Und dann ist eines Tages Krieg. Nach der "Daily Telegraph-Affäre", und der Marokko-Krise, den Spannungen im Elsaß und den permanenten Unruhen auf dem Balkan empfinden die deutschen Jugendlichen, und nicht nur sie, die Kriegserklärung des Kaisers wie eine Erlösung. Das Gewitter sollte sich endlich entladen, damit man nach einigen Monaten des Kampfes wieder frische Luft atmen könnte. Als die ersten Augusttage des Jahres 1914 das Leben von Millionen Menschen schlagartig verändern, sehen die Zeitzeugen überall die gleichen Bilder, ob auf dem Petersburger Newski-Prospekt, oder dem Lomdoner Trafalgar Square, ob Unter den Linden in Berlin oder auf dem Pariser Place de Concorde: Überall jubelnde Menschen, flotte Militärkapellen, milchbärtige Jünglinge mit Blumen am Gewehr, und vielleicht ab und zu im Hintergrund eine weinende Mutter, die niemand bemerkt oder nicht sehen will. Die ganze Welt ist aus den Angeln gehoben worden. Es scheint, als ginge es zu einer Herrenpartie, und nicht in ein furchtbar sinnloses Gemetzel. Manche, die dabei gewesen sind, haben sich in späteren Jahren der Besinnung kopfschüttelnd gefragt, wie das möglich war. Sie fanden darauf keine befriedigende Antwort. Eine Hypnose oder Hystherie oder einfach ein Blackout des Geistes? Die Frage wird sicher jetzt wieder anlässlich der Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkrieges vor hundert Jahren von den Historikern erörtert werden. Ob sie dafür eine Erklärung finden, ist unwahrscheinlich. Aber kommen wir zurück auf die Ereignisse in Stralsund. Die Ironie des Schicksals hat es hier gewollt, dass ausgerechnet jener Mann, der bei Bekanntgabe der Mobilmachung an der Spitze der jubelnden Menge marschierte, und an verschiedenen Plätzen feurige Reden auf das kaiserliche Waffenglück hielt, wenige Wochen danach auf der Kanzel der Nikolai-Kirche in Tränen ausbrach. Superintendent Hornburg hatte die Nachricht erhalten, sein Sohn Georg wäre bei Longwy auf dem Feld der Ehre gefallen.Indes fiebert Otto Schiel unruhig seinem Einsatz an der Front entgegen. Scham überzieht sein Gewissen, denn zwei seiner Freunde sind schon als Freiwillige ins Feld gezogen. Und er? Er sitzt bei Muttern am Tisch, hockt noch zu Hause, während die Kameraden tollste Abenteuer erleben. So denkt dieser junge Mann, der später mein Vater werden sollte. Aber noch ist er zu jung für das Schlamassel. Darum will er wenigstens Samariterdienste für die Kriegshelden leisten. Er nimmt Kontakt zu seinem Onkel in Eckardtsheim auf, schreibt, er möchte in die Fußtapfen seiner Verwandtschaft treten, da die Geschwister seines Vaters alle in christlich-seelsorgerischen Einrichtungen tätig wären. Der eine Onkel arbeitete lange Jahre als Erzieher im Stralsunder Waisenhaus, ein anderer ist Hausvater der Neinstedter Anstalt. An ihn wendet sich Otto in seinem Kummer, wird nicht erhört, und nimmt schließlich in Stralsund an einem Sanitäts-Lehrgang teil, um bald schon bei der Bahnhofswache die ersten Verwundeten aus dem Kriege zu versorgen. Er sieht den ersten Transport von Gefangenen, verwundete Franzosen, deren Uniformen eher dem Fundus eines Theaters als der Kleiderkammer des Militärs entnommen zu sein scheinen. Sie tragen rote Hosen, rote Mützen und blaue Jacken. - Dann die ersten Hiobsbotschaften. Eine amtliche Verlustliste ist veröffentlicht worden. Sie besteht aus seitenlangen Todesanzeigen. Auffällig viele Freiwllige sind darunter, in der Regel Gymnasiasten, die außer ihrem Enthusiasmus wenig in den Krieg einzubringen hatten. Sie starben bei Langemarck oder Noyon oder im Osten.
