„Hilfe!“
Es blieb ein lautloser Schrei voller Schmerzen in der Kehle, und die Tränen, die ihr in die Augen schossen, rannen als kalte Tropfen nach hinten in ihr blondes Haar.
Dann hörte sie Schritte, irgendwo, außerhalb des Raumes, die sich langsam näherten.
Tack … tack … tack!
Ein schmaler Lichtstreifen drängte sich durch den Türspalt über dem Fußboden, der Vera trotz ihrer nahezu geschlossenen Augenlider wie gleißendes Flutlicht vorkam.
Ich kann sehen! Ich bin nicht blind!
Irgendetwas wie Freude mischte sich in ihre panische Angst. Ein Quäntchen nur, aber es war ein kleiner seelischer Balsam auf dem gequälten Herzen, dessen Wirkung jedoch abrupt verflog.
Die Schritte endeten vor der Tür, nur das Scharren von Schuhsohlen war kurz zu vernehmen. Der Lichtschein unter der Türe wurde mehrmals unterbrochen und schließlich zu einem Teil abgedeckt. Dann war es still. Vera lauschte mit geschlossenen Augen, als könne sie die Dunkelheit und die Tür durchdringen und mit ihren Gedanken all das wahrnehmen, was hinter dieser Tür vor sich ging. Irgendjemand stand dahinter und würde zu ihr hereinkommen. Insgeheim wünschte sie einerseits, dass die Person draußen bliebe, andererseits hoffte sie, dass sie möglicherweise Hilfe für sie bedeutete.
„Hilfe!“
Es war ein Ruf voller Hoffnung, doch es blieb ein ungehörter Ruf. Der Schmerz in ihrer Kehle war wieder da.
Endlich hörte sie ein metallenes Geräusch.
Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt.
Kapitel 3
„So eine verdammte Sauerei!“
Ich hatte gehofft, es vom Dienstwagen aus in die Vorhalle der Dienststelle zu schaffen, bevor der Himmel seine Schleusen öffnete. Doch dieser machte mir einen Strich durch die Rechnung und leerte eine gefühlte Wolke voll kaltem Regenwasser direkt über mir aus, als schien er mir klarmachen zu wollen, dass sich der Sommer nun endgültig verabschiedete.
Der Oktober hatte seine letzten Tage erreicht und der Winter würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Gefühlt stand er bereits vor der Tür und wartete nur darauf, hereingelassen zu werden.
Mit einigen schnellen Schritten rettete ich mich unter das Vordach des Eingangsportals, wo ich meinen klitschnassen Hut mehrfach auf den Trenchcoat über meinem rechten Bein schlug. Das Regenwasser spritzte gegen die Eingangstür des Trierer Polizeipräsidiums, die sich beim meinem Nähern automatisch langsam öffnete. Wie lange dieser Bau uns noch für die dienstlichen Belange zur Verfügung stehen würde, stand in den Sternen. Man hatte Schadstoffe in den Wänden oder wo auch immer vorgefunden und als die ersten Kollegen Anzeichen von Unverträglichkeiten feststellten, hatte man mit entsprechenden Untersuchungen begonnen. Nun warteten wir gemeinsam auf die Ergebnisse und hinter verschlossenen Türen munkelte man schon über einen neuen Dienststellen-Standort.
Ich setzte den Hut wieder auf, öffnete meinen Mantel, zog ihn aus und legte ihn über meinen linken Unterarm.
„Morgen, Julian!“, tönte es mir entgegen. Hinter der kugelsicheren Glasscheibe des Eingangsbereichs winkte mir Walter Ebers kurz zu, in der rechten Hand einen Telefonhörer, offensichtlich mitten in einem Gespräch.
Evers war ein ehemaliger Kriminalbeamter, jenseits der fünfundsechzig, mit gedrungener Figur, glatzköpfig, jederzeit für einen Scherz zu haben. Zahlreiche Operationen an diversen Gelenken seines Körpers hatten einen weiteren Verbleib in der Ermittlungsbehörde unmöglich gemacht. Man schickte ihn in Pension, doch irgendwie konnte er sich nicht trennen. Er bewarb sich auf den Dienst an der Pforte und seit einem halben Jahr verbrachte er nun dort sitzend, auf 400-Euro-Basis, einen Teil seiner Pensionärs-Zeit.
Ich winkte zurück und mein Ärger über das Regenwetter verflüchtigte sich langsam. Ich vernahm das Summen des Öffners der Zwischentür, die gemeinsam mit dem Haupteingang eine Schleuse bildete und nickte Ebers, der sich wieder seinem Telefonat widmete, kurz zu. Dann ging ich zum Aufzug, drückte auf die Vier und fuhr schließlich in die Etage der Mordkommission.
