Seinen Eltern steht der Mund offen.
Okay, Schluss jetzt mit der Schonkost. „Wollte nur nachprüfen, ob sein Gehirn auch was abbekommen hat“, verteidige ich mich schulterzuckend. „Ganz sicher bin ich noch nicht, aber er reagiert zumindest“, ergänze ich und lade meinen Teller abermals auf.
„Adam, probier doch den Truthahn, bevor er kalt wird“, versucht es seine Mum nochmals. Wieder reagiert er nicht, hat sogar erneut seine ursprüngliche Position eingenommen und starrt auf sein Essen.
„Hey, deine Mum hat dich was gefragt“, stelle ich nach ein paar Sekunden patzig fest. Wieder reagiert er nicht.
Wieder prallt eine Kartoffel aus meiner Richtung an ihm ab. Diesmal treffe ich ihn an der Schulter. Da er nicht reagiert, bombardiere ich ihn weiter mit Essen. Sogar vor Kartoffelbrei mache ich nicht Halt. Eine volle Ladung landet im nächsten Augenblick direkt in seinem Gesicht.
Aus dem Munde seiner Mum kommen nur zusammenhanglos gestammelte Wortfetzen „Also … das … das“, bevor sie sich für ein „Dulde ich nicht in meinem Hause“ entscheidet, das nur halb so energisch rübergekommen ist, wie sie es beabsichtigt hatte.
Adams Dad scheint fassungslos zu sein. Anne schnaubt empört: „Lass ihn in Ruhe. Siehst du denn nicht, dass er“ „Dass er was?“, falle ich ihr ins Wort, aber auch sie hat Hemmungen, es auszusprechen, also knallt sie nur ihre Serviette auf den Tisch und wendet sich voller Empörung Adams Eltern zu: „Schmeißt sie doch endlich raus.“ Tja, wundert mich auch, dass sie noch nicht den Sicherheitsdienst gerufen haben, um mich vor die Tür zu setzen. Liegt sicher an Thanksgiving – da haben wohl viele ihrer Angestellten frei und sie wollen sich nicht selbst die Finger schmutzig machen.
Richard hält sich die Hand vor den Mund, um seine Belustigung zu verbergen. Er ist wohl hier der Einzige bei Tisch, der versteht, was ich hiermit bezwecken will.
Mister Laurren reagiert mit einem „Würdest du jetzt damit aufhören, Rose“, was mich nicht davon abhält, eine Möhre zu werfen, die Adam am Ohr streift.
Adam hebt den Kopf und herrscht mich mit einem total bösartigen „Hör … auf … damit“ an, das auch einem dämonischen Grollen entsprungen sein könnte.
„Gut, das Sprachzentrum ist nicht betroffen“, erkläre ich und widme mich wieder meinem Essen.
Seine Mum krallt sich die Serviette von ihrem Schoß und springt förmlich hoch – jederzeit bereit, ihren Sohn sauberzumachen. Ganz so, als wär er ein Baby. Da habe ich ihr das Teil aber auch schon entrissen, als sie an mir vorbeiwill und meine: „Ich mach das schon. Immerhin hab ich das angerichtet.“
Sie ist kurz irritiert, setzt sich aber im nächsten Moment wieder. Natürlich mache ich nichts dergleichen. Er kann die Arme bewegen, da bin ich mir jetzt ganz sicher, da er die Fäuste zornig ballt. Adam macht aber keine Anstalten, sich das Zeug aus dem Gesicht zu wischen.
„Wer hat den asozialen Abschaum hier reingelassen?“, sagt Adam doch tatsächlich mit einer echt abartig wütend verstellten Stimme. Autsch.
Hey, nur weil ich keine Designerklamotten trage, bin ich nicht automatisch Abschaum. Naja, okay, meine Sachen sind echt schon hinüber. Den Aufdruck des T-Shirts kann man eigentlich nur mehr noch erahnen. Was stand da nochmal? Egal. Trotzdem war das gemein.
„Adam!“, zischt sein Dad.
Ich stehe auf, trete an Adam heran und ziehe ihm seinen unangetasteten Teller unter der Nase weg, den ich zurück an meinen Platz trage. Da mich alle anstarren, als hätte ich gerade den Verstand verloren, zucke ich nur mit den Schultern, erkläre: „Eine Spende für die Armen“ und mampfe seine Portion auch noch in mich rein.
Adams Mum springt hoch und meint: „Ich bring dir noch etwas, Schatz.“ Mann, ich glaubs nicht – die sind ja vollkommen von der Rolle.
