Während also meine Lust am Essen in letzter Zeit nachgelassen hat, verstärkte sich doch die Lust, noch einmal etwas Außergewöhnliches zu probieren. Klein, aber fein. Und das alles quasi auf Knopfdruck, das Kommunikationszentrum macht es möglich. Auch an besten Weinen und Spirituosen ist kein Mangel. Wenngleich auch hier der Bedarf nicht mehr so groß ist, was ich manchmal bedauere. Aber es ist ja oft so: wenn man möchte, sind die Mittel zumeist begrenzt. Wenn man es sich dann leisten kann, kann oder will man nicht mehr so recht. Die Bedienung des Bildschirms erfolgt über Spracheingabe. Ich unterhalte mich also mit einer Maschine. Meine Anweisungen werden in der Regel brav befolgt. Sollte ich für längere Zeit den Wunsch nach Stille verspüren, so wird diese zu meinem Leidwesen allzu oft unterbrochen, indem ich nach meinen Wünschen befragt oder an einen Termin erinnert werde.
Die Gedanken, die Worte, die sich wie Perlen auf einer Schnur aneinandergereiht hatten, brachen ab. Der Kopf des alten Mannes in seinem Rollstuhl sank langsam nach vorn auf seine Brust. Die Stille im Zimmer wurde nur durch das unregelmäßige, leicht rasselnde Geräusch des Atmens des Alten unterbrochen. Von den bis zum Boden reichenden Fenstern war nur selten ein kurzes Pochen zu hören, wenn ein Hagelkorn, das sich unter die Regentropfen gemischt hatte, vom Wind gegen die Scheiben getrieben wurde. Ansonsten unterdrückte die gute Isolierung das Prasseln des Niederschlags, der sich, zuvor nur mäßig stark, mittlerweile zu einem heftigen Sommerschauer entwickelt hatte. Die aufziehende Dunkelheit wurde durch die tief hängenden dunklen Wolken noch verstärkt. Das ohnehin nicht allzu starke Treiben auf der Straße hatte noch weiter abgenommen und beschränkte sich nun nur noch auf einen gelegentlichen Passanten, der zumeist mit einem Regenschirm versehen versuchte, so schnell wie möglich und halbwegs trocken sein Ziel zu erreichen. Selten erhellte ein Auto mit seinen Scheinwerfern, deren Licht sich deutlich von dem warmen Leuchtton der Laternen abhob, ein wenig das Zimmer und streifte den Mann in seinem weißen Pyjama. Zunächst unmerklich begannen seine Hände immer mehr zu zittern. Schließlich schlugen die Handflächen mit einem sanften Klatschen fast gleichförmig auf die Armlehnen des Rollstuhls.
Durch die zum Flur geöffnete Tür schwebte lautlos eine kleine, silbrig schimmernde Halbkugel herein. Die flache Seite, mit einem Durchmesser von vielleicht 5 cm, war zum Boden ausgerichtet. So, als wüsste sie genau, was ihr Ziel und ihre Aufgabe war, steuerte sie mit gleichmäßigem Flug den Mann im Rollstuhl an und ließ sich auf dem Handrücken nieder. Unbeirrt von dem auf und ab der Hand folgte sie der Bewegung. Ein kurzes, leises Zischen, kaum wahrnehmbar in der Pause zwischen zwei klatschenden Schlägen der Hände, dann löste sich dieses Ding wieder vom Handrücken und verschwand auf dem gleichen Weg wie es gekommen war, geräuschlos und zielstrebig. Die silbrige Halbkugel hatte noch nicht einmal die Tür erreicht, als das Zittern der Hände unvermittelt abbrach. Der Atem des alten Mannes war bis auf ein leichtes Rasseln kaum wahrnehmbar und gleichmäßig. Dem kurzen Anfall, der augenscheinlich Kraft gekostet hatte, folgte nun ein erholsamer Schlaf.
Es war bereits fast acht Uhr als er erwachte. Die Augen noch geschlossen begann sich der Kopf von der Brust zu heben. Es war eine unendlich langsame Bewegung, losgelöst von seinem Körper, der völlig bewegungslos blieb. Langsam hoben sich seine Augenlider und eine graugrüne Iris wurde sichtbar. Anders als bei vielen betagten Menschen, deren Augen trübe erscheinen, waren diese Augen von einer Klarheit und kräftigen Farbe und passten gut zum leicht gebräunten Teint seiner Haut, die weitaus weniger Spuren seines hohen Alters aufwies, als man erwarten würde. Jetzt wandte er den Kopf zum Fenster, um kurz inne zu halten. Ein Moment der Orientierung und der Konzentration. Er fühlte die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht, die trotz der frühen Stunde schon weit über dem Horizont stand. Nun ja, es war Mitte Juni.
„Mein Gott, was mache ich hier. Ich muss eingeschlafen sein. Wie spät ist es? Es ist schon verdammt warm. Es wird wohl ein heißer Tag. Mein Gott, wie spät ist es?“ Seine kräftige Stimme hob die Stille des Zimmers auf. „Wie spät ist es?“ Der Klang der Worte war noch nicht einmal erloschen, als auf dem Bildschirm die Uhrzeit erschien und eine angenehme Frauenstimme die angezeigte Zeit auch verbal verkündete. Nach einer kurzen Pause fühlte sich die Stimme befleißigt, einen guten Morgen zu wünschen und sprach die Hoffnung aus, einen erholsamen Schlaf gehabt zu haben. Der alte Mann schien diesen Worten keine weitere Bedeutung beizumessen, sondern mit größtem Interesse die Vorgänge vor seinem Fenster zu verfolgen. Allerdings kann man vermuten, dass ihm das morgendliche Ritual wohl bekannt war und ihn eher langweilte. Regungslos akzeptierte er die nun erklingende klassische Musik; ein Stück, das ihm unbekannt war. Aber das war immer schon ein Problem für ihn, der durchaus der klassischen Musik, insbesondere der Oper, zugeneigt war. Er wusste nur selten, um was für ein Stück es sich handelte und wer dessen Schöpfer war. Es hatte ihn immer geärgert, aber er hatte auch nie die Zeit und Kraft gefunden, sich intensiv damit auseinander zu setzen. Also hatte er sich damit abgefunden und genoss sie einfach. Außerdem war es ein Leichtes, den Namen des jeweiligen Musikstückes und seines Schöpfers zu erfahren. Das Kommunikationszentrum erteilte auch auf derlei Anfragen höflich und schnell Auskunft. Aber das eigene Erkennen war etwas anderes, deutete das doch auf Sachkenntnis hin. Und die fehlte ihm, das konnte er nicht bestreiten. Der alte Mann schien zu wissen, was nun kommen würde, denn er wendete seinen