In Stralsund geht das Leben wie gewohnt weiter. Die Front liegt ja auch anderswo, fernab der Heimat, in Frankreich und Belgien, in Galizien und Kurland. Dort wird gekämpft, doch die Daheimgebliebenen sollen nicht die Hände in den Schoß legen. Oma Schiel erfährt aus der Zeitung, dass es auch am Sund eine Front gibt, die Heimatfront. Eine entsprechende Bekanntgabe erfolgt vom II. Armeekorps. Weil der Kaiser die ihm laut Verfassung zustehende Rolle des Obersten Kriegsherrn nicht wahrnimmt, geht die Kommandogewalt nach Maßgabe eines preußischen Gesetzes aus dem Jahre 1851 (Ausnahmegesetz) an die etwa 60 Kommandierenden Generäle in den einzelnen Bereichen der Armeekorps über. Stralsunds Kaiser ist fortan der Kommandierende General des II. Armeekorps Stettin, Generalmajor der Kavallerie von Vietinghoff. Ihm hat auch Oma Schiel zu gehorchen. Das Deutsche Kaiserreich ist zur mittelalterlichen Kleinstaaterei zurückgekehrt. Die vielen Verordnungen, Verfügungen und Bekanntmachungen nehmen kein Ende. Die Stralsunder Zeitungen füllen damit ganze Seiten aus. Als die Versorgungslage immer schlechter wird, eine Hungersnot droht, schickt man Schüler in den Wald, um Brombeeren zu pflücken. Man sammelt Blätter für den Tee und für Rauchwaren, macht Jagd auf Krähen. Die Deutschen sind wieder zu Jägern und Sammlern geworden Indes zieht Jugendpfleger Kurt Diete die Fäden zu seinen Vereins-Mitgliedern an der Front, schickt den im Feld stehenen Jünglingen die neuen Adressen der Kameraden zu, sendet ihnen sogenannte Scharbriefe, lädt sie beim Heimaturlaub zu sich nach Hause ein. Unermüdlich sorgt er für vielerlei Ablenkung, damit keine düsteren Gedanken aufkommen, obwohl die fatale Wirkung des Krieges nicht mehr zu übersehen ist. Die Reihen im Verein lichten sich. Mit dem verbliebenen Rest marschiert Kurt Diete weiterhin durch die Heimat, spielt nun mit den Mädchen vom Jungmädchenbund Theater, organisiert Kränzchen für die Eltern, aber die rechte Stimmung will nicht mehr Einkehr halten in den Herzen der Mädels. Selbst der Kaisergeburtstag, ein sonst so fröhlich begangener Wallensteintag, das beliebte Schützenfest und der bunte Johannismarkt ändern an dieser melancholischen Stimmung wenig. Die Jugend muß zu viel Leid ertragen.
So gehen die besten Jahre dahin. Der Krieg wird zum Alltag, bis endlich der lang ersehnte Tag des Friedens naht. Wir sehen die Mitglieder der Familie Schiel wieder glücklich vereint. Und der Jünglingsverein? Zum Weihnachtsfest 1914, so hatte es ihnen ihr Kaiser feierlich versprochen, sollten sie alle wieder daheim sein. Aus Monaten wurden Jahre, vier Jahre, in denen romantisch verklärte Jünglinge zu ernsten Männern wurden, denen die Erinnerung an den furchtbaren Krieg zu einer bleibenden Last geworden war.
VORABEND UND BEGINN DES ERSTEN WELTKRIEGES
Als am 28. Juni 1914 ein schmächtiger bosnischer Student namens Gawrilo Princip in Sarajewo die tödlichen Schüsse auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand abgab, da glaubten wohl die Wenigsten, dass aus jenem Vorfall ein Weltenbrand entstehen würde, wie ihn die Geschichte der Menschheit noch nie zuvor erlebt hatte. Dabei zählten die südlichen Ausläufer der Österreichisch-Ungarischen Monarchie schon seit längerer Zeit zu den Unruheherden des riesigen Reiches. Dort prallten die Religionen der Christen und der Muslime aufeinander. Es gab wenige Ecken auf der Welt, wo so viele Sprachen und Nationalitäten mehr Anlass für Konflikte boten. Auf der einen Seite das starre Festhalten des österreichischen Kaisers an der gottgewollten Hegemonie, auf der anderen Seite der stärker werdende slawische Nationalismus, der nach Expansion strebt. Eine Fülle von Verträgen und Bündnissen ist notwendig, um die gegenteiligen Bestrebungen beider Mächte notdürftig im Zaune zu halten. Doch Serbien ist nach dem letzten Balkankrieg politisch erstarkt, bietet jenen Kräften Schutz an, die auf den Zusammenbruch der K.u.K. Monarchie hinarbeiten. Auf russische Unterstützung dürfen sie bauen, denn das gewaltige Zarenreich benutzt den kleinen Balkanstaat für eigene politische Herrschaftspläne im osmanischen Territorium. Die gegenwärtige Lage sieht also so aus, dass hinter Österreich das deutsche Kaiserreich steht und Serbien Rückenstärkung durch Frankreich und Rußland erhält. Letztere haben bereits 1894 in Kronstadt eine Allianz geschlossen.