„Setzen Sie sich!“, herrsche ich sie an. „Er kann sich was holen, wenn er Hunger hat.“ Sie ist sichtlich unschlüssig, nimmt aber nach kurzer Bedenkzeit wieder Platz.
„Er hat schon genug durchgemacht, da muss er sich das hier nicht auch noch antun. Siehst du das denn nicht, wie schwer das für ihn ist?“, fordert mich Anne zickig heraus. Sehen die denn nicht, dass er ihnen bloß auf der Nase rumtanzt?
Ich nicke einsichtig – zumindest sollen sie das glauben – und wende mich wieder meinem Essen zu. Vielleicht bin ich ja doch zu weit gegangen. Vielleicht auch nicht.
„Blendet dich das Licht, Liebling? Ich kann den Vorhang weiter schließen, wenn du möchtest“, schlägt Misses Laurren nach ein paar Minuten untertänig vor. Sie steht sogar auf, um den Vorhang zuzuziehen, aber Adam blafft sie nur an: „Lass mich.“
„Sag mal, wie redest denn du mit deiner Mum?“, pruste ich.
Adams Vater steht an ihrer Stelle auf und schiebt den Vorhang ein Stück weit zu, damit der Arm von seinem Sohn nicht in der Sonne liegt. Auch er sieht in regelmäßigen Abständen zu seinem Sohnemann rüber und kontrolliert, ob ihm das behagt. Mehr als sein gekonnt mürrisches Gesicht kriegen sie aber nicht zurück.
Adams Mum rutscht nervös auf ihrem Sessel herum. Sein Dad geht nochmal zum Fenster und korrigiert den Vorhang. Ich tausche Blicke mit Adams Bruder aus, der so ein Tja-willkommen-in-der-Freak-Show-Gesicht draufhat.
„Adam Schatz, willst du wirklich nichts essen?“, lässt meinen Geduldsfaden endgültig reißen.
„Meine Fresse. Sie sind ja total überfordert“, musste an der Stelle einfach mal gesagt sein.
Richard hat sich an seinem Glas Wasser verschluckt und hustet sich die Seele aus dem Leib, während Mum und Dad vor Schreck die Augen weit aufgerissen haben.
„Wir haben alle einen Pflegekurs besucht. Wie du sehen kannst, haben wir alles im Griff“, informiert mich Richard mit einem Hauch Sarkasmus in der Stimme.
Wutentbrannt knalle ich meine Serviette auf den Tisch, gehe zum Fenster rüber, kralle mir den Vorhang und ziehe das Teil so weit auf, dass die Sonne den Sohnemann ganz sicher so richtig schön volle Breitseite und bis zur Schmerzgrenze blendet.
Daraufhin nehme ich neuerlich Platz. Seine Mum erhebt sich keine zwei Sekunden später und zieht den Vorhang wieder zu.
Erneut stehe ich auf und öffne ihn. Sie zieht ihn wieder zu. Das Spielchen spielen wir einige Male, bis seine Mum aufgegeben hat.
Als Adam genervt die Augen – Vampir wie er ist – zusammenkneift, nutze ich seine Ablenkung, um auf ihn zuzugehen, seine Rollstuhlbremsen zu lösen, ihn mit einem Ruck vom Tisch wegzuschieben und ihn näher an uns heranzurollen.
Er wehrt sich und blockiert mit seinen Händen an den Ringen die Räder des Gefährts. Ich wusste, dass er sie bewegen kann.
Durch den plötzlichen Stopp bin ich ihm voll hinten reingeknallt, was ihn abrupt loslassen lässt. Ups. Das hat sicher wehgetan. Naja, selbst schuld. Was pfuscht er mir auch ins Handwerk.
So schiebe ich ihn dann direkt neben meinen Platz, damit er bei uns sitzen kann und kralle mir meine Serviette, die ich ihm als Lätzchen um den Hals schlage und hinter dem Nacken zusammenbinde. Natürlich reißt er sie sich gleich wieder runter.
„Was soll der Scheiß?“, knallt er mir vor den Latz.
„Ich füttere dich, was sonst? Immerhin sitzt du im Rollstuhl, du Ärmster“, spule ich meine Mitleidsnummer ab. „Das muss so schwer für dich sein. Du hast doch schon genug durchgemacht, da musst du dir das hier nicht auch noch antun“, antworte ich vollkommen überzeichnet, lade Kartoffelbrei auf einen Löffel auf und steuere seinen Mund an.
Er dreht angewidert den Kopf zur Seite