Große Feste sind zwar ihre Sache nicht, aber sie spielt mit, ruft hinter seinem Rücken Freunde und Bekannte an. Davon weiß er nichts. Marcel und Fanny, ihre Nachbarn in Südfrankreich, haben zugesagt. Durch alltägliche Handreiche über die Gartenzäune hinweg ist eine Freundschaft entstanden. Auch Michael, sein ältester Sohn, kommt. Er nimmt in der folgenden Woche an einem Ärzte-Kongress in Köln teil und freut sich auf den willkommenen Abstecher. Soll sie es ihm jetzt sagen?
Sie geht um den langgezogenen Tisch, um die Übersicht zurückzugewinnen. Sie will jede zusätzliche Aufregung vermeiden. Komm, setzen wir uns in den Garten. Sie nimmt ihm die Tischkärtchen aus der Hand und setzt sich in einen hellblauen Korbstuhl. Die Beine übereinander geschlagen strahlt sie Gelassenheit aus.
Hängt das Gelingen dieses Festes wirklich von der Tischordnung ab? Überlassen wir es unseren Gästen, ja, lassen wir sie selber ihre Karten ziehen. Das darf doch offen bleiben, nicht? Den Aperitif nehmen wir ohnehin im Garten ein; wenn nur das Wetter schön wird!
„Gute Idee!“...
Heute Morgen wird die Ansicht des Hauptplatzes durch eine Schar von Studierenden bestimmt. Nach einem Rundgang haben sie sich für einen eigenen Sichtwinkel entschieden. Auf Klappstühlen sitzen sie, den Kopf über einen großen Block gebeugt, den Bleistift in der Hand. Ein wolkenloser Himmel begünstigt den Gesamteindruck. Der frühherbstliche Lichteinfall mildert die Kontraste.
Schön, sagt Lehrer Busch, Zeichnen ist zwar – wie hier alle wissen – ein Freifach, was nicht heißt, dass man machen kann, was man will. Zeichnen hat seit Leonardo da Vinci auch wissenschaftlichen Tiefgang. Denkt an den Fluchtpunkt innerhalb und außerhalb des Blattes und berücksichtigt die Gesetzmäßigkeiten der Perspektive, mit denen wir letzte Woche ausführlich Bekanntschaft geschlossen haben. Vorübergehende Menschen und Autos dürfen vernachlässigt werden. Der Mensch und seine Formen der Darstellung werden im kommenden Modul behandelt.
In dieser Übung geht es – vor Ort und nach wirklichen Vorgaben – um die getreue Empfindung der Komposition und um die Präzision der Proportionen. Meißelt an den Fassaden die Tiefe heraus, auch der Schatten ist ein Gegenstand. Achtet auf die wesentlichen Einzelheiten, immer aber im Hinblick auf ein harmonisches Ganzes. Alles steht in einem Kontext, Ihr erinnert Euch.
Katharina und Sunhild sitzen an der Ecke, die Kreuzung im Rücken. Sie haben ein Panorama im Sinn, das sich aus ihrer beiden Zeichnungen ergeben soll. Vom Hotel zur Krone werden im Vordergrund nur das rotweiße Leuchtschild und der Fall der hervorragenden Mauerkante aufgenommen. Von hier aus fällt der Blick auf dem Blatt auf die Reihe der Altstadthäuser. Der Schuster zunächst, ein Italiener, der Frisörsalon und eine Buchhandlung, leicht abseitig. Den weiteren Verlauf der nahtlos gefügten Fassaden, deuten sie nur an, weil so der gegenüberliegende Vorsprung der Kirche die Symmetrie des Platzes betont. Über dem Frisörsalon ein Balkon, dessen ziseliertes Geländer erst bei genauerem Besehen auffällt. Katharina und Sunhild brechen in schallendes Gelächter aus. Auf dem Balkon sitzen nämlich Peter und Paul. Sie haben die Bewohnerin davon überzeugt, dass ein Standpunkt, leicht erhöht, dem Charakter des Platzes angemessen sei. Tatsächlich kommt von hier aus die quadratische Terrasse der Bar eindrücklich zur Geltung. Auf der Bordüre der breiten Store, hinuntergelassen, mitten Signete von Carlsberg links und rechts die fetten Buchstaben des Schriftzuges ein: Bar Tipptopp, weiß auf grün.
Wer sich wie Sonja und Fabian in der Einfahrt des langgezogenen Hauses aufhält, sieht vornehmlich den Brunnen von zwei Linden flankiert, dahinter Werkstätten im Erdgeschoss eines Hauses aus den Fünfzigerjahren, das sich hier fremd ausnimmt, wenn man die Geschichte kennt und stilistische Einheit anstrebt. Lehrer Busch zeigt eine vergilbte Postkarte, auf welcher der ehemalige Zustand ohne die Neubauten und Eingriffe der Renovationen als Kupferstich für die Ewigkeit festgehalten ist. Martin ist begeistert, er will sich auf die Dächer und die eindrücklichen Kamine beschränken.
Lehrer Busch klärt auf, schaut allen einzeln über die Schultern, korrigiert, macht aufmerksam, regt an und ermuntert. Detailgetreu und bemerkenswert hat Sunhild die Tafel vor der Bar wiedergeben. Heute Abend Karaoke mit Tim. Sogar der Charakter der Handschrift und die Textur der Kreide sind darauf zu erkennen. Man sieht, dass sich Frank beim Schreiben große Mühe gegeben hat.