Mein Name ist Julian Thalbach, Kriminalhauptkommissar. Ich bin 56 Jahre alt und leite diese Dienststelle nun schon seit über zwanzig Jahren. Im Großen und Ganzen ist die Stadt in kriminalistischer Hinsicht eher ein ruhiges Fleckchen Erde, vergleicht man sie mit Großstädten wie Hamburg, München oder Frankfurt. Dennoch kann es vorkommen, dass wie aus heiterem Himmel das große Verbrechen seinen Weg auch zu uns findet. Dann ist zumindest für den Zeitraum von der Tat bis zum Ermittlungsergebnis kein wesentlicher Unterschied zu den eben genannten Städten erkennbar.
Die Arbeit und ihre Konzepte sind überall gleich, aber vielleicht haben wir hier den Vorteil, dass wir uns mit einem bereitgestellten Team auf diese Straftat konzentrieren können, während die Großstädte ihre Beamten dann weiterhin in vielfacher Hinsicht beanspruchen müssen.
Was mein Privatleben angeht … was soll ich sagen? Martha, meine erste Frau, starb vor fünfundzwanzig Jahren. Knochenkrebs. Es gab keine Hilfe für sie. Die Metastasen waren überall. Ich brauchte lange, um diesen Schmerz zu verkraften.
Seit fünf Jahren bin ich wieder mit einer Frau liiert. Getrennte Wohnungen, versteht sich. Ich möchte es so. Meine Martha ist immer noch gegenwärtig und ich möchte sie zumindest in meinen vier Wänden mit niemandem teilen.
Antoinette Mouton hat einen französischen Vater und eine deutsche Mutter. Ich nenne sie Nette. Der doppelte Sinn der Abkürzung ihres Namens hat es mir angetan. Nette ist in Deutschland aufgewachsen und spricht beide Sprachen. Akzentfrei. Sie ist ein gutes Stück jünger als ich und ich fühlte mich geschmeichelt, als sie mir sagte, dass sie einen Teil ihres Lebens mit mir verbringen möchte. Sie ist eine starke Frau, die auch mich in meinen schwächsten Lebensmomenten stark macht.
Ich wusste nicht, warum ich gerade jetzt an sie dachte, aber ehrlich gesagt ertappte ich mich tagsüber des Öfteren bei Gedanken an sie. Vielleicht, weil ich sie brauchte, vielleicht, weil sich im Innersten meines Herzens die Angst eingenistet hatte, dass sie mich eines Tages verlassen könnte.
Ich verdrängte all diese Gedanken und merkte, wie es kühl an meinem linken Unterarm wurde. Der kurze Regenguss hatte meinen Mantel durchweicht und ich spürte die Feuchtigkeit, die sich durch den Ärmel meines Sakkos auf meinem linken Unterarm breit machte. Ich fasste den Mantel mit meiner rechten Hand, wie man einen Hund am Genick packt, und hielt ihn vom Körper weg. Sollte er doch zerknittern. Es war mir völlig egal. Der nächste Regenguss würde ihn wieder in seine nasse, schlappe Form bringen.
Ich schaute auf meine Armbanduhr. Montag, 12:15 Uhr. Na klar, es war Mittagszeit. Die meisten meiner Kollegen und Schreibkräfte saßen oben in der Kantine oder machten einen kleinen Stadtbummel. Immerhin gab es ja den Dauerdienst, der sich während dieser Zeit verstärkt um die dienstlichen Belange kümmerte.
Mich beschäftigten wichtigere Dinge. Ein Raubüberfall vor drei Tagen bei einem Juwelier in der Innenstadt konnte bislang nicht aufgeklärt werden, obwohl eine gute Personenbeschreibung durch den Ladeninhaber vorlag. Auch meine Ermittlungen innerhalb der vergangenen Stunden hatten nicht dazu beigetragen, auch nur einen Schritt voranzukommen.
Ich schritt den Gang entlang und öffnete die Tür zum Großraumbüro, von dem aus ich mit meinem Team agierte. Büro 432. Verwundert blieb ich in der Tür stehen und schaute auf meinen Mitarbeiter, der sich mit der Tastatur seines Computers beschäftigte.
„Was ist?“ Ich war verwundert über seine Anwesenheit im Büro. „Keine Mittagspause, Laufenberg?“
Ich warf meinen Trenchcoat über die Lehne eines Stuhles in der Besucherecke und näherte mich meinem Mitarbeiter. Oberkommissar Alexander Laufenberg war schlank und hochaufgewachsen, dennoch war seine Figur kraftvoll und dynamisch. Er war etwa halb so alt wie ich, gerade einmal 27 Jahre alt, vor wenigen Wochen erst zum Kriminal-Oberkommissar befördert worden und bildete mit mir und einer weiteren Kollegin ein verhältnismäßig gutes Team. Mit Laufenberg