Die Königin hatte mir geschrieben und mir in ihrer zierlichen Bildschrift den Tag der Einweihung des Grabmals des Lebendigen Gottes mitgeteilt. Sie hatte nicht gefragt, ob ich an den Zeremonien teilnehmen wollte, denn sie kannte mich. Königin Merit wusste, ich würde kommen.
Von der Tribüne der Würdenträger des Reiches kam ein hoch gewachsener Mann in der Garderüstung eines Generals zu mir herüber. Seine Diener eilten mit der Sänfte hinter ihm her, um ihn zu mir zu bringen, aber er winkte ab, und sie blieben hinter ihm zurück.
Dann stand er vor mir. »Ich habe doch richtig gesehen! Was bei allen Göttern tust du hier?« Er umarmte mich herzlich und küsste mich.
»Die Königin hat mir geschrieben, Djedef.«
»Wenn der Lebendige Gott erfährt, dass du hier bist, wird er dich töten lassen. Du hast den königlichen Befehl erhalten, nie wieder hierher zu kommen. Er will dich nicht sehen», erinnerte er mich.
»Offensichtlich will er es doch.« Ich deutete auf die goldene Sänfte des Königs, die von acht Kuschiten zu uns herübergetragen wurde. Der Herrscher des Oberen und Unteren Landes wurde von Leibwächtern begleitet – hatte er Angst vor mir?
Dann stieg er aus seiner Sänfte und kam zu mir herüber.
Er trug die blaue Chepresch-Krone, einen Zeremonialbart aus Lapislazuli und Gold, einen mehrreihigen Halskragen und das Leopardenfell des Königsornates. Seine Augen waren mit blauem Lapispulver und Goldstaub geschminkt, das die feinen Falten in den Augenwinkeln geschickt abdeckte und seinen Augen Glanz verlieh. Selbst Götter altern!
Ich verneigte mich nicht. Das hatte ich nie getan. Mit erhobenem Kopf erwartete ich den Feuersturm seines Zorns.
»Ich hatte dir verboten, hierher zu kommen! Missachtest du alle meine Befehle?«, fauchte er.
»Nicht alle, Majestät. Nur die unsinnigen«, sagte ich ruhig. Ich wich seinem Blick nicht aus. Früher hatte ihn das amüsiert.
Der König sah mich finster an. Seine Hand ruhte auf dem Schwertgriff.
»Es ist lange her, dass wir uns zuletzt gesehen haben …«, begann ich.
»Ja, sehr lange!«, bestätigte er.
Djedef war irritiert, dass der König nicht sofort den Befehl gab, mich zu töten. Irgendetwas war immer noch zwischen uns. Wir hassten uns so leidenschaftlich wie Liebende, die nicht voneinander lassen konnten.
»Was willst du hier?«, fragte er mich, als ob er das nicht wusste.
»Ich will mir meine Pyramide ansehen.« Ich deutete auf das Grabmal, das strahlend weiß in der Sonne leuchtete. Meine vierte Pyramide: Die Krönung meines Lebens!
»Es ist jetzt meine Pyramide«, korrigierte er mich.
Meine Blicke glitten über die weißen Steinplatten hinauf zum Gipfel: »Kanefers Sohn hat sich an meine Pläne gehalten», stellte ich zufrieden fest.
»Das hatte ich ihm befohlen«, gestand er. »Er hat nicht deine Erfahrung als Königlicher Bauleiter.«
»Also ist es doch meine Pyramide, Majestät.«
Er sagte nichts: Er wusste, dass wir nur wieder streiten würden. Und er hatte keine Lust mehr, mit mir zu streiten. Der endlose Kampf hatte uns beide müde gemacht.
»Warum bist du wirklich hier?«, fragte er. »Doch nicht wegen der Pyramide!«
»Ich will Euch vergeben, Majestät.«
»Vergeben?«, fragte er verblüfft. »Was hättest du mir zu verzeihen?«
»Alles, was Ihr mir angetan habt. Und alles, was Ihr mir noch antun werdet.«
Er schwieg. Dann ergriff er meine Hand, und wir gingen einige Schritte. Djedef blieb hinter uns zurück.
