Ihm fiel der Stoff leicht, ihm machte die Schule Spaß, er hatte „Freude am Lernen“, wie ihm sein Klassenlehrer erst kürzlich wieder in der Zeugnisbemerkung bestätigt hatte. Um die Zeit zu überbrücken hatte er es sich sogar angewöhnt, Zeitung zu lesen. Eine Angewohnheit, die ihm bei seinen Mitschülern den Ruf eingebracht hatte, ein wenig verschroben zu sein. Ohnehin verbrachte er viel Zeit damit zu lesen und nutzte die Gelegenheit dazu, immer neue Wissensgebiete ausfindig zu machen. Dabei kam es allerdings gelegentlich vor, dass er auf Themen stieß, die von anderen Menschen eher als ein wenig skurril eingestuft wurden. Aktuell konzentrierte sich Thorsten auf übersinnliche Wahrnehmungen. Von Seiten seiner Freunde hatte ihm dieses Interesse immer wieder spöttische Fragen eingebracht, aber das hatte ihn nie im Geringsten irritiert. Das mochte auch daran liegen, dass Thorsten ein wenig schwerhörig war, wie er selbst zugeben musste. Deswegen hatte er auch früh die Gebärdensprache lernen müssen und deshalb hatte er eine besondere Vorliebe für das Lesen entwickelt. Anfänglich hatten sich seine Freunde vor allem über die komischen Bewegungen lustig gemacht. Seit sie begriffen hatten, dass man sich mit Hilfe der Gebärdensprache auch über größere Entfernungen ohne Worte verständigen kann, war das nicht mehr so. Deshalb hatte sich diese Form der Verständigung zwischen ihm und seinen Freunden inzwischen geradezu zu ihrer Geheimsprache entwickelt, die sie um eigene Gesten erweitert hatten. Auch wenn das nicht immer ganz so klappte, wie sie sich das ursprünglich vorgestellt hatten, wendeten sie diese Form der Verständigung immer häufiger an, vor allem dann, wenn es darum ging Heimlichkeiten auszutauschen.
Davon konnte zwar im Augenblick keine Rede sein, trotzdem aber hätte man aus einiger Entfernung auf die Idee kommen können, dass sie sich ohne Worte verständigten, da beide
Jungen zur Verdeutlichung ihrer Standpunkte wie wild gestikulierten. Als Thorsten erkennen musste, dass seine Argumente Hendrik nicht überzeugten, wandte er sich schließlich an den Dritten im Bunde. „Wie siehst du das denn? Sag’ auch mal was,“ wandte er sich schließlich an Alfred, der sich bisher noch gar nicht geäußert hatte.
Alfred war der dritte Junge in der Gruppe und der älteste, größte und mit Abstand stärkste von ihnen. Er interessierte sich für alles, was mit Technik zu tun hatte. Deshalb war er auch bei der Jugendfeuerwehr aktiv und hatte sich sein eigenes Fahrrad aus Sperrmüllbeständen selbst zusammengebastelt. Sogar seinen Computer hatte er eigenhändig aus Komponenten zusammengebaut, die bei ebay ausdrücklich als defekt deklariert worden waren und die er deshalb besonders günstig hatte ersteigern können. Dass Thorsten ihn jetzt dazu aufforderte, seine Meinung zu sagen, war ihm ziemlich unangenehm, denn eigentlich hatte er nichts gegen Mädchen und gegen die Fremde auch nicht. Auch leuchteten ihm die Argumente von Thorsten durchaus ein. Andererseits hatte er keine Lust, es sich mit Hendrik zu verderben. Er zögerte deshalb mit seiner Antwort und war ehrlich froh, als ihm die Entscheidung abgenommen wurde.
Kirsten war wie aus dem Nichts heraus neben den Jungen aufgetaucht. Sie trug ihren hellbraunen Lederanorak, den ihr eine Tante aus Nordnorwegen mitgebracht hatte und auf den sie schon allein deshalb unheimlich stolz war, weil er von echten Lappen hergestellt worden sein sollte und sonst keiner ein solches Kleidungsstück besaß.
Das Mädchen hatte es anfänglich nicht ganz leicht gehabt, sich in der Jungengruppe zu behaupten. Als ‚kleine Schwester’ von Hendrik war sie anfangs von dessen Freunden immer wieder veräppelt worden und es hatte einer ganzen Menge Energie bedurft, bis sie sich ihren Platz erkämpft hatte. Das war nicht leicht gewesen, denn Kirsten war gesundheitlich nicht besonders gut drauf. Sie war zierlich und ermüdete schnell. Irgendetwas stimmte mit ihrem Blut nicht so richtig, aber die Ärzte waren der Ansicht, dass sich das schon noch geben werde. Der ‚Durchbruch’ war ihr vor etwa einem Jahr gelungen. Damals hatte einer der Weidebesitzer aus der Nachbarschaft ein neues Pferd bekommen. Die Kinder hatten den schwarzen Friesenhengst spontan ‚Kobold’ getauft. Aber selbstverständlich hatte sich niemand getraut, sich dem Tier auf der Weide zu nähern, geschweige denn den Versuch zu machen, damit zu reiten. Niemand, außer eben Kirsten. Zur völligen Verblüffung ihrer Freunde, hatte der Friese sich das gefallen lassen. Und bis heute war Kirsten die Einzige, bei der sich der Hengst das gefallen ließ. Das hatte ihr den uneingeschränkten Respekt im ganzen Dorf verschafft und dementsprechend galt ihr Wort seither auch unter den Jungen etwas.
