN und REC sollten schon längst bei ihrem Rundgang durchs Raumschiff bei mir angekommen sein. Wo bleiben sie? Ist etwas geschehen? Ich muss an die Wahrscheinlichkeit eines technischen Schadens denken. Bleibt darum das Vibrieren aus?

       Ich schreibe, weil ich mich damit beruhigen kann. Das Herumsitzen und Warten kostet mich Nerven. Und hellwach bin ich. Ist es die Angst, die das auslöst? So oder so: es muss durchgestanden werden!

      

       (Rupert Dill)

       9. Eintragung

      Es geschieht noch immer nichts. Essen mag ich nichts mehr. So sehr nimmt mich die Ungewissheit mit. Das Vibrieren ist weiterhin nicht mehr zu hören. Und MIT, LIN und REC bleiben dem Raum hier fern. Was wird geschehen? Wird überhaupt etwas geschehen? Ich weiß es nicht.

       (Rupert Dill)

      

       10. Eintragung

      Warum habe ich nicht besser auf den Trichter mit der Saite aufgepasst! Wie gut könnte ich ihn jetzt doch gebrauchen. Ich muss nachsehen, was in den anderen Räumen vor sich geht. MIT, LIN und REC kamen doch mit solcher Regelmäßigkeit. Keine Spur von ihnen. Die Stille wirkt unangenehm. Nur das Geräusch des Kugelschreibers auf dem Papier ist zu vernehmen.

       Bin ich noch der einzige Lebende an Bord? Ein verrückter Gedanke. Befreit aus der Starre der Hoffnungslosigkeit gibt es plötzlich nur noch mich. Unsinn. Es wird schon nichts passiert sein. Wie auch? Das hätte ich doch bemerken müssen. Oder nicht? Wie leicht es sich hier atmen lässt. Genau wie auf der Erde. Sauerstoff scheint genug vorhanden zu sein. Und wenn das in den anderen Räumen nicht mehr so ist? Vielleicht kommen MIT, LIN und REC deshalb nicht mehr. Der Gedanke versetzt mich in Schrecken: Ich treibe als einziger Überlebender in einem Raumschiff durchs All, fest darin eingeschlossen, eingekerkert. Steuerlos in der Unendlichkeit. Ohne Entrinnen. Wenn ich Glück habe, zerschelle ich an einem Meteoriten. Doch darf ich überhaupt auf einen solchen Gnadenstoß hoffen?

       Nein. Ich will nicht daran denken. Ich schaue mir besser das Fotoalbum an.

       (Rupert Dill)

      Ich lag hellwach unter der Zeltplane, als ich eine Erschütterung verspürte. Die Härte des Schlages überraschte mich. Von Panik ergriffen, schnellte ich hoch, wobei die Zeltplane auf meiner Schulter hängen blieb. Mit der Hand riss ich sie herunter, stand da, zitternd, jederzeit bereit, mich zu Boden zu werfen. Mein Blick irrte umher, blieb an einigen Gegenständen hängen. Besonders die Kommode musste ich im Auge behalten, denn wenn wir das Gleichgewicht verloren, könnte sie auf mich stürzen. Einige weitere, schwächere Erschütterungen folgten. Ja, ich täuschte mich nicht. Wir flogen nicht mehr.

      Und nun? Meine Überzeugung, gelandet zu sein, ließ mir keine ruhige Sekunde mehr. Ich musste raus, raus aus dieser Enge, um den Ort der Ankunft zu sehen.

      

       11. Eintragung

       Meine Hoffnung ist groß, auf die Erde zurückgekehrt zu sein. Möglicherweise befinden wir uns genau an derselben Stelle, wo die Fremden – ich schreibe bewusst nicht mehr: die Außerirdischen - Martina und mich überrascht hatten. Gut, dass ich die Wagenschlüssel bei mir behalten habe. Mein Wagen wird bestimmt noch dort stehen. Natürlich, es können ein Jahr oder sogar zwei Jahre seit damals hinter mir liegen. Was soll’s. Ich bin gesund, auch wenn ich ziemlich verwahrlost aussehen muss. Mein Haar reicht mir bis weit