»Was soll ich bloß mit dir tun?«, fragte er mich schließlich.
»Nichts, Majestät. Gebt mir einfach meine Freiheit zurück.«
Er lachte bitter. »Freiheit! Was ist das?«
»Das ist das, was Ihr verloren habt, als Ihr Euch selbst die Krone der Beiden Reiche aufgesetzt habt, Majestät.«
»Ich bin der Lebendige Gott. Ich kann tun, was mir beliebt.«
»Das kann ich auch. Aber ich will es nicht am Ende der Welt tun, Majestät. Gestattet mir, wieder zurückzukehren!«
»Damit wir uns wieder streiten – so wie früher?«
»Wenn Ihr es wünscht, Majestät», lächelte ich.
Er schien diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht zu ziehen.
»Ich habe dich vermisst, Nefrit!», gestand er leise.
»In Eurem Bett oder neben Euch auf dem Thron?«
Er seufzte: »Du hast dich geweigert, beides zu besteigen!« Er blieb stehen. »Jetzt sind wir wieder genau da, wo wir vor Jahren aufgehört haben. Und es hat nicht einmal besonders lange gedauert.«
»Ich werde nicht dorthin zurückkehren, wo ich herkomme«, sagte ich plötzlich.
»Das habe ich mir gedacht, als ich dich sah. Ich dachte mir: Sie ist zurückgekommen – Nefrit hat immer getan, was sie wollte.«
Kamose
Zum ersten Mal war ich in einer Stadt.
Ich war überwältigt von Mempi, das von Horizont zu Horizont zu reichen schien. Manch vornehme Residenz mit ihren ummauerten Gärten mit blühenden Oleanderbüschen und Granatapfelbäumen war größer als Dedes Gemüsefeld, ja sogar größer als unser Dorf. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Häuser mit zwei und drei Stockwerken. Stundenlang liefen wir die gepflasterten Straßen entlang, lauschten auf das Geräusch der vielen Menschen in dieser Stadt, das wie das Raunen eines Baches inmitten des grünen Fruchtlandes klang, sogen gierig den Duft von Lotusblüten, Zitronen, frischem Gerstenbrot und gebratener Gans ein und staunten über die vielen Brunnen mit kühlem, fließendem Wasser, die Gärten mit Sykomoren, blühenden Oleanderbüschen und Granatapfelbäumen und die weiß verputzten Mauern der Villen.
Mempi war eine Stadt voller Wunder! Und doch: In jenem Jahr war Mempi nur die Alte Hauptstadt von Kemet, denn der König residierte in der Residenz von Pihuni, der Neuen Hauptstadt.
Ein verführerischer Duft von geröstetem Lotussamen stieg mir in die Nase. Ich hatte Hunger – unsere Vorräte waren von der langen Reise den Fluss hinab aufgebraucht –, und so führte mich mein Vater zum Markt in der Nähe des Hafens.
Feldbauern und Obsthändler hatten ihre Früchte auf bunten Tüchern ausgebreitet: Melonen, Granatäpfel, Guaven und Nüsse, aber auch Bohnen, Erbsen, Zwiebeln und Spinat. Ein paar Schritte weiter wurden geschlachtete Enten, Pelikane und ausgenommene Wachteln verkauft.
Ich zog meinen Vater hinter mir her zum Stand eines Fischverkäufers: »Sieh mal, Dede: Hier werden sogar die Fische einbalsamiert!«, rief ich vergnügt.
Mein Vater lachte und kaufte mir den Tonfisch. Für den Kupfer-Deben, den der Händler auf die Waage legte, erhielt er einen Fisch und drei kleinere Barren.
Der Tonfisch war eine Hülle aus getrocknetem, hartem Flussschlamm, in der ein gesalzener Fisch steckte. Ich zerbrach das obere Ende und erschrak, als mir ein Fisch entgegenblickte.
Mein Vater zog den Kopf mitsamt den Gräten heraus.
Der Fisch schmeckte herrlich – noch nie zuvor hatte ich so etwas gegessen. Ich aß ihn auf und beachtete gar nicht, dass mein Vater