Das Gespräch der Jungen hatte sie die ganze Zeit in der Nähe belauscht. Sofort ging sie jetzt wie eine Furie auf ihren Bruder los.
„Wieso willst du nicht, dass die Neue bei uns mitmacht? Ihr seid ja auch drei Jungs! Wieso sollten wir denn dann nicht auch zwei Mädchen sein? Ach, weißt du was? Ich hole sie einfach! Tschüss!“
„O nein, bitte nicht!“ Hendrik gab sich genervt und ärgerte sich wirklich über seine Schwester. Aus Erfahrung wusste er, dass er in solchen Situationen gegen sie nicht ankam, und das ärgerte ihn ganz besonders.
„Doch!“; rief Kirsten und verschwand. Noch bevor die Jungen sich von ihrer Überraschung erholt hatten, war sie wieder zurück – zusammen mit der Neuen. „Hallo! Da sind wir!“
„Es ist weder zu überhören noch zu übersehen.“, brummte Thorsten, der in Wirklichkeit froh war, dass Hendriks Schwester sich von ihrem Bruder nichts sagen ließ.
Kirsten ging nicht darauf ein, sondern kam gleich zur Sache.
„Das ist Snotra; sie kommt aus Bayern. Snotra, das ist Hendrik, mein großer Bruder, und seine Freunde Thorsten und Alfred.“
„Grüß Gott.“ Snotra lächelte die drei Jungen freundlich an. Thorsten vermutete sofort, dass die Neue nur ausprobieren wollte, wie die Jungen auf diese bayerische Begrüßung reagierten und hielt sich deshalb vorsichtshalber zurück. Nicht so Hendrik.
„Grüß Gott?,“ äffte er das Mädchen nach und fügte sofort hinzu: „Wieso soll ich Gott grüßen?
„Bist Du etwa von einer Sekte?“, erkundigte sich zu allem Überfluss zugleich auch noch Alfred.
Jetzt war es Snotra, die verdutzt aus der Wäsche schaute. Sie hatte erwartet, dass einer der Jungen eine blöde Bemerkung in Richtung Bayern machen würde. Aber anscheinend kannten sie die dort übliche Begrüßung überhaupt nicht. Kirsten kam ihr zu Hilfe.
„Ach Henni, vergiss es. Grüß Gott, so sagt man in Bayern zur Begrüßung.“
„Grüß Gott?“ Es war Hendrik anzumerken, dass er sich nicht sicher war, ob seine Schwester gerade versuchte ihn auf den Arm zu nehmen. Noch bevor er dazu kam, der Frage weiter nachzugehen, mischte sich Alfred ein.
„Wenn du schon einmal da bist, könnte dich ja auch jemand in unseren aktuellen Fall einweihen.“ Er versuchte mit diesem Vorschlag von seiner vorherigen Frage abzulenken und stieß aus Versehen zugleich auch noch sein Fahrrad um.
„Das übernehme ich!“, rief Kirsten und begann sofort die Geschichte von der blauen Kugel zu erzählen.
Snotra begriff sofort, warum unbedingt sie mit zum Osterfeuer kommen musste. Bereits als sie von dem seltsamen Funkeln und dem plötzlichen Gewitter erfahren hatte, war sie zusammengezuckt.
Jetzt starrte sie ihre neuen Freunde nachdenklich und zugleich ein wenig ungläubig an. Sie bewegte die Lippen und sagte etwas. Aber genau in diesem Moment fuhr wieder einmal ein Güterzug vorbei, so dass ihre Worte nicht zu verstehen waren.
„Was hast du gerade gesagt?“, erkundigte sich Hendrik, nachdem der Lärm vorbei war. „Sie hat gerade gesagt,“ antwortete Kirsten nach kurzem Überlegen, „dass es äußerst wichtig ist zu erfahren, warum sich so viele Leute dafür interessieren. Und deshalb ist auch der Besuch des Osterfeuers in diesem Jahr so besonders wichtig, stimmt’ s?“
Hendriks Schwester hatte sich Snotra zugewandt und wartete nun auf die Bestätigung, alles richtig verstanden zu haben. Angesichts des Lärms, den der vorbeifahrende Zug machte, war sie darauf angewiesen gewesen, die Worte von den Lippen ihrer Freundin abzulesen.
Diese