Lehrer Busch muss noch einiges vormachen, damit nachvollziehbar wird, was er meint. Der Blattraum ist von Anfang an zu teilen, damit ihr Euch an einer Achse orientieren könnt. Schaut her, von ihr geht alles aus. Hält nun den Bleistift jeweils horizontal oder vertikal vor die Augen, um die Abstände und das Verhältnis der einzelnen Grundlinien mit Fingerspitzengefühl richtig abzuschätzen. So – und jetzt werden die Kontraste entschieden gesetzt, damit der architektonische Körper an Konsistenz gewinnt. Nicht nachzeichnen, zeichnen, hört Ihr, nicht zögerlich daherstricheln. Überlasst es der Hand und dem Auge, traut Euch die Kraft der Linien zu.
Gesagt, getan. Die Bar, wie man sieht. Eine Bar, die sich von hier nach dort verpflanzen lässt, ein paar kühne Striche genügen. Niemand braucht sie lange zu suchen. Siehe da: Tipptopp. Sie erfüllt alle Vorstellungen.
„Besser kann man das wirklich nicht machen!“...
Wie öd und leer wären Welt und Bild ohne sie, fänden sie sich nicht ein, fänden sie einander nicht vor an der Bar, um da zu sein. Einfach da. Was braucht es mehr? Wie schwer würde uns ums Herz vor lauter Fehlen und Missen, wenn wir fassungslos vor einem Glas ins Offene starren. Die Bedenken sind umsonst. Sie erfüllen Zeit und Raum mit ihrer Gegenwart, sie sind alle da.
Ihr Atem ist dem anfänglichen Wort um eine Nasenlänge voraus, jener berauschende Atem, der über Irrsal und Wirrsal zu vernehmen war, bevor er schnaubend zum Wort übersetzte, strandete, um seiner Ratlosigkeit Luft zu verschaffen und seinem Gegenüber einen Namen zu geben. Denn aller Anfang sind sie und ihre Bar. Und nicht das Wort! Daran glauben sie ohnehin nicht. Und wenn einer meint, hier klug und schön zu reden, was allen schon längst klar ist, nein, so redet man hier nicht, außer Roman, das passt zu ihm, man gewöhnt sich daran.
Auch Engel, die sich auf einem Barsessel auf die unwirtliche Welt einlassen, müssen bekanntlich in der Sprache unterkommen, um sich verständlich zu machen. Ja, sogar Clownfische eignen sich vor der Küste Madagaskars ein drittes Zeichen an, um ihre Artgenossen zu begrüßen. Gott aber wäre ihnen in jedem Fall ein ungebetener Gast, fehlte noch, dass einer wie er an der Bar auftaucht und meint, ein Wort mitreden zu müssen.
Wenn sie nicht hierher kämen, hier vorkämen, jeden Abend, um ein Bier, einen Whisky oder etwas Exotisches zu bestellen, das Frank ihnen hinzaubert, hätte alles auf der Stelle ein Ende. Niemand würde die unerträgliche Stille brechen, dem gleichgültigen Lauf der Zeit etwas entgegenhalten, das makellose Weiß mit Lebenszeichen ausfüllen. Zum Wohl!
Aber deswegen sind sie ja da, Gott sei Dank. Heute nehme ich einen Martini mit Eis, Frank, hast Du das Herbstlicht gesehen? Sie stehen und sitzen an der Bar, weil es darüber hinaus keinen Grund gibt, unter den Füssen oder vor Augen. Schön, dass du da bist, Anna!
Die Bar ist eine Eröffnung. Mehrere Sphären tun sich gleichzeitig auf. Der regelmäßige Aufenthalt behaftet sie auf ihre Gegenseitigkeit. Die Begrüßungen rufen sie auf der Stelle zurück. Ihre Körper berühren sich, wenn Hocker näher gerückt werden, sie können sich riechen. Da fängt die Welt an, da geht sie in etwas anderes über als sie selbst. Was jedoch? Etwas Ähnliches oder etwas Fremdes? Beides! Sie schwärmen in verschiedene Windrichtungen aus. Es kommt darauf an, wie gut sie gelaunt sind und wie viel sie bereits getrunken haben. Alles geht im Großen und Ganzen auf. In dieser heiteren Atmosphäre beleben sie sich gegenseitig. Sie sind füreinander da. Darüber gibt es selten Zweifel. Das ist jedoch nur die eine Seite.
Die andere besteht aus Einbildungen und Vorstellungen, Anwohnerschaften ihrer selbst, lauter Blasen, die sie umgeben. Da nisten ihre Träume, Keime ihres Werdens, von dem sie sich noch so viel versprechen. Dahin scheren sie aus, da suchen sie Zuflucht, auch wenn sie da sind, das Glas in der Hand. Ein einziges Wort kann der Auslöser sein. Es fällt und entführt sie in ihre Eigenwelt. Das Passwort verschafft ihnen den Zutritt zu verführerischen Binnenräumen. Darin können sie sich frei entfalten. Sie sitzen zwar da, an der Bar, aber die parallelen Sphären ihrer eigenen Bilder beurlauben